Das Ungeheuer Tarasque (Sigrid Früh)
Vor langer, langer Zeit, als die Rhone noch ungestüm dahin floß und gewaltige Wälder ihre Ufer säumten, geschah es, daß eines Tages ein riesiges Ungeheuer dem Meere entstieg und die Rhone zu seinem neuen Reich machte. Es war eine Drächin, halb Landtier, halb Fisch, größer und stärker als zwölf Elefanten, mit Zähnen wie Schwerter und mit einer Haut wie von Eisen. Sie war die Brut des Leviathan, des grausamen Meeresdrachen, und der schrecklichen Riesenschlange Onachus, und sie hieß Tarasque. Wohin das Untier kam, verbreitete sich Angst und Schrecken. Es flohen vor ihm die Fische und die Vögel und alle Tiere und Menschen. Wenn das Ungeheuer Wasser trank und wieder ausspie, so zerbarsten die Schiffe, und es ertranken die Fährleute. Mit einem einzigen Hieb ihrer riesigen Pranken konnte die Tarasque Häuser zusammenstürzen lassen und mit ihrem Atem alles ringsum in ein Flammenmeer verwandeln.
Kühn und tapfer waren die Söhne der Provence, und so mancher wagte den Kampf gegen das Ungeheuer. Doch keinem gelang es, die Tarasque zu besiegen, und sie verloren alle ihr junges Leben.
Sieben Jahre schon wütete das Untier, verheerte das Land und bracht Not, Tod und Unglück über die Menschen. Da sah eines Tages ein Schäfer die Drachenhaut im Sonnenlicht glänzen, und er glaubte nicht anders, als daß die Tarasque tot sei. Es war aber nur ihre abgestreifte Haut, die am Boden lag, denn die Drächin mußte sich alle sieben Jahre gleich einer Schlange häuten.
Weitere sieben Jahre zogen ins Land, und die Menschen litten mehr denn je unter der Grausamkeit der Tarasque, denn sie riß alle Brücken ein und tötete jeden, der von einem Ufer der Rhone zum andern wollte. So mußten die Menschen voneinander getrennt leben, und es war des Jammerns und des Klagens kein Ende. Endlich beschlossen sie, das Ungeheuer mit Hilfe einer List zu besiegen: Unweit der Stadt Avignon nämlich war
ein tiefer, tiefer Sumpf, und wer da hineingeriet, der war für immer verloren. Dorthin wollten sie die Drächin locken. Also banden sie auf dem Wege zu jenem Sumpf Pferde, Schafe, Ochsen und Ziegen an Bäumen fest. In der Tat folgte das Ungeheuer dieser Fährte mit den leichten
Beutetieren. Aber als die Tarasque den Sumpf erreichte, geschah etwas Seltsames: Die Tarasque achtete nicht auf ihr letztes dargebotenes Opfer, einen jungen Stier, sondern brüllte dreimal donnernd, daß die Erde erzitterte, drehte sich uni und ging geradewegs zur Rhone zurück. Den enttäuschten und verwunderten Menschen blieb nur noch die Flucht übrig. Der tiefe Sumpf nämlich war ein Ort des Teufels, und auch die Tarasque war ein Satansgeschöpf, und so konnte er ihr nichts anhaben.
Noch weitere peinvolle sieben Jahre folgten diesem Ereignis.
Da gelangte eines Tages die heilige Martha in jene Gegend, in der das Ungeheuer hauste. Sie kam vor die Tore von Jarnegues, und weil die Bewohner jener herrlichen Stadt schon viel von ihren Wundertaten gehört hatten, fielen sie vor ihr auf die Knie und baten, sie von dem Ungeheuer zu befreien.
Da machte sich Martha auf und ging in die Wälder am Ufer der Rhone. Sie ging ganz allein, barfuß und weißgewandet, und sie hatte keine Waffe zu ihrem Schutze bei sich als ein Krüglein mit Weihwasser.
Endlich fand sie das Ungeheuer. Als dieses die Jungfrau
gewahrte, brüllte es vor Freude über das neue Opfer und bewegte sich auf Martha zu. Sie aber erhob ihre Hände und formte das Zeichen des Kreuzes. Da brach die Gewalt der Tarasque, so wie die wilde Brandung sich an felsigen Gestaden bricht. Noch einmal erhob Martha ihre Hände und besprengte das Haupt der Drächin mit Weihwasser. Da wurde diese sanft wie ein Lamm. Martha band ihr ihren blauen Gürtel um den Hals und führte sie mit sich, gleich wie plan ein Pferd am Halfter führt. So ging die schöne Jungfrau mit dem Untier auf die Stadt Jarnegues zu. Die Tore waren weit geöffnet, und groß war der Jubel des Volkes. Groß war aber auch der Zorn der Menschen über die Tarasque, die so viel Unglück und Leid über sie gebracht hatte. So töteten sie die Drächin mit Lanzen und Steinen. Wenngleich Martha darüber bittere Tränen vergoß, so verzieh sie doch den Bewohnern von Jarnegues, die ihr zu Ehren eine Kirche errichteten und ihre Stadt von nun an Tarascon nannten.
[Märchen aus Südfrankreich]