Leseprobe Feueratem
Michael Nagula
Feueratem
Einführung
Das wilde Drachenleben
Der Drache ist ein eigenartiges Geschöpf. Er ist uns allen vertraut, aber jeder stellt ihn sich anders vor, mit oder ohne Schwingen, auf zwei oder vier Beinen, manchmal ohne Beine, dann wieder mit Vogelklauen oder Löwentatzen, im Federkleid, mit Schuppen, als Meerungetüm. Wir wissen nicht recht, was es mit ihm auf sich hat. Gelten doch Drachen als reine Ausgeburten der Phantasie. Selbst wenn es heute Wesen gibt, die wir als Nachfahren von Drachen empfinden -, Warane, Leguane und Alligatoren, Segelechsen, Chamäleons und Moloche – spätestens wenn wir sie uns riesig und Flammen speiend vorstellen, machen sie uns Angst.
In seinem Buch Die Drachen von Eden stellt Carl Sagan fest, dass der Mensch das Tier mit der im Verhältnis zu seinem Körpergewicht größten Gehirnmasse ist. Überhaupt sind die Gehirne von Säugetieren zehn bis hundert Mal größer als die Gehirne heutiger Reptilien vergleichbarer Größe. Sagan spekuliert, ob der systematische Unterschied von Gehirnmasse zu Körpergewicht nicht das Ergebnis einer planmäßigen Ausrottung kluger Reptilien durch räuberische Säugetiere sein könnte. Und mit Blick auf die Mythen des westlichen Kulturkreises, in denen der Kampf gegen den Drachen ein Kampf gegen das Böse ist, stellt er die Frage: Wenn wir uns vor den Drachen fürchten, fürchten wir uns da vor einem Teil unserer selbst?
Unsere westliche Kultur ist stärker, als uns allen bewusst ist, von der Institution des Christentums geprägt, und so nimmt es nicht wunder, dass der heilige Georg vom Rücken seines Schimmels aus den Drachen bekämpft. Häufig wird in der Bibel auf Drachen Bezug genommen, als Feind des Menschen und als Feind Gottes. Am ehesten sind uns deshalb jene Drachenlegenden vertraut, die den gleichen Tenor haben: Der skandinavische Donnergott Thor tötet am Tag der Letzten Schlacht, Ragnarök, die weltumschlingende Midgardschlange Jormungander und findet dabei selber den Tod. Siegfried erlegt im Nibelungenlied den Drachen Fafnir und wird durch das Bad im Blut des erlegten Ungeheuers fast unverwundbar, bevor seine einzige verwundbare Stelle ihm den Tod bringt. Beowulf besiegt erst den Drachen Grendel und dessen Mutter, bevor er im Kampf gegen einen dritten Drachen tödlich verwundet wird. Jedes Mal steht am Ende himmelstürmender Energieaufwendungen der bodenlose Fall.
Ganz anders hingegen die Rolle des Drachen in Asien. Das chinesische I Ging – Das Buch der Wandlungen – spricht von »Drachen«, die symbolisch für Kräfte stehen, die nicht nur überall auf der Erdoberfläche wirken, sondern sich auch im Weltinneren und im Himmel finden. Sie symbolisieren eine innewohnende Kraft, die über Raum und Zeit hinausgeht. Den meisten Asiaten ist das bewusst. Aus diesem Grund wird die chinesische Thronbesteigung des Kaisers »Drachenflug« genannt, und deshalb nennt sich das chinesische Volk »Kinder des Drachen«. Das koreanische Nationalepos, das die Geschichte von sechs Stammvätern schildert, die aus dem Osten übers Meer, also aus China, kommen und Drachen genannt werden, heißt Gesänge der Drachen. Wie sehr in Asien der Drache positiv besetzt ist, zeigt auch das tibetische Yoga. Dabei wird eine Urenergie erweckt, die sich die Wirbelsäule hinauf entrollt und den gesamten Körper mit einem Gitternetz lebensspendender Kraft umschlingt: Kundalini. Ein anderer Name für diese Energie ist »Schlangenfeuer«.
Auch in unseren Gefilden wurde – jenseits christlicher Wandlungen – der Mythos vom Drachen stets als ein Mythos innerer Kräfte aufgefasst. Douglas Monroe, ein Experte für keltische Mythen, schildert, »dass die Druiden das gesamte Energiesystem der Erde als eine Manifestation des Drachen ansahen und die magnetischen Ströme, die kreuz und quer über die Erdoberfläche verlaufen, Drachenlinien nannten«. An den Knotenpunkten der Gitterströme rollen diese Linien, auch Leylinien genannt, sich zusammen und winden sich an die Oberfläche – etwa in Glastonbury und auf der Isle of Wight. An diesen Stellen, die eine starke »Drachenenergie« aufweisen, errichteten die Druiden gern stehende Steine oder astronomische Anlagen wie Stonehenge. Die Kelten sahen also die gesamte Erde als Körper des Drachen an.
