Das Prettschett (Der Doktor)
Das Prettschett
Oder: Die durchaus erträgliche Leichtigkeit des Seins
Oder: Jäger des verlorenen Prettschetts
Oder: Drachen sind auch nur Menschen
Oder: Das drachige Dekadent
Oder…okay okay, ich fang ja schon an.
Es ist allgemein bekannt, dass Drachen einen schrecklichen Mundgeruch haben.
Doch…woher ist es bekannt?
Die allermeisten Menschen, die den Mundgeruch der Drachen aus nächster Nähe erleben konnten, durften danach sogar sein Innenleben betrachten – vorausgesetzt, sie hatten eine Lampe dabei. Außerdem beschränkte sich diese Betrachtung nur auf einen geringen Teil des Verdauungstraktes.
Der Rest der Menschheit konnte ja nicht wissen, ob Drachen beispielsweise explizite Zahnpflege betrieben – denen kann man ja schließlich alles zutrauen…
Also, warum konnten die Menschen so sicher sein?
Diejenigen, die eine Begegnung der draconischen Art überlebt hatten, reichten kaum aus, um diese Information über den gesamten Globus zu verbreiten – und außerdem, wer spricht schon über den Mundgeruch eines Drachen?
Fakt ist, das Wissen um diese Information war fest in den Köpfen der Menschen verankert.
Fakt ist, Drachen haben einen schrecklichen Mundgeruch.
Und das wirft die nächste Frage auf: Was war zuerst da? Der Mundgeruch oder das Wissen darum?
Und das wirft die Frage auf: Formt die Realität das Wissen oder formt das Wissen die Realität?
Smahug kümmerte sich nicht um solche pseudo-philosophischen Fragen.
Er wartete.
Sein golden geschuppter Körper räkelte sich auf dem hoch gelegenen Plateau des Versammlungsplatzes und glitzerte dabei im Licht der ersten Sonnenstrahlen.
Unvorsichtige hätten ihn für einen gigantischen Schatzhaufen halten können – sie hätten sehr bald herausgefunden, dass die allerwenigsten Schatzhaufen große, grüne Augen haben…
Und einen riesigen Kopf…
Und zwei große Flügel…
Und scharfe Zähne und Klauen…
Und schrecklichen Mundgeruch…
Er wartete auf die anderen.
Sie kamen im Laufe des Vormittags:
Adorelon, der Silberne.
Neidhöcker, der Bronzene – wenn er nicht gerade mal wieder mit Droca verwechselt wurde.
Droca, der Kupferne…oder doch der Bronzene?
Vasdendas, der Messingfarbene.
Morkulebus, der Schwarze, der aus den finsteren Sümpfen des schwarzen Todes kam, die noch nie von einem Menschen lebendig wieder verlassen wurden.
Er wurde von allen immer nur Morki genannt.
Glaureng, der Grüne.
Tjamat, der Blaue.
Schneeweißchen, die Weiße – ja, sie war der einzige weibliche Drache im Rat. Und ja, sie hatte wirklich so einen dämlichen Namen.
Und Kalessan, der Rote.
Kalessan war einem sofort sympathisch, wenn man ihn das erste Mal traf. Denn man wollte unter keinen Umständen zulassen, dass er unsympathisch wurde. Leider reichte bloßes Menschsein schon aus, um ihn sehr unsympathisch werden zu lassen…
"Es ist ungemein praktisch, ein Drache zu sein!", hatte er einmal gesagt, "Du musst dich gar nicht mehr um die Nahrungsbeschaffung kümmern, nein, die Nahrung kommt zu dir…und meistens bringt sie noch tolle Dinge zum Sammeln und Tauschen mit…"
Deswegen war es ihm auch ein besonderes Greuel, seinen geliebten Hort verlassen zu müssen – und darum war er auch der einzige, der nicht im Laufe dieses Vormittags, sondern des nächsten erschien. Den anderen machte das nicht viel aus, sie waren sein Verhalten schon gewohnt – und wenigstens konnten sie derweil die neuesten Nachrichten, Geschichten und praktische Tips zur effektiven Sklavenhaltung austauschen.
Kalessan landete auf seiner Plattform, während die anderen ebenfalls ihre Plätze einnahmen – Smahug dabei, wie es die Tradition verlangte, in der Mitte des Felsplateaus.
Eigentlich waren es mehrere Plattformen: Eine große in der Mitte und zehn weitere, die kreisförmig um sie herum angeordnet waren. Die Drachen hatten keine Ahnung, wer dieses Bergplateau mitten im Gebirge erschaffen hatte. Aber weil sich Unwissenheit seitens der Mächtigen in der Öffentlichkeit niemals gut macht, wurde schnell eine schöne Geschichte erfunden. Nun hieß es offiziell, dass der allererste Rat der Drachen diesen Platz mittels mächtiger Magie aus dem höchsten Berg des Landes heraus gebrochen hatte, um dort in Zukunft seine Versammlungen abzuhalten, die fortan die Geschicke der Welt lenken sollten.
Solche Geschichten machen sich immer gut…
Jeder Drache saß nun auf seiner Plattform. Und sie saßen auch nur, weil nicht genug Platz war, um sich hinzulegen.
Der Rat der Drachen tagte einmal mehr. Und sein Vorsitzender, Smahug, erhob nun die Stimme:
"Schön, dass du es auch für nötig befindest, hier aufzutauchen, Kalessan!"
"Sei froh, dass ich überhaupt gekommen bin! Ich habe nämlich keine große Lust, wieder so einer sinnlosen Sitzung wie letztes Mal beizuwohnen!", erwiderte der rote Drache, was alle anderen zu Gekicher veranlasste – alle, außer Smahug.
"Nein, diesmal ist das Anliegen, weswegen ich euch zusammen gerufen habe, ein äußerst wichtiges!", antwortete dieser.
"Das hast du letztes Mal auch gesagt, als dein Lieblingsschmuckstück verschwunden war, wir deine gesamte Höhle danach abgesucht haben und es schließlich in deinem Ar…"
"Ja ja ja, das war sehr lustig damals, nicht wahr? Ha. Ha. Ha.", unterbrach ihn Smahug schleunigst, "Nein, diesmal ist es wirklich wichtig! Ich denke mal, ihr wisst alle, wo die Menschenstadt "Neudorf" liegt?"
Die meisten Drachen nickten.
"Gut, wir werden der Stadt heute einen kleinen Besuch abstatten. Und, um es gleich hinzuzufügen, wir werden die Stadt nicht zerstören oder sonst irgendwie beschädigen!", sagte Smahug mit einem Seitenblick auf Kalessan.
Ein teils erstauntes, teils erfreutes, teils enttäuschtes Murmeln ertönte aus den Reihen der restlichen Drachen.
Glaureng fragte: "Das wird doch nicht wieder so eine Wohltätigkeitsveranstaltung für Menschen, oder? Das wäre ja noch schlimmer als die Aktion vom letzten Mal!"
Wieder brach Gelächter aus.
Smahug unterbrach die Menge mit einem lauten Brüllen:
"Nein, das wird weder eine Zerstörungsorgie, noch eine Wohltätigkeitsfahrt. Und ich wäre sehr erfreut, wenn ihr mich nicht alle immer wieder an das kleine Missgeschick unserer letzten Zusammenkunft erinnern würdet, danke! Nein, wir werden uns tarnen und mit einem gewissen Menschen in dieser Stadt mal ein paar Worte wechseln. Droca hier…", er deutete mit einem Kopfnicken auf den Kupferdrachen.
