Aufenthalt im Wasserreich (Ciruelo Cabral)
Durch Weingärten und Olivenhaine im Süden Frankreichs, vorbei an den bernsteinfarbenen Schlössern der Herren der Provence und an den rotgedeckten Häusern ihrer Untertanen entlang, floss die Rhone. Der stetige Strom ihres Wassers verriet nicht, dass sie Drachen beherbergte. Einer jedoch hauste in ihren Tiefen: Nahe der Stadt Beaucaire, wo die Rhone in Biegungen dem Meer zustrebte, war die Lagerstatt des Drac verborgen, eines riesigen, uralten Wesens; er verstand sich auf Zauberei, die er für seine eigenen blutigen Zwecke einsetzte.
Der Drac besaß eine Vorliebe für Menschenfleisch und machte sich ein Vergnügen daraus, Sterbliche zu jagen. Von Zeit zu Zeit verließ er den Fluss und begab sich zum Marktplatz von Beaucaire, wo er, für die geschäftigen Stadtbewohner unsichtbar, im Schatten der Platanen herumstrich, ein wachsamer Schatten zwischen Körben voller Fische und Bergen von Obst. Mit kalten, blassen Augen beobachtete der Drache die Hausfrauen, die mit den Händlern schwatzten; mit gekrümmten Klauen schnappte er sich dann geschwind ein unbeaufsichtigtes Kind.
Zum Zeitvertreib lockte der Drac manchmal auch Menschen in seinen Fluss. Einmal tat er dies zu einem seltsamen Zweck, und das geschah so:
An einem Sommernachmittag, als die Sonne unbarmherzig auf Stadt und Felder niederbrannte, ging eine junge Frau aus der Stadt zum Fluss, um die Kleider ihres Kindes zu waschen. Wie sie so ihrer Arbeit nachging, blickte die Frau über das glitzernde Wasser – und dann machte sie große Augen. Auf dem Wasser, nicht weit vom Ufer, schwamm ein goldener Becher. In dem prachtvollen Gefäß schimmerte eine Perle.
Ohne zu überlegen nahm sie den Köder an. Sie streckte die Hand nach dem hübschen Zierat aus, der Becher aber glitt außer Reichweite und glitzerte verführerisch im Sonnenlicht. Die Frau versuchte ihn abermals zu greifen; sie beugte sich über den Uferrand und verlor dabei das Gleichgewicht. Als sie fiel, griff eine Klaue nach ihr; wie eine Fessel schloss sie sich fest um die Taille der jungen Frau. Sie stöhnte und zappelte, aber gegen den Griff war sie machtlos. Sie fühlte, wie sie nach unten gezogen wurde. Während ihre Röcke sich mit Wasser vollsogen, warf sie einen letzten, verzweifelten Blick zum Ufer – sie sah, wie kleine Kleidungsstücke auf dem Gras am Fluss trockneten und das Kind, ganz allein, dasaß und wimmerte. Dann schlugen die Wasser der Rhone über ihrem Kopf zusammen.
Unerbittlich wurde sie in die kalten Tiefen des Flusses hinabgezogen, bis sie nichts wahrnahm als nasse Schwärze, durchbrochen von winzigen Lichtern, strahlend und glitzernd wie die Sterne am nächtlichen Himmel. Sie wurde ohnmächtig.
Als sie die Augen wieder aufschlug, befand sie sich in einer kristallenen Höhle. Vor den durchsichtigen Wänden wogten Wasserpflanzen, als wehe ein Landwind darüber hin. Fische schnellten vorbei. Neben ihr lag der goldene Becher, der sie verlockt hatte, und die Perle, die darin war. Und dann sah sie, wer sie gefangen genommen hatte. Riesenhaft und schimmernd hockte der Drache reglos neben dem Becher und betrachtete sie. Von seinem grünen, starren Blick gebannt, stand die Frau auf, und während sie dies tat, verblasste die Erinnerung an ihr Leben: Ihr kleiner Sohn, ihr Mann, ihr Haus im sonnigen Beaucaire, die Felder und Olivenhaine und die Stadt, das alles wurde zu winzigen Bildern, zu Miniaturen, an die sie sich undeutlich erinnerte, wie an Träume. Nur die Worte des Drachen ertönten in ihrem Kopf. Der Drac sprach mit einer Stimme, die wie ein Gong wiederhallte, und die Sterbliche gehorchte. Der Drache hatte der Frau aufgelauert, weil sie jung und gesund war – und weil sie ihren Sohn stillte. Der Drache brauchte Menschenmilch, um sein eigenes Gezücht, ein schwaches Drachenjunges, zu nähren. So wurde die junge Frau, in einem Zaubergespinst gefangen, die Sklavin des Drac und die Amme eines Drachen. Die Tage vergingen friedlich, und für die menschliche Gefangene in dem trüben Zwielicht der kristallenen Höhle unter dem Fluss war ein Tag wie der andere. Eingelullt von der Bewegung des Wassers draußen und vom Bann des Drachen, lebte sie wie in Trance. Sie säugte das Gezücht des Drac und hegte es, als sei es ihr eigener Sohn. Sie schlief, wann es der Drache gebot, und aß, was er ihr gab. Sie beobachtete die Bewegungen des Wassers durch die durchscheinenden Wände der Höhle, und mit der Zeit wurden ihr die Lebewesen der Rhone – der grün-gold gestreifte Hecht, der schlängelnde Aal, die flinke Forelle – vertraut wie einst die Bewohner von Beaucaire. Mit jedem Tag wurde ihr die Wasserwelt, die sie umgab,verständlicher und bekannter, als seien die Steine und Wasserpflanzen die Felder und Wälder ihrer vergessenen Heimat.