Um sich geborgen zu fühlen, brauchte der Mensch schon immer den Glauben an eine Kraft, die durch ihn fließt und deren Bestandteil er ist, eine Kraft, durch die er wirken und sich entfalten kann. In weniger magischen Zeiten wurde sie zu einer Energie außerhalb seiner selbst, die im Osten als hilfreich und weise, im Westen eher als bedrohlich aufgefasst wurde. Und seit unvordenklichen Zeiten leben die jeweils Herrschenden hier wie dort in der Angst vor einer Rückführung der äußeren in eine innere Kraft, vor der Rückbesinnung auf eigene Stärke – der Drache wurde besonders im Westen zu einer bösartigen, egozentrischen und ungeselligen Gestalt stilisiert, die zwar so stark ist, dass man unverwundbar wird, wenn man in ihrem Blut badet, die aber allein schon durch ihr Aufbegehren zwangsläufig dem Untergang geweiht ist. Man könnte im westlichen Kulturkreis fast von einer »Unterdrückung« des Drachen sprechen.
Der einstige US-Diplomat Wayne S. Peterson schreibt in seinem Buch Hinter den Kulissen wird die Welt verändert: »Mythen sind der Klebstoff, der die Leute in einer kulturellen Einheit zusammenhält. Sie sind die stützenden Pfeiler jeder Zivilisation und sorgen für moralische Ordnung, für Zusammenhalt und schöpferische Kräfte.« Das trifft auf jede Gesellschaft zu und ist durchaus wertneutral. Es sagt nichts über den Charakter des jeweiligen Mythos aus. Der Mythos vom Drachen symbolisiert Macht und Selbstbestimmung. Im Westen ist dieses Geschöpf devot und heimtückisch geworden, eine kriecherische Schlange, die durch ihren schlechten Rat den Menschen immer wieder aus seinem verheißenen Paradies vertreibt. Es hortet Schätze und frisst Jungfrauen. Im Osten hingegen gibt es unzählige Feste, bei denen der Drache hoch erhobenen Hauptes durch die Straßen getragen wird. Seine Weisheit wird dort zu Liebe. Aber die Grenze zwischen westlichen und östlichen Auffassungen scheint zusehends zu verschwimmen. Der gute Drache hat schon Einzug in Europa und Amerika gehalten.
Wie breit das Spektrum der Vorstellungskraft in Bezug auf Drachen auch in hiesigen Landen ist, zeigt das vorliegende Lesebuch. Feueratem versammelt fünfundzwanzig Erzählungen – märchenhafte, poetische, ultraspannende und humorvolle Beiträge von einigen der besten deutschsprachigen AutorInnen fantastischer Literatur, ergänzt um solche aus dem englischen Sprachraum von Personen, deren Romane zu Höhepunkten der Buchreihe »Excalibur« geworden sind. Neue und alte Auffassungen werden erkundet, auf dieser und auf fremden Welten. Neben historischen Erzählungen steht reine Fantasy, und zu gelegentlicher Science-Fiction gesellen sich Erzählungen, die Realität mit einem Hauch Magie versehen. Fast allen Beiträgen ist gemeinsam, dass sie eigens für dieses Buch geschrieben wurden – und mit wie viel Lust und Freude am Thema, davon zeugt jede einzelne dieser Geschichten!
Aber jetzt wünsche ich Ihnen viel Spaß beim Schmökern. Glauben Sie mir: Das Lesebuch Feueratem ist allein für Sie entstanden! Und nach der Lektüre wird Ihnen vielleicht deutlicher denn je sein: Drachen sind ursprüngliche, zeitlose und gescheite Geschöpfe, wild und ungebärdig, aber auch voller Sanftmut und Liebe – wie das Leben.
Drachen sind pure Lebensenergie!
Michael Nagula
Hanau, im Juli 2002
Tanja Kinkel
Feueratem
Teres hatte Drachen schon immer gehasst. Zumindest konnte sie sich nicht an eine Zeit erinnern, in der sie anders gefühlt hätte. Drachen waren für ihre Eltern und den gesamten Clan immer wichtiger gewesen als Teres oder eines ihrer jüngeren Geschwister. Was die älteren Brüder und Schwestern anging, so gaben sie Drachen ebenfalls den Vorzug. Als Teres mit vier Jahren stürzte, sich einen Zahn ausschlug und glaubte verbluten zu müssen, dauerte es zwei Stunden, bis sich jemand um sie kümmerte, weil der Drache gerade von dem Dreck befreit werden musste, der sich zwischen seinen Schuppen gesammelt hatte.
Mit dem Beginn ihres siebten Lebensjahres wurde es schlimmer, denn nun erwartete der Clan von ihr, dass sie sich selbst an der Pflege des Drachen beteiligte. »Was kann ich denn schon für ihn tun? Er ist doch so riesig!«, beschwerte sie sich und wurde belehrt, gerade der Umstand, dass sie klein genug sei, um sich noch zwischen zwei Klauen des Drachen klemmen zu können, sei ein Vorzug. »Im Übrigen bist du eine Dekapa, und je früher sich der Drache an dich gewöhnt, desto besser«, schloss ihr Vater und schickte sie mit ihren älteren Geschwistern in die Höhle des Drachen.
Dem Clan Dekapa anzugehören bedeutete, sich um Drachen kümmern zu müssen, das war der Glaubensgrundsatz, der ihnen morgens, mittags und abends gepredigt wurde. Ehe sie verstand, warum dies so war, ehe sie ahnte, dass es für andere Menschen nicht selbstverständlich war, sich Drachen überhaupt zu nähern, wusste sie bereits, dass sie sich eines Tages diesem Grundsatz nicht mehr beugen würde. Wenn sie erst alt genug war. Vorerst blieb ihr nichts anderes übrig, als die Höhle des Drachen zu betreten, auf seinem warmen Leib herumzuklettern und das Moos und Gezweig zwischen seinen Schuppen zu entfernen.