"Ich bin Droca!", sagte der Drache, der auf der Plattform nebenan saß, "Das da ist Neidhöcker."
"Warum sitzt ihr eigentlich nebeneinander?", fragte Tjamat, "Man kann euch ja wirklich kaum auseinander halten!"
"Ihr könnt das seit den 450 Jahren die wir schon nebeneinander sitzen nicht – aber ihr habt euch nie darüber beschwert!", erwiderte Neidhöcker.
"Dann tue ich es halt jetzt!"
"Hättest du das nicht früher machen können? Ich habe mich schon so sehr an den Platz hier gewöhnt! Außerdem bist du ja nur neidisch, weil meine Plattform ein bisschen größer…"
"WENN ICH WOHL WIEder auf unser eigentliches Thema zurückkommen könnte?", rief Smahug dazwischen, worauf der Streit zwischen den beiden fürs erste verstummte.
"Also, Droca hat mir berichtet, dass ein Magier namens Saurudalf die Regentschaft über Neudorf übernommen hat. Dieser Magier verkündete, dass er sämtliche Drachen im Umkreis von Neudorf vernichten wolle – etwas, was wir natürlich nicht zulassen können!"
"Ich wusste, dass ich nicht hätte kommen dürfen!", stöhnte Kalessan, "Wozu brauchst du da uns alle? Warum kann Droca ihm nicht alleine einen kleinen Besuch abstatten und ihm den Kopf abbeißen? Hast du etwa Angst, er könnte dir weh tun, Droca?"
"Es wäre sehr nett, wenn du mich ausreden lassen würdest, Kalessan! Dieser Saurudalf hat nämlich laut Drocas Bericht irgendeine Maschine oder ein Artefakt geschaffen – extra zur Vernichtung von Drachen! Ich bin der Meinung, wir sollten uns dieses Artefakt im Rahmen einer kleinen Weiterbildung alle einmal ansehen – und diesem Saurudalf nebenbei noch eine kleine Lektion erteilen."
Als Smahug Kalessans interessierte Seitenblicke vernahm, fügte er hinzu: "Und wir werden ihn nur töten, wenn es sich wirklich absolut nicht vermeiden lässt!"
Irgendetwas in Kalessans Blick sagte ihm jedoch, dass Kalessan schon dafür sorgen würde, dass es sich nicht vermeiden lassen würde…
Die Reise verlief relativ schnell, gegen Nachmittag erreichten die zehn Drachen die Umgebung um Neudorf.
Aufgrund des Namens könnte man vielleicht vermuten, dass es sich nur um eine kleine Ansammlung von Hütten handelte, die mitten im Freien herumstanden und auch nur deswegen als "Dorf" bezeichnet wurden, weil der Abstand zwischen zweien von ihnen weniger als einen Kilometer betrug…
Nein, in Wahrheit handelte es sich um eine der größten Städte des Reiches, mit einer Einwohnerzahl von ungefähr 40.000 Wesen.
Bei der Namenswahl der Stadt war man halt anscheinend ein wenig…uninspiriert gewesen.
Droca, der der Stadt am nächsten wohnte, führte die Drachen zu einem nahe gelegenen Wald, in dem eine Lichtung lag, die groß genug war, um zumindest einem von ihnen Platz zu geben.
Da Glaureng als einziger mehr einem riesigen gefüllten Schleimbeutel als einer geflügelten Echse glich, musste er mit Hilfe von Magie fliegen, was ihn über längere Strecken nicht gerade wenig Kraft kostete. Darum landete er als Erster auf der Lichtung und verschnaufte ein wenig. Das prägte der Lichtung zwar schon Glaurengs charakteristischen Gestank auf und ließ bereits nach kurzer Zeit die ersten Blumen absterben, die restlichen Mitglieder waren diesen sehr speziellen Duft aber glücklicherweise bereits gewohnt. Während ihr Kollege sich noch ausruhte, kreisten die anderen Drachen weit über den Wolken, die über der Lichtung hingen und entzogen sich so eventuellen neugierigen Blicken. Dabei setzte sich eine der unterbrochenen Unterhaltungen vom Vormittag auf mentalem Wege fort.
Tjamat wandte sich – natürlich erst, nachdem er nachgefragt hatte – an Neidhöcker, den Bronzedrachen: "Sag mal, warum gibt es überhaupt eine Unterteilung zwischen Kupfer- und Bronzedrachen? Ich meine, Droca und du, ihr ähnelt euch beide wie ein Ei dem anderen! Ich wette, wenn man einen Schlüpfling von dir und ihm vertauscht, würde keiner von euch etwas merken."
"Pass mal auf, mein lieber, blauer Freund: Ich würde auch aus Tausenden von Kupferdrachenschlüpflingen einen Bronzedrachen herausfinden. Es gibt nämlich gravierende Unterschiede zwischen unseren beiden Rassen!"
"Als da wären…?"
"Nun…zum Beispiel leben Kupferdrachen in ländlichen Gegenden wie dieser hier, während wir Bronzedrachen schöne, felsige Küstenregionen bevorzugen."
"Und daran könntest du die Kleinen unterscheiden, aha… Weißt du was? Ich glaube, diese Einteilung ist nur vorgenommen worden, weil die zehn Plätze die sie da oben auf dem Versammlungsplatz vorgefunden hatten alle gefüllt werden mussten…"
"Da hätte man euch Blaue auch weglassen können und uns dafür dreimal unterteilen können!"
Bevor Tjamat zu einer scharfen Gegenantwort ansetzen konnte, übermittelte ihnen Smahug folgendes: "Glaureng ist fertig da unten. Du bist dran, Tjamat!"
"Wir sprechen uns noch, Höcki!", sagte Tjamat mit einem Knurren und drehte dann ab, um spiralförmig abzusteigen.
So ging es dann immer weiter. Wenn einer der Drachen fertig war, übermittelte er den oben fliegenden Kollegen eine entsprechende Botschaft und der nächste war dran. Smahug war der letzte, der absteigen sollte. Er schraubte sich tiefer und tiefer, bis er die Wolkendecke durchbrach und die Lichtung sichten konnte. Mit angelegten Flügeln legte er einen schnellen Sturzflug nach unten hin und breitete sie kurz vor dem Aufprall wieder aus, was seinen Flug rapide abbremste.
Jedem normalen Wesen von diesem Gewicht und dieser Geschwindigkeit hätte es die Flügel kurzerhand ausgerissen und den Flug kein bisschen gebremst, aber, wie Kalessan bereits sagte, es ist wirklich ungemein praktisch, Drache zu sein – man muss sich um keinerlei physikalische Gesetze mehr kümmern. Wozu gibt es denn Magie?
