Neuauflage des Buches Drachenwelten von 2003
Drachenwelten, Dr. Andreas Gößling, Piper Verlag, August 2003, zweite erweiterte Auflage
Von den Geistern der Schöpfung und Zerstörung
Noch vor wenigen Jahrhunderten waren Drachen auch in Europa allgegenwärtig. Schon damals aber eilte ihnen ein verheerender Ruf voraus: Unermüdlich wurde "Drache Satan" in Predigten und Legenden aus dem Himmel gestürzt. Lindwürmer verschlangen Jungfrauen und verwüsteten Städte und Burgen. Allerorten zogen christliche Ritter aus, um die furchtbare Bestie zu erlegen. Doch die Hiebe der Heldenschwerter scheinen nicht nur die europäische Drachenspezies, sondern auch unser Wissen von diesen größten aller Mythenwesen nahezu ausgemerzt zu haben.
Als Urgeister der Schöpfung und Zerstörung begegnen uns Drachen in der frühesten Überlieferung aller Völker. Warum aber dämonisierte unsere Kultur den Drachen und verherrlichte den Drachentöter, während in Asien bis heute eine vielgestaltige Welt der Himmels- und Erddrachen, Schatz- und Geisterdrachen verehrt wird? Wie erklärt man sich die Verbreitung des Drachenglaubens rund um den Erdball, in den unterschiedlichsten Kulturen? Welche Einsichten kann uns die Beschäftigung mit diesen uralten und majestätischsten aller Geisterwesen vermitteln?
Was wissen wir tatsächlich? Sehr wenig! Nach der Lektüre dieses Buches musste ich mir dies kleinlaut eingestehen. In meinem Kreise viel diskutiert, für zu realistisch, zu "bibellastig" und nicht phantastisch genug verschrien kann man nicht abstreiten, daß das Buch Drachenwelt einzigartig in seiner Art ist und, einmal gelesen, wahrscheinlich viele Meinungen bezüglich der Drachen gravierend verändert.
Andreas Gößling beschreibt die bekanntesten Schöpfungsgeschichten aller Kulturen. Beginnend bei der biblischen Genesis, dem babylonischen Drachenmord und dem indischen Traum des Vishnu auf der Weltenschlange Ananta, bis hin zur griechischen Götterwelt und den Drachengöttern des mittleren bis fernen Ostens. Dabei versucht er Irrtümer zu beseitigen, Gemeinsamkeiten der verschiedensten Schöpfungsmythen aufzuzeigen und den Drachen der Schöpfung sichtbar und greifbar werden zu lassen. Es wird gezeigt, dass der westliche Drachenhass eigentlich eine von der Religion herbeigeführte Verzerrung von Tatsachen ist, dass der Drache für die Schöpfung nicht nur hier wichtig ist, sondern einen wesentlichen Auslöser darstellt und dass viele verschiedene Schöpfungsgeschichten enger zusammenhängen, als es zunächst scheint. Nach einem umfangreichen Quellenstudium und Darstellung von Thesen und Beweisen, umfangreichen Vergleichen und gewagten Schlussfolgerungen, kommt Andreas Gößling zu einem allumfassenden Abschluss und fügt als kleinen Bonbon noch eine Reihe der bekanntesten Mythen und Sagen hinzu, welche das Buch gemeinsam mit dem umfassenden Glossar abrunden.
Wichtig jedoch ist, dass man das Buch tatsächlich genauestens „lesen“ muss, um den tieferen Sinn zu erschließen und die Gesamtaussage zu begreifen. Als gemütliche Abendlektüre taugt das Buch nicht, ist es doch sehr professionell und stellenweise zu reich an Fremdworten geschrieben. Das Lesen und wichtiger noch, das Begreifen der Aussagen, artet teilweise in regelrechte Arbeit durch Nachschlagen in vorhergehenden Kapiteln aus. Wer ein Kapitel nicht verstanden hat, der kann in einem späteren dafür bestraft werden. Hier findet sich auch mein großer Kritikpunkt des Buches wieder. Der Autor schlussfolgert aus seinen gesammelten Indizien Beweise und verwendet diese dann in späteren Kapiteln als Grundlage für weitere Annahmen. So ergibt sich mit der Zeit ein immer schwammiger und phantastischer werdender Hintergrund der untereinander wild verknüpften Schöpfungsgeschichten. Dies hat zwar durchaus seinen Reiz, da man Gemeinsamkeiten der Schöpfungsgeschichten so einfacher erkennen kann, allerdings sträube ich mich dagegen beinahe in jedes Wesen eine drachische Natur hineinzuinterpretieren. Auch finde ich persönlich den Anteil der biblischen Schöpfungsgeschichte als zu groß angesetzt und allgegenwärtig. Immer wieder finden wir uns in das erste Kapitel zurückversetzt und lesen erneut etwas über Engel und die Tatsache, dass die christliche Schöpfungsgeschichte Fehler aufweist, die Andreas Gößling hier auszumerzen versucht. Zwar geschieht dies durchaus auf interessante Art und Weise, es verwirrt jedoch zusehends in späteren Kapiteln immer wieder den Haken über zwei bis drei Schöpfungsgeschichten bis hin zu Jahwe und den Teufel zu schlagen. Hat man sich jedoch durch die Wissensflut gekämpft, so erwartet den Leser förmlich die Erleuchtung, denn am Ende fügt sich alles zu einem durchaus schlüssigen Ganzen zusammen. Die immer mal wieder eingeflochtenen Mythen, Legenden und Wissensbrocken lockern das Buch auf und gegen Ende freut man sich etwas geschafft und gelernt zu haben!
Wer tiefer in das Wesen und die Faszination des Drachen, der Engel und der Schöpfung eintauchen will und nicht vor ein wenig Lesearbeit zurückschreckt, der muss Andreas Gößlings Drachenwelten lesen.