Der Drache stank nicht, obwohl sie das befürchtet hatte, ehe sie ihn zum ersten Mal sah. Er roch ein wenig wie die Asche der Kaminfeuer, die ihre Zimmer auf der Burg erwärmten. Aber verglichen mit den anderen Tieren, die sie kannte und deren Fell nach einem Regen einen so scharfen Geruch ausströmte, dass man die Luft anhielt, nahm man ihn kaum wahr. »Das liegt daran, dass er kein Fell hat, sondern Schuppen, Dummkopf«, sagte ihre ältere Schwester Evala, als sie es erwähnte, als ob Teres das nicht wüsste und sich an den Schuppen, die an ihren spitzen Enden scharf wie Messer sein konnten, mehr als einmal die Hände zerschnitten hätte.
Der Drache atmete auch kaum. Anfangs dachte Teres, er atmete überhaupt nie, aber mit der Zeit fiel ihr auf, dass sich der Staub um seine Nüstern während der Zeit, in der sie und die anderen mit seiner Pflege beschäftigt waren, schwarz färbte. »Er ist sehr vorsichtig, wenn Menschen um ihn sind«, erklärte ihre Mutter. »Wirklich ein- und ausatmen kann er nur während des Fliegens, weil die oberen Lüfte so kalt sind, dass sein Atem dort nicht gleich zu Feuer wird, wenn er es nicht will.«
Dass der Drache auch sprechen konnte, wusste sie, weil es die Mitglieder des Clans gelegentlich erwähnten, doch ihre ganze Kindheit lang hörte sie seine Stimme kein einziges Mal. Er hielt sie offensichtlich nicht für würdig, das Wort an sie zu richten, und das steigerte ihren Groll.
Teres war vierzehn und stand kurz vor ihrem fünfzehnten Geburtstag, als sie ihrem Gefühl für den Drachen endlich Luft machte. Inzwischen wusste sie, warum der Drache für ihre Familie so wichtig war. Jeder einzelne der großen Clans verfügte über einen besonderen Zauber, etwas, das den anderen Clans, die miteinander um die Herrschaft in Erised rangen, fehlte. Die Gabe des Clans Dekapa, so hieß es, lag in dem Bündnis mit den Drachen. Wenn man Teres gefragt hätte, was niemand tat, so hätte sie vorgeschlagen, sich ein wenig mehr um die anderen Clans und etwas weniger um den Drachen zu kümmern. Sie verstand nicht, warum die großen Clans sich nicht einigen und miteinander Frieden schließen konnten. Einmal äußerte sie diesen Gedanken im Gespräch mit einem ihrer Brüder auf dem Flussmarkt; er nannte sie ein törichtes kleines Mädchen. Doch es dauerte keine Woche, und Sani aus dem Clan Soschun richtete es ein, ihr auf dem gleichen Flussmarkt zu begegnen.
Sani war der erste Junge, in den sie sich verliebte, und lange glaubte sie, dass sich ihre erste Begegnung zufällig ereignet hatte. Schließlich waren die Flussmärkte einer der wenigen Orte, deren Unverletzbarkeit von allen Clans respektiert wurde, und das machte es so reizvoll, sie zu besuchen. Sie wäre nie auf den Gedanken gekommen, Sani könne aus einem anderen Grund gekommen sein als dem, den er ihr später nannte; um besseres Angelzeug zu erwerben, in dem er sich so verhedderte, dass er aus seinem in ihr Boot stolperte. Sie war jung.
In ihrer Verliebtheit zweifelte sie nicht daran, dass Sani und sie dazu bestimmt waren, Frieden zwischen ihren Clans zu stiften. Von dem Clan Soschun sprach man in ihrer Familie nur mit gerunzelter Stirn und gesenkter Stimme, doch das lag daran, dachte Teres, dass kein Mitglied des Clans Dekapa Sani kannte, Sani, dessen hohe Gestalt, blaue Augen und fedriges Haar den Inbegriff aller Vollkommenheit darstellten. Ohne Gewissensbisse traf sie sich hinter aller Rücken mit Sani am Fluss zwischen den Territorien und schwelgte in idyllischen Zukunftsvorstellungen, bis er die Frage stellte, die sie wieder auf den Erdboden zurückholte.
»Was für ein Zauber ist es eigentlich«, fragte er, »der die Drachen an deine Familie bindet?«
Teres fehlte noch viel zu einer weisen, erwachsenen Frau. Aber sie war nicht dumm. Die Frage, im schläfrigen, nebensächlichen Ton gestellt, hallte in ihrem Herzen mit der schmerzhaften Deutlichkeit einer Warnung wider. Sani merkte nichts von ihrem Erstarren, da er damit beschäftigt war, eine Angelschnur auszuwerfen. Als sie nicht antwortete, drehte er sich zu ihr um und fuhr etwas drängender fort: »Es muss wirklich ein besonders schwerer Zauber sein. Mein Vater und mein Großvater haben ihr Leben lang versucht, mit Drachen zu sprechen, und sind kaum mit dem Leben davongekommen. Viele andere sind tatsächlich gestorben, wenn sie sich einem Drachen genähert haben. Und ihr lebt mit ihnen?«
»Ich würde lieber mit dir leben«, entgegnete Teres, die nicht wahrhaben wollte, was ihr der Verstand immer deutlicher sagte: dass sie ausgehorcht wurde.