Smahug drehte der Physik eine lange Nase und landete sanft wie eine Feder auf der großen Lichtung, die für seine stattliche Größe von 50 Metern schon fast wieder zu klein war. Er faltete seine Schwingen zusammen und begann, sich zu konzentrieren und damit die Verwandlung einzuleiten. Wären jetzt Menschen dabei gewesen, hätte Smahug wahrscheinlich eine optisch beeindruckende Schau mit viel Blitz und Rauch vorgelegt – Menschen brauchten so etwas. Da dem aber nicht so war, verschwand der Drache einfach und statt dessen stand an seiner Stelle ein älterer Mann mit weißen Vollbart, langen, ebenfalls weißen Haaren und einer goldfarbenen Robe. Das Assoziationsvermögen eines jeden Menschen würde bei seinem Anblick sofort "Magier" schreien…
Er sah zum Rand der Lichtung. Neun andere Menschen bewegten sich auf ihn zu. Und jeder von ihnen trug eine Robe von einer anderen Farbe.
Alles in allem sah es aus, als wären die Farben aus dem Malkasten eines Grundschülers herausgesprungen und hätten menschliche Gestalt angenommen. Farben hätten sich jedoch wahrscheinlich unauffälliger gekleidet als die Drachen es taten…
Smahug ließ seinen Blick nochmals über die Gruppe schweifen. Vor ihm standen sieben menschliche Männer und zwei Frauen. Es war also alles in Ordnung, alle waren anwesend. Er wollte gerade den Arm in Richtung Neudorf heben und einen Standardspruch á la "Na dann, lasst uns diesem Magier mal zeigen, wer hier der Boss ist!" loslassen, stockte aber. Sieben Männer und zwei Frauen?
Smahug sah sie sich nochmals an. Die eine Frau trug ein weißes Gewand – das musste Schneeweißchen sein… Die andere war blau bekleidet.
"Tjamat, ich denke, ich kann sagen, dass ich mich mit Menschen ganz gut auskenne…und du hast dich versehentlich in eine menschliche Frau verwandelt!"
Tjamats sehr männliche Stimme antwortete ihm: "Wieso ‚versehentlich‘? Sehe ich etwa nicht gut aus?"
Die anderen neun starrten sie…ihn nur an.
"Was ist? Ist irgendwas nicht in Ordnung?", fragte der verwirrte Tjamat.
"Du verwandelst dich in eine menschliche Frau und behältst deine männliche Drachenstimme bei?", fragte Adorelon ungläubig.
"Was dagegen? Wir gehen doch nur da rein, regeln unsere Angelegenheit mit diesem Saurudalf und gehen dann wieder raus oder? Ich werde schon nicht mit jedem zweiten Menschen in dieser Stadt reden…und selbst wenn, was soll uns schon groß passieren?"
Smahug schüttelte den Kopf und seufzte: "Ja, gut, du hast Recht. Es wird nicht lange dauern. Rein und wieder raus, nichts besonderes, ein Kinderspiel für uns, ja… Also, verschwenden wir nicht weiter unsere Zeit mit dieser Angelegenheit sondern ziehen endlich los – hat noch jemand von euch Fragen?"
Er schaute fragend in die Runde – die anderen schauten fragend zurück.
Smahug hob den Arm in Richtung Neudorf und sprach: "Na dann, lasst uns diesem Magier mal zeigen, wer hier der Boss ist!"
Eine derartige Gruppe hätte beim Passieren des großen Stadttores eigentlich auffallen müssen. Doch die Bewohner und damit auch die Torwächter der Stadt waren solcherlei Gefolge schon gewohnt – wenn eine der größten Magierakademien des Reiches mitten in der Stadt steht, ist man so einiges gewohnt…
Die Häuserwände türmten sich rechts und links hoch auf. Zwischen ihnen lag ein gewaltiger Strom aus Menschen, Handelskarren und anderen sich bewegenden Dingen, unter ihnen die zehn Drachen des Rates, die wie ein großer Regenbogenfisch durch das Gedränge schwammen.
Die breite Straße – wahrscheinlich hieß sie auch "Breite Straße" – führte direkt auf den großen Marktplatz der Stadt, der sehr bekannt für…seine Größe war.
Von hier aus zweigten etliche Dutzend große und kleine Straßen in sämtliche Himmelsrichtungen ab, jedoch keine davon so auffällig breit und dicht befahren wie der Weg, auf dem sie in die Stadt gekommen waren.
"So, und wo geht es nun zum…", wollte sich Smahug an Droca wenden, stockte aber einmal mehr. Die zwei Menschen in rotbraunem Gewand, die vor ihm standen, waren für einen Drachen kaum zu unterscheiden. Denn was ist zwischen zwei Menschen schon groß anders? Manchmal ist das Fell auf dem Kopf länger, mal kürzer, mal in der einen Farbe, mal in einer anderen – sehr viel mehr Unterschiede, von weiteren auffälligen Merkmalen wie Größe oder Statur mal abgesehen, konnten Drachen an Menschen nicht ausmachen…oder hatten keine Lust dazu.
Einer von den beiden antwortete auf die abgebrochene Frage: "Folgt mir einfach, ich kenne den Weg zum…", wurde aber seinerseits unterbrochen. Und zwar von einer Menschenfrau, die gerade vorbei lief, dann aber stehen blieb, um den Drachen näher zu betrachten:
"Verzeiht…seid ihr nicht Droca, der Schauspieler?"
"Ähm, nun ja…", antwortete dieser und begann, recht nervös nach rechts und links zu blicken.
"Oh, ich habe das Stück gesehen. Es war großartig! Ihr habt mit solcher Hingabe gespielt, mit solcher Emotion, mit solchem Talent! Eure Verkörperung des Newob hatte so viel Tiefe, so viel Kraft, so viel Liebe…", ergoss sich der Redeschwall der Frau über den Drachen, in dessen Blick jetzt eine Spur von Panik lag, während ihn seine Kollegen nur mit offenen Mündern anstarrten.
Irgendwie gelang es Droca, sich selbst zu überwinden und ein paar Worte hervorzustammeln: "Gute Frau, ich weiß nicht, wovon…"
Die Frau schien ihn nicht zu hören. Sie brach ihren Redeschwall zwar ab, aber nur um einer Gruppe anderer Frauen in der Nähe zuzuwinken und laut zu schreien: "Trixi, Daisy, Peggy, kommt her, seht mal, wen ich gefunden habe! Es ist Droca! Der Droca!"
Die drei angesprochenen Frauen sahen auf, kreischten laut und rannten auf den Drachen zu. Anscheinend waren diese vier aber nicht die einzigen, die den Drachen zu kennen schienen, denn nun erschollen weitere laute Rufe und immer mehr Menschen kamen heran, um ein Auge auf den Drachen werfen zu können. Es entstand ein riesiges Gedränge um die Drachengruppe, mit Droca in ihrem Mittelpunkt. Die Leute schrien Dinge wie "Nur ein Stück von seinem Gewand!", "Eine Locke seiner prächtigen Haare!" oder "Oh bitte, lasst mir auch was von ihm übrig!" und die Menschen begannen an ihm zu ziehen und zu zerren.
Auf einmal blitzte ein helles rotes Licht auf, welches den Marktplatz für den Bruchteil einer Sekunde im Licht der nachmittäglichen Sonne noch einmal extra erhellte.
Stille.
Eine große Masse an Menschenaugen starrte sie ausdruckslos an.
Smahug steckte den kleinen Stock mit dem rötlich glühenden Punkt am Ende wieder in eine Tasche seiner Robe.
"Was glotzt ihr alle so? Haut endlich ab! Hier gibt es nichts zu sehen! Los, geht weiter euren Geschäften nach!", rief er laut.
