Der Zigeuner und der Drache (Ciruelo Cabral)
In den weiten Steppen Rußlands lebte ein Zigeunervolk, das durch die Lande zog, Heilmittel und Schmuck verkaufte und nie lange an einem Ort blieb. Ihr Anführer war Yuri, ein scharfsinniger und gewitzter Mann, der sechs Söhne hatte.
Am Feiertag des heiligen Basil, als das Zigeunervolk nahe einer Stadt lagerte, erfuhr Yuri, daß nur wenige Werst entfernt Fohlen zu einem sehr guten Preis verkauft würden. Der Zigeuner dachte an ein gutes Geschäft – er würde die Tiere mit Gewinn weiterverkaufen. Er packte einen frischen Käse und einen Kanten Roggenbrot in seinen Beutel und machte sich auf den Weg. Seine Leute blieben zurück, um die Waren auf dem Markt zu verkaufen. Als er im Nachbarort ankam, war er sehr erstaunt – alles war still und verlassen. Voller Verwunderung wanderte er durch die leeren Gassen und suchte nach einem Hinweis darüber, was da wohl passiert war. Plötzlich vernahm er eine verängstigte Stimme; „Fliehe von hier, Elender, oder der Drache wird auch dich verspeisen!“ „Wer spricht da?“ fragte Yuri. „Ich bin es, der alte Westija.“ Hinter einigen Weidenkörben tauchte ein alter Mann mit langem Bart auf. Er zitterte ängstlich und war so dünn, daß er nur aus Haut und Knochen zu bestehen schien.
„Hallo Großväterchen“, sagte Yuri freundlich, „was geht hier vor sich?“ „Oh mein Sohn“, seufzte der Alte, „ein furchtbarer Drache hat alle Bewohner dieses Städtchens gefressen … Menschen, Tiere, sogar die Katzen! Ich bin der einzige Überlebende, denn ich bin alt und dem Ungeheuer waren Haut und Knochen wohl zu wenig. Doch heute kehrt es zurück, und da es sonst nichts mehr zu fressen findet, wird es sich wohl über mich hermachen. Also laufe schnell fort von hier, damit du nicht auch dieses Schicksal erleidest!“ „Mach‘ dir keine Sorgen, Väterchen“, sagte Yuri mutig, „ich fürchte mich nicht vor dem Drachen. Wenn du tust, was ich dir sage, dann wird dir kein Leid geschehen. Verstecke dich hinter den Körben und schweig ganz still.“ Schon bald erbebte die Erde unter den Schritten des Drachen. Er war enorm groß und er sah hungrig aus. Yuri wußte, daß Drachen von Natur aus eitel und neugierig sind, und begrüßte ihn wie einen Kaiser: „Guten Tag, Zar aller Drachen!“ Der Drache fühlte sich durch diese Anrede sehr geschmeichelt. Er schlug mit dem Schwanz auf den Boden und spreizte die Schwingen, um die wundervolle juwelenbesetzte Brustplatte zu präsentieren, senkte den Kopf und sagte bescheiden; „Es ist ja gar nicht so, ich bin nur ein ganz gewöhnlicher Drache.“ „Ihr seid nicht gewöhnlich wunderbarer Herr“, protestierte Yuri, „ihr seid der größte und schönste von allen. Ich bin stolz darauf, eure Kraft bewundern zu dürfen.“ „Ja, es ist wahr“, gab das eitle Tier zu, „ich bin sehr stark, und man nennt mich üblicherweise schön. Doch wer bist du, daß du so ohne Furcht vor mir stehst?“ „Ich bin der stärkste Mensch der Welt!“ gab Yuri fröhlich zur Antwort. „Du bist der stärkste? Bring‘ mich nicht zum Lachen!“ „Und doch bin ich es, auch wenn du an meinen Worten zweifelst.“ Der Drache wurde nun doch neugierig auf den Zigeuner. Er hob einen Stein auf und zerdrückte ihn zu Staub. „Vielleicht kannst du das ja auch, wenn du der stärkste Mensch bist.“ „Das wäre nicht besonders schwierig“, antwortete Yuri frech, „aber kannst du Wasser aus einem Stein pressen, so wie ich?“ Ohne dem Drachen zu zeigen, was er da aus seinem Beutel genommen hatte, drückte Yuri den frischen Käse, bis Flüssigkeit zwischen seinen Fingern hervorrann. „Nun gut“, dachte der Drache, „er ist wirklich sehr stark. Es ist wohl besser, ihn nicht zum Feind, sondern zum Freund zu haben.“ Um die Freundschaft des Mannes zu gewinnen, schlug er vor: „Komm‘ mit in meine Behausung und esse mit mir. Du bist ein nettes menschliches Wesen, und ich möchte, daß wir Freunde werden.“ „Sehr gut, Drache, laß uns gehen.“