Sani lächelte sie an, doch in seine liebevolle Stimme schlich sich zum ersten Mal ein Hauch von Drohung. »Dann solltest du auch keine Geheimnisse vor mir haben, mein Schatz. Liebende haben keine Geheimnisse voreinander.«
Er glaubte ihr nicht, als sie wahrheitsgemäß versicherte, nicht die geringste Ahnung von dem Drachenzauber zu haben. Er verließ sie wütend und doch gewiss, ein paar Tage der Trennung würden genügen, um sie dazu zu bringen, ihm das Geheimnis zu erzählen. Sie indessen wusste, dass sie ihn nie wieder sehen würde, nicht ohne Hass in ihrem Herzen und Fremdheit auf ihrer Zunge.
In dieser Nacht, als sie vergeblich versucht hatte, sich in den Schlaf zu weinen, schlich sie sich unter dem Schnarchen ihrer Geschwister aus dem Schlafraum. Auch die kalten Steine unter ihren Füßen waren die Schuld des Drachen. Ihm zuliebe lebten sie alle so hoch wie möglich, auf einem Berg, in einem Haus aus Fels, statt wie jeder andere in der warmen Ebene und in Häusern aus Holz. Aber nein, Drachen fühlten sich in der Ebene nicht wohl, und Holz wäre zu gefährlich, zu sehr eine Versuchung für Unfälle. Sie spürte die Kälte in ihren Beinen aufsteigen, während sie zu der Höhle hastete, die sich unter dem Haus befand, und nahm kaum wahr, dass sie sich verringerte, je näher sie dem Drachen kam.
Ihre Augen hatten sich an das Dunkel gewöhnt, als sie die Höhle betrat, doch in jedem Fall wäre es nicht schwer gewesen, den Drachen auszumachen. Seine Schuppen hatten eine rötlich gelbe Färbung, und sie stellte fest, dass er schwach leuchtete. Seine Augen waren geöffnet, was Teres innehalten ließ. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass er wach sein würde. Die großen, schwarzen Augenbälle wirkten wie Löcher in dem hellen Körper. Sie hätte nicht sagen können, ob er sie anblickte oder durch sie hindurchschaute. Nach einem weiteren Herzschlag war es ihr gleichgültig, und ihre aufgestaute Qual brach sich Bahn.
»Es ist deine Schuld!«, stieß sie hervor. »Er hätte mich um meiner selbst willen geliebt, wenn du nicht wärst! Mein Leben lang musste ich deine Dienerin sein, und nun hast du mir auch noch den Liebsten genommen!«
Ihre Stimme hallte dünn und kindlich von den Wänden der Höhle wider. Der Drache rührte sich nicht.
»Warum?«, fragte Teres und versuchte alles, um nicht zu schluchzen. »Warum habt ihr euch nicht einen anderen Clan aussuchen können, du und die anderen Drachen? Warum musste es meine Familie sein?
Als der Drache sprach, fuhr sie zusammen, denn sie hatte nicht gesehen, dass er sein Maul geöffnet hätte. Dennoch kam die Stimme, welche die Höhle erfüllte, eindeutig von ihm. Sie war anders als alle Stimmen, die Teres bisher gehört hatte, nicht die eines Mannes, nicht die einer Frau, und ohne jedes Echo, obwohl Teres‘ Worte eines gehabt hatten.
»Du weißt genau«, sagte der Drache, »dass er dich nicht liebt und nie geliebt hat. Gäbe es keine Drachen, so hätte er dich keines zweiten Blicks gewürdigt.«
Teres holte erbittert Luft. Die dunklen Augen schienen sie zu verspotten und ihren Zorn in sich hineinzusaugen, ohne etwas wiederzugeben. Sie biss sich auf die Lippen und ging Schritt für Schritt auf den Drachen zu. Auf irgendeine Art und Weise musste sie ihn verletzen, so wie er sie verletzt hatte, ihr ganzes Leben lang. Unter ihren Füßen war der Boden inzwischen so warm wie ihre eigene Haut, aber daran war sie gewöhnt. Der dunkle Staub zwischen ihren Zehen wirbelte nur ein wenig auf, wenn sie fester auftrat. Sie würde sich später die Füße waschen müssen.
Als sie vor dem Maul des Drachen stand, sah sie seine Nüstern, eine der wenigen Flächen seines Körpers, die nicht mit Schuppen bedeckt waren. Ohne jede Warnung holte sie aus und schlug darauf. Ihre Hände waren nicht groß genug, um auch nur eine von ihnen ganz abzudecken, doch sie spürte, wie das weiche, geschmeidige Fleisch unter ihrer Handfläche zusammenzuckte.
»Ich hasse dich!«
Ihre Stimme, immer noch dünn und nicht gewichtiger als das Geräusch, das die Schilfrohre im Wind machten, brach sich diesmal nicht an den Wänden. Sie stand zu nahe am Drachen. Er machte eine ruckartige Kopfbewegung, und sie stürzte auf die Knie.