Gemurmel und Bewegung entstand wieder und die Menschen kehrten zu ihren vorherigen Aktivitäten zurück.
"Was…was war das?", fragte Droca.
"Eine kleine Spielerei, hab ich mal vom Elfenkönig Emballasilvarandarlessadar dem MCXXIX. bekommen. Es stimuliert die Nervensynapsen des menschlichen Großhirns und löscht so ihr Kurz…"
Smahug bemerkte die Verständnislosigkeit in Drocas Augen.
"Ach, vergiss es! Sag du mir lieber, was das hier gerade war! Wie hat sie dich nochmal bezeichnet? Als Schaumspüler?"
"Schauspieler. Ähm, wisst ihr, die Menschen haben hier eine Tradition namens ‚Theater‘. Ich habe da mal mitgemacht. Eine Gruppe von Menschen, die Schauspieler, tun so, als wären sie jemand anders und erzählen so auf der Theaterbühne eine Geschichte. Und viele andere Menschen schauen dabei zu."
"Und was hat das Ganze für einen Sinn?", fragte Morkulebus.
"Nun, es ist ein…direkteres und anschaulicheres Mittel, um Geschichten glaubwürdig erzählen zu können, würde ich sagen."
"Und was für eine Geschichte habt ihr da erzählt?", fragte Adorelon.
"Oh, ich kann euch sagen, dass war eine ganz fantastische Geschichte! Es ging um einen Drachentöter, der sich mit dem letzten Drachen zusammenschließt, um einen bösen König zu bekämpfen."
"Und du hast dich vor all den Menschen in deiner wahren Gestalt gezeigt?", fragte Vasdendas.
"Neinneinnein, ich habe den Drachentöter gespielt. Der Drache war ein großes Gerüst auf Rädern – sah zwar nicht unbedingt wie ein Drache aus, aber die Phantasie musste sich den Rest einfach nur dazu denken, dann wirkte es gar nicht mal so schlecht. Ich sage euch, die Menschen waren hin und weg von dem Stück!"
"Das ist ja sehr erfreulich für dich, lieber Droca! Schön, dass du den Ruf unserer Rasse so in den Dreck ziehst. Schön, dass du so bekannt bist und so viel Aufmerksamkeit auf dich ziehst. Schön, dass du unsere gesamte Aktion hier gefährdest!", rief Smahug.
"Ach komm schon, reg dich ab – was soll uns hier bitteschön passieren?"
Bevor Smahug zu einer Gegenantwort ansetzen konnte, schob sich Kalessan dazwischen: "Uns kann hier gar nichts passieren. Aber unser Anführer hier hat Angst, dass arme, unschuldige Menschen zu Schaden kommen könnten, wenn etwas schiefgeht – ist es nicht so, oh großer, weiser Anführer?"
Smahug starrte ihn nur wütend an.
Dann antwortete er endlich: "Das Thema haben wir schon so oft durchgekaut, Kalessan! Diesen Disput verschieben wir auf später, ja? Ich möchte erstmal die Angelegenheit in dieser Stadt bereinigen, ja? Also, Droca, wo lang geht es denn jetzt zu diesem…Rathaus?"
"Folgt mir einfach!"
Nachdem sich durch einige weitere größere Straßen durchgearbeitet hatten, kamen sie auf einen kleineren Platz. Nur ein einzelner, kleiner und noch dazu ziemlich dreckiger Springbrunnen zierte die Fläche. Neben den üblichen Häusern und Geschäften war der Rand des Platzes noch von einem großen, prächtig verzierten Fachwerkhaus gesäumt, welches seine Nachbarn von der Ästhetik her in den Schatten tiefster und vollkommenster Hässlichkeit stellte.
"Sieht so aus, als wären wir am Ziel. Warum müssen die Mächtigen unter den Menschen ihre Potenz eigentlich immer in solchen Prunkbauten ausdrücken? Wenn sie das Geld schon ausgeben müssen, können sie das auch für nützlichere Zwecke machen…", sagte Smahug.
"Ähm, das ist die örtliche Taverne und nicht das Rathaus…", erwiderte Droca.
"Die örtliche…was?", antwortete Smahug ungläubig, "Warum hat eine Taverne bitteschön eine so teure Aufmachung? Ist das etwa die einzige Taverne in der Stadt? Dann könnte ich es ja verstehen…"
"Neinnein, der ‚Rumstehende Esel‘ ist bei weitem nicht das einzige Gasthaus hier. Nur Wirt Brennessel ist der einzige, der es irgendwie geschafft hat, eine Versicherung für Einrichtungsschäden zu ergattern…"
"Eine was?"
Droca suchte nach Worten und wedelte dabei suchend mit den Armen in der Luft: "Ähm…das ist, wenn…wenn…wenn du…nein…ähm, pass auf, das funktioniert so: Wenn jemand dein…ähm…dein Eigentum beschädigt und du…und du so eine Versicherung…ähm…äh…ach, vergiss es!"
"Also, wo ist jetzt das verdammte Rathaus?", fragte der langsam ungeduldig werdende Kalessan.
"Da drüben!"
"Das Haus sieht aber aus wie alle anderen!", sagte Vasdendas enttäuscht.
"Die Stadt hat halt nicht viel Geld – selbst du dürftest mehr in deinem Hort haben, als die hier in ihrer Stadtkasse, Vas.", entgegnete der Kupferdrachen.
"Da scheint es ja wirklich schlimm um die Stadt zu stehen. Was haben die denn gemacht, um sich so groß zu verschulden?", fragte Neidhöcker.
"Ich bin nicht verschuldet!", sagte Vasdendas.
"Keine Ahnung! Gestern war die Kasse noch voll und nichts deutet auf eine finanzielle Katastrophe hin und am nächsten Tag liegt in der Schatzkammer nur noch ein Schuldschein mit einem riesigen Betrag drauf – beeindruckend, wie menschliche Politiker das so hinbekommen…", erklärte Droca.
"Ich bin nicht verschuldet!", sagte Vasdendas.
Kalessan schnaubte verächtlich: "Typisch Menschen, die können weder mit sich selbst, noch mit Geld richtig umgehen – und sowas favorisierst du, Sma…"
Kalessan stockte.
Smahug stand mit geschlossenen Augen da. Er atmete ruhig ein und aus. Ein Zeichen, dass die anderen Drachen sofort zu deuten wussten. Als er die Augen wieder aufmachte, sah Smahug, wie sie in voller Bereitschaft an der Tür des Rathauses standen und ihn halb ängstlich, halb erwartungsvoll betrachteten. Er ging auf sie zu und sagte kühl: "Gut. Keine Unterhaltungen mehr. Keine Plaudereien. Keine Diskussionen. Kein Blödsinn. Wir gehen jetzt da rein. Ich werde reden. Niemand sonst. Verstanden?"
Neun Köpfe bewegten sich simultan auf und ab, erleichert darüber, den Wutausbruch abgewendet zu haben.
Smahug öffnete die Tür.
"Ah, Hallo! Mister Saurudalf hat euch bereits erwartet. Bitte setzt euch doch kurz, ich sage ihm dann gleich Bescheid, ja?", ertönte eine näselnde Frauenstimme, welche Smahug den Schwung seines Auftretens nahm und ihn verblüfft im Raum stehen ließ.
