Die Prinzessin in der Drachenburg (Sigrid Früh)
Es war einmal ein König, der war groß und mächtig. Über viele Reiche und Länder herrschte er. Er hatte einen ein zigen Sohn. Als dieser herangewachsen war, zog er hinaus in die Welt, um sich eine Braut zu suchen. Aber wohin er auch reiste, nirgendwo fand der Königssohn das Mädchen, dessen Bild er in seinem Herzen trug. Endlich gelangte er auf den Gipfel eines hohen Berges. Dort stand ein Turm, und in diesem Turm wohnte ein ururalter Mann, dessen Bart bis zum Erdboden reichte. Der Alte aber war ein Sternseher, und als der Königssohn ihm gesagt hatte, daß er nach einer Braut suche, da nahm er sein Fernrohr und schaute hindurch und sprach: „Deine Braut ist eine Prinzessin, die in einer Burg von drei Drachen gefangengehalten wird. Die Burg aber steht auf einem hohen Berg inmitten einer einsamen Insel, die von Stürmen umtobt ist. Es ist schwer, dorthin zu gelangen, und es ist noch schwerer, die Drachen zu besiegen.“
Der Prinz dankte dem Weisen, schwang sich auf sein Roß, nahm sein scharfes Schwert in die Hand und vertraute auf Gott.
Als er so lange, lange Zeit in der Welt umhergeritten war, begegnete ihm eines Tages eine alte Frau, die fragte ihn, wohin er gehe. Als sie vernahm, daß er zu der Burg der drei Drachen wollte, sprach sie: „Oh, es ist schwer, mit den Drachen zu streiten. Aber wenn du mir einen Dienst erweisen willst, so will ich dir gerne helfen. Wisse, ich hatte eine Tochter, die war die schönste weit und breit. Als sie herangewachsen war, da kam ein Drache geflogen und raubte sie mir. Seitdem bin ich um die ganze Welt gewandert und habe sie gesucht. Ich habe sie bis zum heutigen Tage nicht gefunden. Suche sie mir auf deinem Wege, und ich will dir ein Döschen wunderkräftiger Salbe geben. Wenn du damit deinen Leib bestreichst, wird Kraft in dich zurückkehren, die dich verlassen hat.“
Der Jüngling dankte der Alten, versprach, nach ihrer Tochter zu suchen, und ritt weiter in die Welt hinaus. Als er so viele, viele Tage und Nächte in der Welt herumgeritten war, begegnete ihm eines Tages ein alter, gebrechlicher Mann, und der Königssohn sah, daß ihn großer Kummer plagte, und fragte ihn nach der Ursache seiner Betrübnis: „Ach“, antwortete der Alte, „siebenmal bin ich um die Welt gereist und über die Meere gezogen und habe nach dem Schatz gesucht, den mir ein Drache geraubt hatte. Doch all meine Mühe war vergebens.“ „Ich bin auf dem Wege zur Burg der drei Drachen, denn dort ist ja meine geliebte Braut. Wenn ich deinen Schatz finde, so will ich ihn dir gerne bringen.“ „Der Himmel segne dich, mein Sohn. Hier, nimm diesen Beutel mit Samen. Wenn du diese Samenkörner gegen harten Felsen wirfst, so wird er zerspringen.“ Der Königssohn dankte dem Alten, gab seinem Roß die Sporen und ritt weiter in die Welt hinaus. Er ritt und ritt, viele Tage und viele Nächte ritt er so dahin. Endlich gelangte er zum Meeresufer. Weit draußen in der Ferne sah er die felsige Dracheninsel. Traurig setzte er sich am Ufer nieder, denn wie sollte er jemals hinüberkommen? Auf einmal kam ein riesengroßer schwarzer Rabe geflogen und sprach mit menschlicher Stimme: „Wer bist du? Was willst du hier an diesem öden Strand ?“ „Ich möchte auf diese Insel dort hinübergelangen und meine Braut von dem Drachen befreien, denn sie wird ja in der Drachenburg gefangengehalten.“
„So bist du der Königssohn, auf den ich schon einundzwanzig Jahre warte. Steig auf meinen Rücken, und ich werde dich hinüberbringen.“