»Teres aus dem Clan Dekapa«, sagte der Drache, »du weißt nicht, was Hass bedeutet, und du hast keine Ahnung von Liebe. Aber klettere auf meinen Rücken, und ich werde dir zeigen, was es mit beidem auf sich hat.«
Eigentlich hatte Teres geglaubt, der Drache würde ungehalten genug sein, um seine Beherrschung zu verlieren und sie mit einem Atemstoß umzubringen. Seit sie sich von Sani verabschiedet hatte, war das Elend in ihr so lange gewachsen, dass sie glaubte, es würde ihr nichts ausmachen, im Gegenteil, es würde sie von der Enttäuschung und dem Schmerz erlösen, der jeden Pulsschlag in ihr vergiftete. Das plötzliche scharfe Brennen ihrer Kniescheiben, als der Aufprall ihre Haut aufschürfte, war dagegen ein banaler, alltäglicher Schmerz, doch er riss sie genug aus ihrer Verzweiflung, um den Zorn erneut die Oberhand gewinnen zu lassen.
»Was weißt du denn schon von den Gefühlen der Menschen?«, erklärte sie verächtlich. Sie rappelte sich auf. »Du bist nur ein Tier.«
Ein Tier allerdings, das sie herausgefordert hatte, das begriff sie. Sie kletterte auf den Rücken des Drachen, wie sie es oft genug getan hatte, um ihn zu säubern. Ein Ruck ging durch seine Gestalt, als er sich auf seine Pranken hob. Sie schwankte und wäre um ein Haar wieder heruntergestürzt, bis es ihr gelang, das Seil aus Seidenfäden zu ergreifen. Es war ihr nicht neu: Sie hatte es gemeinsam mit ihrer Mutter und ihren Geschwistern geknüpft, wie schon viele seiner Art. Gelegentlich trug der Drache die älteren Mitglieder der Familie. Sie hatte es nur aus der Ferne beobachten können, doch die ungefähre Vorgehensweise war ihr vertraut. Während er die Höhle verließ, klemmte sie sich -zwischen das Seil und die Schuppen und presste sich gegen den Hals, nicht einen Moment zu früh, denn als der Drache sich in die Lüfte erhob, spürte sie den Wind mit der Macht einer geballten Faust über sich hinwegstreichen.
Zu fliegen raubte ihr den Groll, der sie bisher ernährt hatte. Sie brauchte einige Zeit, bis sie sich wieder auf etwas anderes besinnen konnte als auf die Freiheit, nicht länger mit der Erde verwachsen zu sein, ehe sie etwas anderes wahrnahm als das Sternenlicht, in das sie hineinzustürzen schien, bis der Drache genügend Höhe gewonnen hatte, um nicht mehr aufzusteigen.
»Siehst du nun, wie klein du bist?«, fragte er, so deutlich hörbar wie in seiner Höhle, und sie erinnerte sich wieder, dass sie ihn hasste. Sie begann ihm zu antworten, doch der Wind riss ihr die Worte aus der Kehle, als wolle er sie zerfetzen, und so verstummte sie wieder und dachte, dass sie ihm später antworten würde, auf dem Boden. Eine Weile gab es nichts außer dem Flug und der sternenbeglänzten Nacht, dann spürte sie, wie sich die Muskeln in seinem Hals zusammenzogen und wieder entspannten, einmal, zweimal, schließlich so oft, dass sie aufhörte zu zählen. Jedes Mal brachten sie einen Feuerstoß mit sich. Anscheinend waren sie nicht so hoch gestiegen, wie der Drache es ohne sie getan hätte. Die Flammen, die er atmete, erhellten die Nacht anders als das milde Licht der Sterne. Sie fühlte sich an Blitze erinnert, die ähnlich schnell kamen und gingen und Dinge zeigten, von deren Wirklichkeit man erst beim nächsten Mal überzeugt sein konnte.
Als der grünliche Nebel am Boden auftauchte, dachte Teres zunächst, es müsse sich um Flussnebel handeln, den sie durch den Atem des Drachen in so seltsame Farbe getaucht sah. Doch der Drache sank etwas tiefer, ohne zu atmen, und die dichten grünlichen Wolken verschwanden nicht. Ein Geruch stieg ihr in die Nase, ein fahler, süßlicher Geruch wie überreifes Obst.
»Halte jetzt die Luft an«, sagte der Drache. »Ich werde dir zeigen, was dort unten liegt, doch du verträgst es nicht sehr lange, und noch weniger, wenn du atmest. Es wird nicht lange dauern.«
Einen Moment lang wollte sie aus reinem Widerspruchsgeist das Gegenteil tun. Aber das fahle Grün dort unten löste eine Beklommenheit in ihrem Magen aus. Sie wollte nichts davon einatmen, wenn es sich vermeiden ließ. Also gehorchte sie.
In den Nebel einzutauchen war schlimmer, als sie vermutet hätte. Er legte sich klamm und kalt auf ihre Haut, und es war ihr, als schnüre er ihr die Kehle zu. Was sie in ihm sah, beendete jede Versuchung, um Atem zu ringen, im Nu. Als Kind war Teres einmal in den Fluss gefallen, ehe sie schwimmen konnte, und hatte verzerrte Schatten auf sich zutreiben sehen, ehe sie hustend und spuckend wieder auftauchte. Auch jetzt trieben Formen auf sie zu, aber die Nacht war längst nicht dunkel genug, um nicht zu erkennen, worum es sich handelte. Vögel mit aufgequollenen Köpfen waren es, oder solche, denen noch mehr Köpfe aus den Hälsen wuchsen, unvollendet, Vögel mit verstümmelten Schwingen, die durch den Nebel torkelten, nicht flogen. Einer hatte einen Schnabel, der nur aus einem Teil bestand, und hätte sie um ein Haar berührt, als der Drache sich jäh wieder in die Höhe steigen ließ und dem grünlichen Nebel den Rücken kehrte.