Das Zimmer war klein und stickig. Die Wände waren grau gestrichen und die Einrichtung bestand aus einer von Holzwürmern durchlöcherten Tür gegenüber des Eingangs, einem von Holzwürmern durchlöcherten Tisch auf dem zahlreiche Papierstapel und ein Tintenfass standen und einem von Leinenwürmern durchlöcherten Bild an der Wand dahinter, welches einen Ritter zeigte, der gerade einen kleinen Drachen mit einer Lanze aufspießte.
Hinter dem Tisch saß ein Skelett. Nein, bei näherem Hinsehen handelte es sich tatsächlich um eine lebendige, wenn auch schon recht alte Frau. Sie hatte nur einen Hüftumfang, der ein jedes der gängigen Topmodels wie eine Tonne auf Beinen aussehen lassen würde.
Smahug fing sich langsam wieder: "Was…habt ihr gerade gesagt?"
"Ich sagte, ihr sollt euch kurz setzen, während ich Saurudalf…"
"NIEMAND…sagt MIR…was ICH zu tun habe!", schrie Smahug sie mit vor Zorn weit geöffneten Augen, die fast aus dem Kopf quollen, an. Dann schritt er auf die Tür zu und öffnete sie mit einem entschlossenen Tritt, was zur Folge hatte, dass sie laut krachte und mehrere Meter weit in den nächsten Raum hinein flog.
Smahug blieb abermals stehen, während die anderen Drachen aufrückten und ihm den Rücken sicherten – zumindest würden sie ihre Aktion so bezeichnen.
Vor ihnen tat sich eine Halle auf. Sie war nicht sehr groß – Kalessan, der mit über zwei Metern der Größte von ihnen war, musste nur den Arm ausstrecken, um die Decke zu berühren – aber das machte sie in ihrer mehrere Dutzend Meter messenden Länge wieder wett. Ein breiter, roter Teppich erstreckte sich über die gesamte Halle. Rechts und links neben ihm standen zwei ebenso lange und diesmal seltsamerweise nicht von Holzwürmern durchlöcherte Tische. Der Teppich endete an einem roten Sessel – und auf diesem Sessel saß ein junger Mann. Er hatte die Beine übereinander geschlagen und las in einem großen Buch, welches auf seinem Schoß lag. Er war ebenfalls mit einer Robe bekleidet, wäre in einer Menschenmenge aber wohl kaum so aufgefallen wie der Rat.
Er sah auf: "Cassandra, habe ich nicht gesagt, dass ich nicht gestört werden…möchte…aahh, ich verstehe, ihr seid es!"
"Ja, wir sind es – und wer zur Hölle seid ihr?", entgegnete der bereits sehr aufgebrachte Smahug.
"Erlaubt mir, mich vorzustellen…", setzte der Mann an.
"Ich habe es euch befohlen, nicht erlaubt!", schrie Smahug ihn an.
Damit hatte er ihn ein wenig aus dem Konzept gebracht, denn der Mensch schaute jetzt nervös hin und her und leckte sich mit der Zunge über die Lippen. Bevor er jedoch weiterreden konnte, ertönte wieder die Stimme der alten Frau neben ihnen: "Es tut mir leid, Mister Saurudalf, aber diese Herren haben sich einfach vorgedrängelt, bevor ich etwas unternehmen konnte!"
"Ähm, schon gut Cassandra, bitte…nehmen sie sich den Rest des Tages frei, ich denke, ich brauche sie heute nicht mehr!"
"Aber die Akten müssen noch…"
"Bitte gehen sie jetzt!", sagte Saurudalf mit leicht erhobener Stimme.
"Ja, Mister!", ertönte die leise Antwort. Danach war die Frau verschwunden und die Tür wurde zugeschlagen.
"Ihr seid also Saurudalf? Gut, dann seid ihr auch der, den wir suchen…aber anscheinend wurden wir auch schon erwartet?", meldete sich jetzt Smahug wieder zu Wort.
"Oh, äh…ihr gehört doch zu der Abenteurergruppe, die die Handelskarawane aus Kleinstadt begleitet hat oder?", kam die Antwort.
"Nein, sind wir nicht. Wir kommen wegen einer anderen Angelegenheit. Wir haben gehört, ihr habt eine Abneigung gegen Drachen?"
"Oh, diese schrecklichen, hässlichen, stinkenden, brutalen, fliegenden Monster? Ich hätte da einen Auftrag für eure Gruppe, der sich mit diesen höllischen Kreaturen befasst. Ihr müsst nur meine neuste Kreation mitnehmen, die Drachen suchen und könnt ihnen dann im Handumdrehen den Garaus machen. Das ist garantiert völlig ungefährlich und macht eine Menge Spaß! Außerdem springt noch ein wenig was dabei für euch heraus…"
Bevor einer der Drachen aufbrausen konnte, hob Smahug schnell beschwichtigend die Hand und antwortete: "Ähm…das hört sich…sehr gut an. Zeigt uns doch mal eure ‚Kreation‘. Würdet ihr das für uns tun?"
"Oh, aber natürlich – seht her!", sagte Saurudalf und streckte die Hand nach einem kleinen Tisch aus, der neben seinem Sessel stand. Auf ihm stand irgend etwas, aber es war von einem dicken blauen Samttuch bedeckt, sodass man nur einen vagen Schemen von dem Objekt ausmachen konnte. Saurudalf packte die Samtdecke und zog sie weg. Was zum Vorschein kam, war eher unspektakulär: Das Objekt sah aus, wie eine stinknormale und nicht einmal besonders große Kristallkugel, die vielleicht für einen Jahrmarktswahrsager gerade mal gut genug gewesen wäre.
Saurudalf schaute seine Schöpfung stolz an und sprach: "Ich nenne es…" – er machte eine dramatische Pause – "…das Prettschett!"
"Das Prettschett!", echoten einige der Drachen.
Smahug drehte sich um und starrte sie kurz an – dann wendete er sich wieder Saurudalf zu.
"Und das da soll eure großartige Drachenvernichtungsmaschine sein? Alleine die Erscheinung dieses Objekts ist nicht sehr eindrucksvoll – musstet ihr diesem armen Ding auch noch so einen bescheuerten Namen geben?", sagte er mit unterdrücktem Lachen.
"Sagt mir ja nichts gegen den Namen! Ich habe es nach meinem armen, verstorbenen Terrier benannt, der vor einem Jahr ermordet wurde…verschlungen…von einem Drachen!", antwortete Saurudalf mit einer Stimme, die von Trauer und Hass nur so strotzte.
Jetzt meldete sich Kalessan zu Wort: "Ihr habt dieses Ding nach eurem verstorbenen Terrier Prettschett benannt? Was ist denn das für ein bescheuerter Name für einen Terrier? Der Terrier Prettschett…pah, ich glaub’s nicht!"
"Der Name ist nicht bescheuert. Außerdem hieß er Prett-Schett und nicht Prettschett!", erwiderte Saurudalf trotzig.
"Und wo ist da bitteschön der Unterschied?"
"In der Schreibweise!"
Kalessan schloss die Augen und war jetzt seinerseits dran, ruhig ein- und auszuatmen. Dann sagte er resigniert: "Gut…in Ordnung…das wird mir hier langsam zu bunt, mein lieber Anführer. Wir verschwenden hier nur unsere Zeit – und das sage ich dir als Drache, der sich nun wirklich nicht über einen Mangel an selbiger beklagen kann!"