Das Ungeheuer nahm Yuri mit zu der Höhle, in der es hauste, und bat ihn dann: „Wärest du wohl so nett, in den Wald zu gehen und einen Eichenbaum für das Feuer zu holen?“ Yuri machte sich auf den Weg, fest entschlossen, seinen Trick dem Drachen nicht preiszugeben, doch seine Arme waren bei weitem nicht stark genug, um einen der mächtigen Bäume zu entwurzeln und zur Höhle zurückzuschaffen. Doch da kam ihm eine Idee: er band eine Gruppe stämmiger Eichen mit dem Tau zusammen, das der Drache ihm mitgegeben hatte. Nach einer Weile bemerkte der Drache, daß der Zigeuner noch immer nicht zurückgekehrt war. Er begab sich ebenfalls in den Wald und fand Yuri, der eifrig damit beschäftigt war, die Bäume fest aneinander zu binden. „Was um alles in der Welt machst du da?“ fragte das Reptil erstaunt. „Nun, ich dachte, ich bringe gleich all diese Bäume hier mit, dann haben wir genügend Brennholz für mehrere Tage.“ „Laß es gut sein, wir wollen ja nicht gleich den ganzen Wald fällen“, antwortete der Drache, mehr und mehr von Yuris Kräften überzeugt. „Ich werde einen Stamm nach Hause schaffen, du kannst inzwischen einen Ochsen zum Kochen besorgen. Hinter dem Haus auf dem Feld findest du eine schöne Herde. Suche einfach den feistesten aus.“ Entschlossen schritt Yuri auf das Feld zu. Nach einer Weile fand ihn der Drache dabei, wie er alle Ochsen zusammenband. „Was machst du denn nun?“ „Ich wollte gleich alle Ochsen mitbringen, dann könnten wir einen schönen Eintopf kochen.“ „Freund“, seufzte der Drache, „du hast eine seltsame Methode, die Dinge anzugehen. Ein Ochse wird schon genug sein, ich werde ihn selbst nach Hause schaffen.“ Etwas verwundert über das Verhalten seines Gastes suchte sich der Drache den feistesten Ochsen, tötete ihn, häutete ihn und begann mit dem Kochen. Die beiden Freunde taten sich an dem Mahl gütlich; mit vollem Magen war der Drache dann in einer friedlichen Stimmung und bot dem Zigeuner an, ihn nach Hause zu begleiten. „Vielen Dank“, antwortete Yuri, „doch ich hatte eigentlich daran gedacht, einige Pferde zu kaufen.“ „Mach‘ dir darum keine Sorgen. Ich besitze einen wunderschönen Hengst, den ich dir für 100 Rubel verkaufen werde.“ Yuri stimmte dem Handel zu und machte mit dem Drachen aus, ihn zu bezahlen, sobald sie zurück bei den Zigeunern wären. Da es ein langer Weg werden würde, entschloß sich der Drache, dazu Menschengestalt anzunehmen. Sie nahmen zwei Pferde aus dem Besitz des Drachen und machten sich auf die Reise. Unterwegs warnte Yuri den Freund vor seinen sechs Söhnen, die nicht nur sehr kräftig wären, sondern auch über hellseherische Fähigkeiten verfügen würden. Als sie das Lager erreichten, rannten die Söhne Yuri entgegen. Sie sahen nur den einen Hengst und begannen zu rufen: „Du hast nur einen mitgebracht!“ „Der muß für mich sein!“ rief der Älteste. „Nein, nein, ich möchte ihn haben!“ erwiderte der Kleinste. Yuri sah den Drachen an und sagte: „Diese Spitzbuben. Habe ich dir nicht gesagt, daß sie hellsehen können? Sie haben dich erkannt!“ Der Drache war entsetzt, womöglich wollten sie ihn als Spielzeug behalten oder ihn gar verspeisen. Da sie ja so stark waren wie ihr Vater, gab es wohl kaum Hoffnung auf ein Entkommen. Schnell stieg er vom Pferd ab, nahm wieder Drachengestalt an und flog in wilder Panik davon. Nie wieder dachte er daran, auch nur in die Nähe der russischen Steppen zu kommen, wo Zigeuner so stark sind, daß sie sich über Drachen streiten.