Danach dauerte ihr Flug nicht mehr lange. Er ließ sich auf einem Felsvorsprung nieder. Erst jetzt bemerkte Teres, dass ihr danach war, sich zu erbrechen, und sie glitt vom Rücken des Drachen. Ihre Knie zitterten, als sie ein paar Schritte machte, um dann niederzustürzen und sich zu übergeben. Der Drache sagte nichts. »Was«, flüsterte Teres, als es ihr wieder besser ging, »war das?«
»Der Zauber des Clans Soschun«, erwiderte er.
»Das sagst du nur, um dich an mir zu rächen«, begehrte sie auf.
»Nein. Das Gebiet des Clans Soschun liegt am nächsten. Der Zauber des Clans Xaste ist nicht viel anders, aber dazu hätten wir weiterfliegen müssen.«
Sie wusste, dass jeder Clan seinen Verteidigungszauber hatte. Aber sie hatte angenommen, dabei handle es sich um undurchdringliche Schutzwälle. Der grüne Nebel war nicht eigentlich undurchdringlich gewesen. Nur Übelkeit erregend.
»Niemand«, sagte der Drache, »kann in diesem Zauber lange überleben, ohne zu werden wie die Vögel, die du gesehen hast, wenn er nicht ohnehin bald stirbt. Niemand, bis auf die Drachen. In einem Gebiet, das einem Drachen als Heimat dient, kann der Zauber nicht angewendet werden, doch nur, wenn er wirklich dort lebt und mit ihm verwurzelt ist.«
»Der Drache ist unser Schutz«, hatte sie ihre Eltern immer wieder sagen hören, doch nie zuvor hatte sie begriffen, dass er sie vor mehr schützte als vor Armeen. Teres setzte sich zurück und verlagerte ihr Gewicht auf ihre Fersen, während sie ihre Knie umschlang.
»Aber«, sagte sie, »wenn niemand lange in diesem Zauber leben kann, bis auf die Drachen, dann wäre es auch für den Clan Soschun unmöglich. Aber Sani ist nicht missgestaltet.«
Sanis Gestalt, die runden, starken Arme, die sie gehalten hatten, kamen ihr in den Sinn, von der Nachmittagssonne umrahmt, während er sich über das Flussufer hinwegbeugte. Ihr eigener kleiner, ungelenker Körper war ihr daneben immer ungenügend erschienen.
Der Drache schaute sie mit seinen schwarzen Augen an. »Ich habe nur gesagt, dass dieses Gebiet dem Clan Soschun gehört«, entgegnete er. »Nicht, dass die Familie dort lebt. Niemand lebt mehr dort, von den Menschen.«
Mit dieser Art von tödlichem Zauber, setzte er ihr in aller Ruhe auseinander, hatte mehr als ein Clan Gebiete erobert, weil sich ihm, bis auf die Drachen, nichts in den Weg stellen ließ und selbst ein gleichartiger Gegenzauber nichts daran änderte, dass der alte Besitzer sein Land nicht mehr benutzen würde können.
Teres war fassungslos. »Aber dann bleibt doch am Ende nur noch verwüstetes Land übrig, und Leichen!«
»Begreifst du nun«, fragte der Drache, »was für ein Kind du bist, mit deinem Gezeter um Vorzüge und verlorene Liebe?«
Die Beschämung brannte in ihr.
»Ein Kind mag ich sein«, gab sie zurück und schluckte, »aber in einem hatte ich doch Recht. Wäre es nicht besser, Frieden zu stiften zwischen den Clans? Wenn Drachen dieses Böse verhindern können, dann verstehe ich nicht, warum du und deinesgleichen nicht bei allen Familien wohnt.«
»Meinesgleichen gibt es nicht. Nicht so, wie du es meinst.«
Mit diesen Worten verstummte der Drache und bewegte auffordernd den Kopf. Teres erhob sich und kletterte stumm wieder auf seinen Rücken. Dem Fliegen war die Freiheit geraubt, und die Schwere ihres Herzens drückte sie, während sie in ihr Heim zurückkehrten, bis sie sich wie ein Stein vorkam, der dem Drachen um den Hals hing.
Danach brauchte sie eine Woche, ehe sie sich wieder freiwillig in die Nähe des Drachen begab, unaufgefordert. Diesmal schien die Sonne, und er hatte seinen riesigen Körper im Hof vor seiner Höhle zusammengerollt wie eine Schnecke.
»Was hast du damit gemeint, als du sagtest, es gäbe nicht deinesgleichen?«, fragte sie. »Ich weiß, dass es noch andere Drachen gibt. Sonst hätte«, sie zögerte nur ein wenig, »Sani nicht versucht, den Zauber zu stehlen, der dich an uns bindet.«
Die halb geschlossenen Lider über seinen Augen hoben sich ein wenig. »Mich bindet kein Zauber«, sagte der Drache, »so wenig, wie es derzeit meinesgleichen gibt. Noch nie hat ein Zauber einen Drachen binden können. Deswegen wirkt der grüne Nebel ja auch nicht auf mich.«
Teres ging zu seiner rechten Vorderpranke. Die Krallen schimmerten leicht bläulich im Sonnenlicht. Es klebte noch etwas Blut daran, das ihre Schwester, deren Aufgabe es gewesen wäre, übersehen haben musste, oder der Drache hatte seit dem gestrigen Tag getötet. Sie berührte das Blut.