"Nein Kalessan, wir werden jetzt versuchen, alles über dieses…dieses Prettschett dort herauszubekommen. Und ich werde erst gehen, wenn das Ding da zerstört ist!", entgegnete ihm Smahug.
Kalessan sah auf.
"Oh? Na, wenn’s weiter nichts ist…", sagte er und richtete einen Finger auf die Kugel. Ein roter Feuerblitz schoss auf das Objekt zu – und verschwand darin.
Eine Sekunde später begann sie innerlich in einem unheimlichen, blauen Licht zu glühen.
Saurudalf schaute seine Schöpfung kurz an, richtete sich dann wieder an die Drachen und sagte: "Das Prettschett ist nicht direkt eine Drachenvernichtungsmaschine, wie ihr es so schön zu sagen pflegtet, meine lieben Echsen. Es ist mehr…ein Gefäß, ein Behältnis für einen ganz besonderen Inhalt. Ihr möchtet mehr über seine Funktionsweise erfahren, werter Smahug? Es wird durch Drachenmagie aktiviert. Und es absorbiert genau diese Form der Magie aus einem weiten Umkreis, der euch zehn hier ganz sicher mit einschließt. Jetzt, in diesem Moment, in dieser Sekunde, wird euch gerade der Grundstein eurer Macht genommen: Eure Magie! Und was sind Drachen ohne Magie, die dazu noch in unbewaffneten Menschenkörpern stecken? Wehrlos…absolut wehrlos! Insofern hattet ihr mit eurer Betitelung als Drachenvernichtungsmaschine schon in gewisser Weise Recht…"
Während er sprach, gewann das blaue Licht im Innern der Kristallkugel an Intensität und strahlte bald fast so hell wie eine künstliche Sonne.
Kalessan starrte das Ding nur ungläubig an und lachte dann auf: "Und den Mist sollen wir euch glauben, Menschling? So etwas Dreistes habe ich wirklich noch nie gesehen! Du vielleicht Smahug? Smahug?"
Smahug stand wie erstarrt neben ihm. Er war kalkweiß im Gesicht.
"Ich…fühle mich…so leer…", stöhnte er.
Als Kalessan sich umdrehte, sah er in den meisten Gesichtern der anderen Drachen den gleichen, bleichen Ausdruck.
Als Magier war er bei weitem nicht so gut wie einige der anderen aus dem Rat – aber es reichte immer noch aus, um den ein oder anderen nervenden Menschen auch mal aus der Entfernung zu beseitigen…oder anscheinend, um ein Prettschett zu aktivieren…
Doch auch er spürte es – beziehungsweise, er spürte es nicht mehr. Es war, als ob ein Körperteil fehlen würde – mit dem Unterschied, dass noch alles an ihm dran war.
Saurudalf streichelte über die hell strahlende Kugel neben ihm und begann wieder zu reden: "Es war mir wirklich eine Freude, mit den zehn ehemals mächtigsten Wesen dieser Welt sprechen zu können, doch ich denke, ich werde diese Audienz jetzt beenden. WACHEN!"
Rechts und links neben dem Sessel wurden zwei nahezu unsichtbare Steintüren aufgestoßen und an die 20 Soldaten der neuen Ausbildungsreihe "Schergen des Bösen, TYP 4: ‚Kanonenfutter für Helden’" kamen mit gezogenen Schwertern in den Saal gestürmt, drängten die Drachen gegen einen der Tische und umzingelten sie im Halbkreis.
"Noch einen letzten Wunsch?", fragte Saurudalf. Die Tradition verlangt es halt so.
Kalessan dachte nach…die Situation stand schlecht.
Ziemlich übel sogar.
Aber da stimmte doch etwas nicht…
Er…konnte Saurudalfs stinkenden Schweiß riechen – aus dieser Entfernung.
Sein Geruchsinn war also immer noch so ausgeprägt wie vorher.
Ebenso sein Gehör.
Und wenn seine Sinne noch immer die eines Drachen waren, dann musste doch auch…
"Ja, lasst mich noch kurz etwas ausprobieren…", antwortete er und drehte sich suchend um. Hinter ihm auf dem Tisch stand ein eiserner Kerzenleuchter. Er nahm ihn und drehte ihn prüfend hin und her.
Dann begann er ihn zu verbiegen, als wäre es ein Stück billiger, dünner Draht. Nach ein paar Sekunden hatte er aus dem Leuchter einen formvollendeten Doppelknoten mit Schleifchen geformt – angesichts der geringen Größe des Leuchters eine beachtliche Leistung.
Dann drehte er sich in einer blitzschnellen, flüssigen Bewegung zu der nächsten Wache hin und schmetterte ihm das Teil gegen den Helm. Es ertönte ein Ton, der in dieser Lautstärke sonst nur um 12 Uhr mittags von großen Kirchtürmen erklingt. Kalessan sah noch einmal zufrieden auf seine improvisierte Waffe.
"Hm, na wenigstens das funktioniert noch…", sagte er und schaute auf, "Na dann, kampflos werde ich nicht…"
Vor ihm hingen 19 Schwerter und Schilde in der Luft, die sich gerade fragten, was sie eigentlich dort oben hielt.
Sie fielen auf den Boden.
Man hörte noch schnelle Schritte.
Eine der Steintüren am anderen Ende des Saales wurde zugeschlagen.
Anscheinend war die Eigenschaft "Künstliche Intelligenz" der neuen Soldaten noch ausbaubar…
Saurudalf starrte Kalessan wütend an.
Kalessan sagte zu ihm: "Pass auf, ich werde jetzt etwas machen, was ich seit 1000 Jahren schon nicht mehr getan habe – ich werde es mal auf dem diplomatischen Weg versuchen! Also: Gib du uns jetzt dieses Ding da und vielleicht werde ich es nicht ganz so schmerzhaft machen!"
"IHR droht MIR? In eurer Situation? Meine Wachen mögen vielleicht nicht ganz effektiv gewesen sein, aber ich weiß immer noch genau, was mit Abschaum wie euch zu tun ist! Friss das, Drachengewürm!"
Er streckte seinen Arm aus und eine mächtige magische Entladung baute sich zwischen dem Magier und Kalessan auf. Blitze umzuckten ihn und die anderen Drachen. Nach ein paar Sekunden stoppte das magische Gewitter – und alles sah so aus, wie vorher. Saurudalf starrte zuerst ungläubig an die Stelle, wo jetzt eigentlich zehn Aschehäufchen liegen sollte, schaute danach wieder auf seine Hand und wieder zurück zu den Drachen. Die am Boden liegende Wache war jetzt nur noch ein Aschehäufchen. Mit dem Spruch stimmte also anscheinend alles…
"Was…wie…warum?"
"Diese Immunität ist uns ebenfalls angeboren, lieber Saurudalf – studiert eure Gegner ein wenig besser, dann kommt ihr das nächste Mal vielleicht mit dem Leben davon! Wenn ihr unsere Magie schon als Machtquelle benutzen wollt, wovon ich jetzt einfach mal ausgehe, dann solltet ihr auch erstmal ihre Grundzüge und Mechanismen verstehen – ansonsten ist dieses Prettschett da für euch nur ein hübscher kleiner Briefbeschwerer!"