Ihre Sehkraft erhielt sie vom Zauber des Drachen, aber das wusste sie nicht. Jeden Abend rieb sie, wie ihr befohlen war, die Augen des Drachenjungen mit einer Salbe ein, die der Drac ihr gab. Die Salbe verlieh dem Kleinen den durchdringenden Drachenblick, und immer wenn die Frau sich ein Auge rieb, blieb etwas von der Salbe dort hängen, sodass sie ein wenig von der Zauberkraft des Geschöpfes empfing.
Sieben Jahre vergingen. Das Junge wurde groß und stark, und es kam der Tag, an dem der Drac keine Verwendung mehr für seine Gefangene hatte. Er tötete sie nicht, was er durchaus hätte tun können; aber sie hatte seinen Nachkommen genährt, und deshalb ließ er sie frei. Er belegte sie mit einem Bann des Vergessens und versenkte sie in Schlaf, bevor er sie durch den Fluss ans Tageslicht trug.
Die Frau wachte am Ufer in der Nähe ihres Hauses auf. Ein wenig verwirrt sah sie sich um, denn sie erinnerte sich an einen heißen, sonnigen Tag, als sie ihre Wäsche gewaschen und mit ihrem Kind gelacht hatte, das im Gras spielte. Jetzt aber war die Sonne untergegangen, und eines nach dem anderen flammten die Lichter der Stadt auf. Weder die Wäsche auf dem Rasen noch ihr Kind waren irgendwo zu sehen. Sie eilte über die Felder und durch die Straßen der Stadt.
Die Tür ihres Hauses stand offen, um die Abendkühle hereinzulassen, und die Frau ging hinein. Zwei Gesichter wandten sich ihr zu – das eines bärtigen Mannes und eines Knaben, der ihrem Mann glich, als dieser jung gewesen war. Einen Moment starrten sie sich gegenseitig an. Dann sprang der Mann mit einem gellenden Schrei auf. Während der Knabe mit geweiteten Augen zusah, umarmte der Mann die Frau. Er war ihr Ehemann, der sie ertrunken geglaubt und getreu sieben Jahre betrauert hatte. Er überschüttete sie mit Fragen, aber sie konnte keine Antwort geben, denn sie besaß keine Erinnerung an die Welt des Drachen. Der Knabe war ihr Sohn, aber er sprach nicht mit der bleichen, zerlumpten Fremden, ihre Schweigsamkeit schreckte ihn. Aber die Liebe des Vaters zu seiner Frau war so stark und seine Freude über ihre Wiederkehr so groß, dass der Knabe die Fremde allmählich als Mutter annahm. Und in den Wochen ihrer rätselhaften Wiederkehr gewöhnten sich auch die Nachbarn an sie. Ihre siebenjährige Abwesenheit blieb ihnen ein Geheimnis, und ihre Reden schreckten sie zuweilen. Sie träumte von Drachen, erzählte sie oft. Doch ihre Nachbarn waren liebenswürdige Menschen und ließen die Frau gewähren. Sie nahm ihr früheres geordnetes, friedliches Leben wieder auf, kochte und sorgte für den Mann und den Knaben und arbeitete mit den Leuten auf den Feldern. So hätte sie fortleben können, wäre nicht der Drachenblick gewesen. Eines Tages ging sie wie gewohnt auf den Markt, und dort, zwischen den Gemüseverkäufern und Fischhändlern, sah sie den Drac. Schuppig und schimmernd ragte er über den Stadtleuten auf. Sein Haupt reichte fast bis zu den Dachfirsten hinauf, und seine Augen schillerten grün, aber die geschäftigen Händler und ihre Kunden gingen nichtsahnend ihren Geschäften nach. Nur die Frau sah ihn. Als sie aufschrie, blickte er sie scharf an. "Siehst du mich, Sterbliche?", fragte eine Stimme in ihrem Kopf.
"Ich sehe dich, Drache", sagte sie laut, und in diesem Augenblick fielen ihr die ganzen verlorenen sieben Jahre wieder ein. Sie stand regungslos, als die Drachenklaue sich senkte und ihr das linke Auge zuhielt.
"Siehst du mich jetzt?", sagte die Drachenstimme. Sie sah ihn noch. Die Klaue wanderte zu ihrem rechten Auge,und wo der Drache gestanden hatte, sah sie nur den Marktplatz und ihre Mitmenschen. Folgsam sagte sie dem Drachen, dass sie ihn nicht mehr sehe. Sogleich durchfuhr ein blendender Schmerz ihren Kopf. Die Klaue hatte das Auge entfernt, das den Drachenblick besaß.
Halbblind lebte die Frau noch viele Jahre, und wieder und wieder erzählte sie ihre Drachengeschichte. Die Leute hielten sie für verrückt und schlugen ihre traurigen Warnungen in den Wind. So verschwanden Jahr für Jahr Kinder vom Marktplatz von Beaucaire und niemand wußte warum.