»Du meinst, du tust das alles freiwillig? Bleibst bei uns? Schützt uns? Tötest für uns?«
»Man hat keine andere Wahl«, murmelte der Drache, und seine Stimme sank zu dem Klingen einer Glocke herab, »wenn man liebt.«
»Du liebst uns?«
»Wen soll ich sonst lieben?«, fragte er. »Ihr seid meine Familie.«
»Nun«, meinte sie und versuchte zu begreifen, »du könntest einen anderen Drachen lieben.«
Er öffnete die Augen zur Gänze, und wieder hatte sie das Gefühl, dass die Schwärze in ihnen sie gänzlich aufsog. »Für die anderen Drachen bin ich ein Ungeheuer.«
Das Geheimnis des Drachen ließ ihr keine Ruhe. Er weigerte sich, ihr mehr zu erzählen. Sie fragte ihre älteren Geschwister, doch sie konnten ihr nicht mehr sagen als das, was sie nun wusste. Sie fragte ihre Eltern.
»Du willst es nicht wissen«, versetzte ihre Mutter.
»Aber warum nicht?«
»Wenn du es weißt«, sagte ihr Vater sehr ernst, »dann ist es umso wahrscheinlicher, dass seine Wahl auf dich fällt. Nur die Wissenden in jeder Generation kommen infrage. Deine Mutter und ich gehörten dazu, und wir wachen immer noch jeden Tag voll Dankbarkeit dafür auf, dass die Wahl nicht uns getroffen hat. Was meinst du, warum wir bisher noch keinem von euch etwas erzählt haben? Genießt eure Unbeschwertheit, solange ihr könnt.«
»Ich kann nicht unbeschwert sein«, gab Teres zurück, »solange ich nicht verstehe. Solange ich nicht begreife, warum die anderen Drachen nicht verhindern, was in dieser Welt vor sich geht.«
»Es wird vorbeigehen«, sagte ihre Mutter zu ihrem Vater. »Sie ist noch ein Kind.«
Ihr fünfzehnter Geburtstag kam und ging, doch Teres vergaß nichts. Der alte Groll hatte sich ein neues Ziel gesucht, während der Hunger nach Wissen sich zu ihm gesellte.
»Bist du für die anderen Drachen ein Ungeheuer, weil du uns liebst?«, fragte sie den Drachen.
»Ich bin für sie ein Ungeheuer aus dem Grund, den ich habe, euch zu lieben. Nicht, dass ich ihnen oft begegne. Sie hassen die Menschen für das, was sie aus Erised gemacht haben, alle Menschen. Deswegen bleiben sie den Clangebieten lieber fern.«
»Aber«, sagte Teres mit der Sturheit ihrer Jugend, »wenn du uns liebst, dann musst du doch einsehen, dass es nicht gut so für uns ist, wie es ist. Vielleicht sind wir deinetwegen jetzt sicher, aber was, wenn du stirbst? Nein, du musst die anderen Drachen überzeugen, die Welt zu ändern. Nur dann ist sie sicher.«
»Du weißt bereits alles, was du wissen musst«, entgegnete der Drache. »Du hast es nur noch nicht begriffen.«
Sie war siebzehn und hatte die letzten zwei Jahre damit verbracht, Briefe mit Versöhnungsvorschlägen zu entwerfen, die ihre Eltern nicht unterzeichnen und nicht abschicken wollten, in unregelmäßigen Abständen mit dem Drachen zu fliegen und sich beschämenderweise einzugestehen, dass sie Sani aus dem Clan Soschun noch immer hasste, woran die besten friedlichen Absichten nichts ändern konnten, als ihr die Erkenntnis kam und ihr die Schuppen von den Augen fielen wie vom Körper des Drachen, als er, schwer verwundet, in seine Höhle zurückkehrte.
Es war keine tödliche Verwundung; ihre Eltern benahmen sich besorgt und bekümmert, doch nicht von dem Schrecken erfüllt, der die Ankündigung des baldigen Tods des Drachen gewesen wäre. Doch als Teres beobachtete, wie ihre Mutter das gleiche Lied summte, mit denen sie Teres‘ jüngere Geschwister beruhigte, wenn sie Schmerzen litten, das gleiche Lied, mit dem Teres selbst in den Schlaf gesungen worden war, während dem Drachen auf das aufgerissene Fleisch unter seinen Schuppen Töpfe voller Kräutersalbe gestrichen wurden, als Teres sah, wie der lange, bebende Körper des Drachen ruhiger wurde, da begriff sie.
»Du bist nicht als Drache geboren«, sagte sie leise. »Du warst einmal ein Mensch.«
Obwohl sie mit gesenkter Stimme gesprochen hatte, hörte sie jeder in der Höhle. Die Zeit schien stillzustehen, als sie alle die Köpfe zu ihr wandten und sie anschauten: ihre Mutter, ihr Vater, ihr älterer Bruder und der Drache. Ihre Mutter wurde weiß im Gesicht.
»Nicht Teres«, sagte sie beschwörend zu dem Drachen. »Ich bitte dich, nicht Teres.«
Der Drache entgegnete traurig: »Meine Mutter sprach so, als mir die Wahrheit offenbar wurde.«
»Ich weiß es ebenfalls«, meinte Teres‘ Bruder kriegerisch, »seit einem Jahr schon. Warum nicht ich?«
»Du hast es nicht selbst herausgefunden«, gab der Drache zurück.