Kalessan war über sich selbst erstaunt, dass er noch so viel über draconische Magie wusste – es war ja nie sein Ding gewesen…
Saurudalf reckte sein Kinn vor: "Ach, ihr sagt eure Macht wäre nutzlos für mich!? Das werden wir ja sehen! Ich habe viel Zeit und ihr seid immer noch absolut wehrlos! Vielleicht ist dieses Schicksal sogar noch besser für euch zehn – auf ewig dazu verdammt, ein Mensch zu sein! Ich wünsche euch viel Spaß mit eurer neuen Existenz, AHAHAHAHAHAHAHA…"
Er holte eine kleine Kugel aus seinem Ärmel und warf sie auf den Boden. Es gab einen kleinen Lichtblitz, purpurner Rauch stieg auf, der sich langsam verzog.
Als die Sicht wieder klar wurde, waren Saurudalf und das Prettschett verschwunden.
"Oh nein! Kalessan, warum hast du ihn nicht aufgehalten?", schrie Smahug auf einmal.
"Ach reg dich ab, Smahug! Den finden wir schon, den riecht man doch zehn Meilen gegen den Wind! Außerdem, warum meldest du dich erst jetzt und hast vorher nur blöd herum gestanden?"
"Hast du eigentlich eine Ahnung, was das eben gerade für ein Schock für mich war? Hast du eine Ahnung, wie es ist, das mächtigste Wesen auf dem Kontinent zu sein und seine gesamte Macht zu verlieren? HAST DU EIGENTLICH AUCH NUR DIE SPUR EINER AHNUNG?"
"Nein, habe ich nicht. Aber ich habe jetzt eine Ahnung, wie es ist, im Körper eines Menschen auf unbestimmte Zeit eingesperrt zu sein! Wir sollten jetzt erst einmal alle einen kühlen Kopf bewahren – besonders du, oh großer Anführer! Dann suchen wir diesen Typen, holen uns unsere Magie zurück und schon ist wieder alles in Ordnung, dann kannst du wieder mit deinem Lieblingsspielzeug spielen!"
Beim letzten Satz starrte Smahug Kalessan mit einem Blick an, der beinahe den berühmten Medusa-Effekt gehabt und ihn zu Stein verwandelt hätte.
"Er hat Recht, Smahug, wir sollten uns jetzt auf die Suche machen und diesen Magier suchen gehen!", meldete sich jetzt einer der anderen zu Wort.
"Ihr habt ja Recht. Du, Kalessan, und du, Droca…"
"Neidhöcker!"
"…Neidhöcker…wir müssen jetzt alle einen kühlen Kopf bewahren…aber…aber was ist, wenn er schon längst aus der Stadt heraus ist und in einen Tempel in einem dunklen Sumpf, der dann auf einmal zusammen mit dem Prettschett für immer versinkt, SODASS WIR ES NIE WIEDER FINDEN, OH NEIN!" – die letzten Worte schrie er wieder.
"Solch ein Tempel kann gar nicht existieren, hier in der Umgebung gibt es nämlich keinen Sumpf! Dazu müsste er viel zu weit reisen.", sprach Morkulebus.
"Das stimmt aber nicht ganz, ein wenig weiter im Norden ist ein…", wollte Droca ihm erwidern, wurde jedoch von Neidhöcker unterbrochen, der ihn anstieß und ihm ins Ohr flüsterte: "Jetzt mach es bitte nicht noch schlimmer, ja?"
"Ähhhm…nunja, was ich sagen wollte: Sein Hauptquartier muss hier irgendwo in der Stadt sein! Einen Moment…ich glaube sogar, er hat in der örtlichen Magierakademie einen Posten als Lehrkraft gehabt, vielleicht könnte man…sich da mal erkundigen!?", sagte Droca.
Smahug erging sich noch immer in Trauer.
"Seht ihn euch an, unseren großen Anführer! Da ist er kurz davor, zu weinen. Hat dir deine Mama nicht gesagt, das Drachen nicht weinen? Jetzt komm endlich hoch und spiele deine Rolle als Anführer oder wir werden jemand anderes für diese Rolle auswählen!", sagte Glaureng.
Smahug sah auf und die anderen Drachen fragend an. Diese nickten nur.
Dann sprach er: "Na schön, ihr habt ja Recht… Ähm, du sagtest er hätte eine Stelle an der hiesigen Magierakademie? Nun gut…Morki, Kalessan, ihr beide geht zu dieser Akademie und versucht, alles über diesen Saurudalf herauszufinden! Wir anderen nehmen uns ein paar Zimmer in dieser Taverne hier nebenan!"
"Du lässt Kalessan auf die Menschen hier los?", fragte Morkulebus.
"Dich auch, ja. Ihr werdet wahrscheinlich mit einigen Menschen etwas…direkter reden müssen, um an die Informationen zu kommen, die wir brauchen – und zum Direkt-Reden seid ihr beiden einfach mal die Besten!"
"Und warum können wir anderen nicht mit?" erkundigte sich eine Männerstimme in einem Frauenkörper.
"Unter anderem wegen dir, außerdem…", setzte Smahug an, wurde aber sogleich wieder von Tjamat unterbrochen: "Das ist Diskriminierung! Nur weil ich wie eine Frau aussehe, möchte ich nicht wie eine behandelt werden! Ich verlange sofortige Gleichberechtigung für…"
Smahug hob seine Stimme: "Außerdem wissen wir nicht, wer in dieser Stadt von uns weiß. Und wenn da auf der Akademie lauter Schergen des Saurudalf herumlaufen, wäre es vielleicht ein bisschen ungünstig, wenn wir alle gemeinsam dort erscheinen, nicht wahr? Ich muss mich jetzt außerdem noch erstmal ein wenig ausruhen…"
Tjamat murmelte noch was von "Frauenfeind" und gab dann Ruhe.
Der goldene Drache war nun wieder voll in Fahrt: "Na los, los, los! Woraus wartet ihr noch?", gestikulierte er wild in Kalessans und Morkulebus‘ Richtung, "Wir haben nicht viel Zeit! Jedes Jahr zählt!"
Drachen denken halt in ein klein wenig anderen zeitlichen Relationen als Menschen es tun…
Ein paar Minuten später schwammen Kalessan und Morkulebus erneut durch die Straßen Neudorfs.
"Du bist dir auch sicher, dass das hier der richtige Weg ist, Morki?
"Weißt du was? Ich finde meinen Weg nach Hause immer! Nachts. Durch einen überall gleich aussehenden Sumpf. Blind. Da wird es ja wohl nicht sehr schwer sein, in einer Menschenstadt direkt auf das höchste Gebäude, welches sich ein paar hundert Meter vor uns befindet, zuzuhalten!"
"Wollte ja nur auf Nummer sicher gehen…"
Sie schoben sich durch die vielen Menschenmassen in Richtung Magierakademie. Die Magier konnten sich nur ein relativ kleines Grundstück kaufen, deswegen ragte das Gebäude mehr in die Höhe als die Breite. Zumindest am unteren Ende. Weiter oben, wo rechts und links keine Häuser mehr im Weg standen, wurde die Akademie zu einer komplizierten Konstruktion, die an die hundert Meter breit war und in diesem Stil weiter in die Höhe ragte, wo sie dann wieder ein wenig dünner wurde – doch den Rest konnte man aufgrund der vielen Wolken am Himmel nicht mehr erkennen.