Der Jüngling stieg auf den Rücken des Raben, und dieser flog mit ihm schneller als der Wind durch die Lüfte. Der Weg aber war weit, und dem Vogel erlahmten die Kräfte. Der Königssohn aber nahm von seiner Salbe und bestrich den Leib des Raben damit, und siehe, dessen Kräfte kehrten wieder zurück, und er brachte ihn heil auf die Felseninsel. Der Königssohn dankte dem Vogel und kletterte an den steilen Felsen empor. Auf einreal kam ein dreiköpfiger Drache herbeigeflogen, und er spie Rauch und Feuer und Schwefel. Rasch bestrich der Prinz seinen Leib mit der wunderkräftigen Salbe, und er kämpfte mit dem Untier. Nach langem Gefecht gelang es ihm, die drei Köpfe des Drachen abzuschlagen. Voller Freude betrat er nun die Burg, und da saß in einer Kammer die Prinzessin. Sie war so wunderschön, wie der Jüngling noch nie eine gesehen hatte, und sie war schöner als ihr Bild, das er in seinem Herzen getragen hatte. Sie war voller Freude, als sie den dreiköpfigen Drachen tot am Boden liegen sah. Dann aber sprach sie: „Wir müssen auf der Hut sein, denn bald kommen die beiden andern Drachen zurück, und wenn sie dich sehen, verschlingen sie dich mit Haut und Haar!“
Kaum aber hatte sie diese Worte gesprochen, da hörte man ein Sausen und Brausen in der Luft. Ein Drache mit sechs Köpfen kam geflogen und spie Feuer, Rauch und Schwefel. Schnell bestrich der Jüngling seinen Leib mit der wunderkräftigen Salbe, und nach langem, langem Kampf gelang es ihm, dein Drachen alle sechs Köpfe abzuschlagen. Glücklich umarmte und küßte ihn die Prinzessin. Dann aber sprach sie: „Eile, verstecke dich in der Truhe. Gleich wird der dritte Drache kommen, und der ist schrecklicher als die beiden ersten.“
Kaum hatte der Königssohn den Truhendeckel über seinem Haupt geschlossen, da hörte man auch schon ein Sausen und Brausen gleich einem Erdbeben. Herein kam der dritte Drache geflogen, und er hatte neun Köpfe und spie Feuer und Flammen, Rauch und Schwefel und schrie mit gewaltiger Stimme: „Es riecht nach Menschenfleisch!“ „Nein, nur ein Rabe hat einen Menschenknochen fallen lassen“, sprach die Prinzessin.
Da setzte sich der Drache an den Tisch und fraß neun Stiere, die er vorher gefangen hatte. „Diese Nacht träumte mir, es käme ein alte Frau und fragte mich, wo ihre Tochter geblieben sei“, sagte die Prinzessin. „Das war dein Glück. Hättest du gesagt, daß du es selber bist, ich hätte dich gefressen bei lebendigem Leib.“ „Und dann träumte mir von einem Mann, der war sieben Jahre um die Welt gereist und hat doch nie mehr seinen Schatz gefunden.“
„Das war dein Glück. Hättest du ihm gesagt, daß ich es selber bin, der seinen Schatz besitzt, so hätte ich dich gefressen, ungesotten und ungebraten.“
Unterdessen hatte der Königssohn alles wohl vernommen und sich den Leib mit dem Rest der wunderkräftigen Salbe bestrichen. Er sprang mit einem Male aus der Truhe und kämpfte mit dem Drachen. Lange, lange tobte der Kampf.
Endlich aber gelang es ihm, dem Drachen alle neun Köpfe abzuschlagen. Zu Tode ermattet sank der Königssohn nieder. Da bestrich ihm die Prinzessin die Stirn mit ein wenig Drachenblut, und sogleich kehrte wieder alle Kraft in ihn zurück, und sie gingen miteinander in die Schatzhöhle. Dort aber war das Tor mit einem riesigen Felsbrocken verschlossen. Da gedachte der Jüngling seiner Samenkörner und warf sie gegen den Felsen. I)a zerbarst dieser mit gewaltigem Krachen und gab die Schatzkammern des Drachen frei, die unermeßliche Mengen Gold, Silber und kostbarer Geschmeide bargen. Sie fanden auch den Schatz des alten Mannes. Da rief der Prinz nach dem Raben und gab ihm von dem Drachenblut zu trinken, denn von der Salbe war nichts mehr übrig geblieben. Der Rabe wurde davon so stark, daß er den Prinzen und die Prinzessin samt all ihrer Schätze ans andere Ufer tragen konnte. Noch ehe die beiden ihn danken konnten, hatte er sich in die Lüfte erhoben und ward nicht mehr gesehen.
Bald aber begegneten sie dem alten Mann, und der war froh und glücklich, seine Schätze wieder zu haben. Es dauerte nicht lange, so begegnete ihnen auch die alte Frau, die Königin, die ihre lichter in die Arme schloß. Alle zogen sie dann zusammen an den Königshof, in dem der Vater des Jünglings regierte. Am selben Tage noch wurde dort die Hochzeit gefeiert. Viele Tage und viele Nächte lang feierte und jubelte das Volk, und wenn sie nicht gestorben sind, so feiern sie noch heute.
[Märchen aus Norddeutschland]