Teres hörte ihn kaum. Die Gedanken fielen in ihrem Kopf durcheinander wie die Holzklötzchen, mit denen sie als Kind gespielt hatte, fielen durcheinander und bauten sich neu wieder auf, zu einem anderen Gebäude.
»Aber – wie?«, fragte sie.
»Das ist der Zauber des Clans Dekapa«, sagte der Drache. »Drachen werden von dem grünen Nebel nicht getötet, aber wenn sie ihm einmal ausgesetzt waren, können sie keine Kinder mehr bekommen. Wundert dich da der Hass, den sie für die Menschen haben? Noch einmal hundert Jahre, und es wird kaum mehr welche von ihnen geben. Aber der Clan Dekapa fand einen Zauber, mit dem man einen Menschen, vorausgesetzt, er ist willig, in einen Drachen verwandeln kann.«
Teres trat zu den Nüstern, auf die sie ihn einmal geschlagen hatte, und berührte sie, sehr sachte. Ihre Mutter schloss kurz die Augen. Dann presste sie die Lippen aufeinander und begann erneut, Salbe auf die wunden Stellen des Drachen aufzutragen.
»Wie lautet dein Name?«
»Meinen Namen verlor ich schon vor langer Zeit, ehe ich als Drache wieder erwachte«, sagte der Drache ohne Bitterkeit. »Das wusste ich, ehe ich in das Ei schlüpfte. Es ist eine Wiedergeburt, Teres, und dauert Jahre. Auch ich kann keine Kinder bekommen, genauso wenig wie alle Drachen des Clans Dekapa vor mir. Aber die Verbindung zum Clan besteht, und über ein Mitglied dieses Clans können wir den Zauber legen, der es uns gleich macht. In jeder Generation einmal.«
»Er frisst uns auf, dieser Zauber«, brach es aus ihrem Vater hervor. »Der Drache vor dir hat fünf Eier geschaffen, und nur aus deinem kam ein lebender Drache. Und du«, er stockte und berührte die linke Vorderpranke des Drachen. »Ich kenne deinen Namen«, sagte er traurig. »Deinen menschlichen Namen. Mein Großvater sprach von dir. Du warst sein Bruder. An diejenige meiner Tanten, die von dir erwählt wurde, kann ich mich erinnern. Und mein Vetter, der Bruder meiner Frau. Auch er wurde erwählt. Die Eier, in denen sie schlummern, ich weiß, wo sie verborgen sind. Ich besuche sie, ich lege meine Hand auf sie, wie jetzt auf dich, aber ich höre nichts. Ich spüre nichts.«
»Zauber frisst unsere ganze Welt auf«, sagte Teres langsam, ohne ihren Blick von den Augäpfeln des Drachen abzuwenden, die aus dieser Nähe riesig waren. »Weil ihr sie alle nur hinnehmt.«
»Dann weigerst du dich?«, fragte der Drache, und sie begriff, dass er sie schon lange vorher ausgewählt hatte. Vielleicht, als sie gerufen hatte, sie hasse ihn. Er hatte nicht gelogen, als er ihr erklärte, sie wisse nicht, was Liebe und Hass bedeuteten. Es war Liebe, die ihn an den Clan Dekapa band, dem er entstammte, und es war auch Hass. Sie lebten alle von seinem Opfer, und sie hielten ihn in seinem unnatürlichen Leben.
»Nein«, erwiderte sie, »denn ich verstehe jetzt. Alles.«
Es war der Schatten gewesen, der schon immer auf ihrem Leben geruht hatte, und nun, da sie sah, was ihn warf, war sie frei. Sie würde sich nicht weigern. Sie würde ihm und dem Clan ihr menschliches Leben geben, aber sie würde mit sich tragen, was sie gelernt hatte. Als ein Drache würde ihr gelingen, was sie alle für so unmöglich hielten – die Welt zu verändern. Und nach ihr würde es keinen Clanzauber mehr geben.
In den Augen des Drachen sah sie sich selbst, eine kleine Gestalt umgeben von schwimmendem Dunkel.
»Du bist noch so jung«, sagte der Drache.
Die Welt war neu unter ihr, als sie sich in die Lüfte erhob. Sie wusste, sie hatte einmal einen Namen gehabt, doch er war nicht länger ein Teil von ihr, so wenig wie die Schalen des Eies, aus dem sie geschlüpft war. Wesen hatten auf sie gewartet und sie begrüßt, aber keines von ihnen war wie sie selbst, obwohl sie wusste, dass jedes von ihnen zu ihr gehörte wie die blauen, goldgefleckten Schuppen auf ihrem Körper. Es gab etwas, was sie mit ihnen verband, ein Gefühl, das sie nicht beim Namen nennen konnte.
Die Luft trug sie, umschmeichelte sie, und sie stieß ihren Atem aus, um ihr dafür zu danken. In den Flammen, die sie umgaben, sah sie die Nebel unter sich wabern. Es nagte an ihr, zerrte an ihr. Falsch. Ganz und gar falsch.
Sie ließ sich fallen, um die Nebel zu vertreiben.
Die Leseprobe findet sich auf den Seiten von Droemer Weltbild.
Ihr könnt das Buch hier bestellen