Der Betrieb auf dem Platz vor dem Eingangstor war, wie überall sonst in der Stadt, sehr heftig – mit dem Unterschied, dass sich hier mehr Leute mit langen Bärten und spitzen Hüten tummelten als anderswo. Die Magier zeigten sich dabei leider genauso originell in ihrer Farbwahl wie die Drachen.
"Na toll, die anderen hätten doch mitkommen können – die hier sehen alle ja genauso aus wie wir!", sagte Morkulebus enttäuscht.
"Ich denke mal, das vorhin war nur eine Ausrede von Smahug mit dem ‚Wir fallen ja so schräckelich auf!‘. Wir sind verdammt nochmal normaler als diese verdammten Menschen! Aber hey – was soll’s? Jetzt können wir den ganzen Spaß für uns alleine haben!"
Kalessan grinste.
Morkulebus zuckte nur mit den Schultern und ging mit Kalessan zusammen in das Gebäude hinein.
In der Eingangshalle…nun, von Eingangshalle konnte man nicht sprechen. Aufgrund des eher kleinen quadratischen Grundrisses des Gebäudes musste man eher von einer Eingangskammer reden. Der Großteil der Kammer war mit Treppe verbaut, die gleich rechts neben der Eingangstür anfing und sich eng an der Wand um den gesamten Raum herum nach oben schlängelte. Wenn man den Kopf in den Nacken legte, sah man nichts als Treppe, die sich immer weiter nach oben schlängelte, um schließlich weit oben in der Decke zu verschwinden. Und andauernd gingen Männer mit Hüten und Bärten die Treppen rauf und runter.
Ein Meter vor dem Eingangsportal stand ein kleiner Steintisch, hinter dem ein jüngerer männlicher Mensch mit komischen roten Punkten im Gesicht und einem seltsamen Drahtgestell mit zwei Gläsern auf der Nase saß.
Kalessan sah Morkulebus kurz an, ging dann auf den Tisch zu und schlug mit der geballten Faust auf die Fläche, sodass ein lautes Knirschen erklang und sich viele feine Risse bildeten. Der Mensch schaute immer wieder ungläubig starrend zwischen Kalessan und dem Tisch hin und her. Er begann zu zittern.
Kalessan sagte im drohenden Tonfall: "So, Kleiner, du wirst uns jetzt sagen, wo dieser Saurudalf ist oder ich denke mir für dich eine ganz besonders schöne Todesart aus!"
"Wawawawawawawawawawawawawawawawa…", stammelte der Mensch.
"Ähm, Kalessan? Ich glaube, hier ist das ‚direkte Reden‘ noch nicht nötig!"
"Hm? Oh, schade… Also gut, Menschlein, verrate uns…ähm…bitte…sofort, wo dieser Saurudalf…ähm…arbeitet!"
"Sasasasasasa…"
Kalessan zog eine Augenbraue hoch – in seiner draconischen Gestalt machte diese Geste Menschen meistens extrem nervös. So nervös, dass sie versuchten, sich für ihre bloße Existenz zu entschuldigen oder gleich anfingen, um Gnade zu flehen. Meistens kamen sie nur bis: "Oh, bitte, bitte, tötet mich niAAAHH!"
Doch auch so hatte seine Geste eine entsprechende Wirkung: "SaurudalfhatseinBüroim3.StockdieTrepperaufunddanngleichdiezweiteTürvonlinks!", antwortete der Mensch nun im Zeitraffer.
Kalessan lächelte dem Menschen zu und zusammen mit Morkulebus ging er die Treppe hinauf.
Nachdem die beiden ein paar Minuten lang nur Stufen gestiegen waren, fragte Morkulebus: "Du, ich habe gehört, du hast letztens diesen einen roten Heißspund beinahe zerfleischt! Was hat der dir denn getan? Er war doch sicherlich nicht so blöd und hat versucht, in dein Revier einzudringen?"
"Nein, er wollte sich an meine Neffin ranmachen!"
"Du hast eine Neffin?"
"Ja, du nicht?", entgegnete Kalessan.
"Ich bin schon seit 1000 Jahren ohne Bruder oder Schwester, komm mir jetzt bitte nicht damit! Was hat denn der Kleine genau gemacht?"
"Er hat ihr die Krallen massiert!"
"Bitte…was? Er hat ihr nur die Krallen massiert und du schlachtest ihn fast ab?", fragte Morkulebus ungläubig, "Sie ist schließlich nur deine Neffin!"
"Nur meine Neffin!", spie Kalessan aus, "Verwandtschaft ist Verwandtschaft! Außerdem liegt nicht viel zwischen einer Krallenmassage und einem sexuellem Anbaggerungsversuch!"
"Moment! Moment mal, stop! Ich weiß ja nicht, inwiefern meine und deine Krallenmassagentechnik auseinandergehen, aber eine Krallenmassage und ein sexueller Anbaggerungsversuch sind in meinen Augen alles andere als ein und dasselbe!"
"Hast du schonmal jemandem eine Krallenmassage gegeben?", fragte Kalessan.
"Willst du mich verarschen? Natürlich hab ich schonmal jemandem eine Krallenmassage gegeben, ich bin der verdammte Krallenmassagenmeister! Ich habe die perfekte Technik für jede Krallensorte!"
"Würdest du auch…einem männlichen Drachen eine Krallenmassage geben?"
Morkulebus blieb stehen und sah ihn an.
Dann sagte er: "Leck mich!"
"Ach komm schon!"
"Ich sagte Leck mich!"
"Pfft…in welchem Stock sind wir eigentlich?"
Nach einer weiteren Minute Treppensteigen erreichten sie die Decke. In ihr war ein großes Loch. Die Treppe führte durch dieses Loch auf einen nach rechts und links langführenden Korridor. Auf der Wand gegenüber war eine große Eins gemalt. Daneben begann eine weitere Treppe.
Kalessan und Morkulebus sahen sich an, seufzten und machten sich auf den Weg.
Zum Glück lagen die nächsten Stockwerke direkt übereinander – wenige Sekunden später standen sie also vor der Tür von Saurudalf Büro. Sie war klein, unscheinbar und aus Holz. Rechts neben der Tür hing eine kleine Plakette an der Wand. Darauf stand geschrieben: "Saurudalf Roklem, Doktor der Thaumaturgie"
"Hier arbeitet der Mistkerl also!", sagte Kalessan, "Na dann, lass uns anfangen!"
"Einen Moment noch, wie spät ist es denn?"
"Was?"
"Oh, vergiss es!"
Sie traten gleichzeitig auf die Tür ein, was einmal mehr zur Folge hatte, dass diese mehrere Meter weit in den Raum gesprengt wurde und gegen die hintere Wand des Zimmers geschleudert wurde, wo sie in mehrere Stücke zerbarst.
Als die beiden Drachen den Raum betraten, sahen sie einen großen, schweren Holztisch, der im linken Teil des Zimmers stand. Wie es bei diesen Einrichtungsgegenständen üblich war, lagen große Stapel von Papier darauf, sowie ein Tintenfass und eine Feder, sowie zwei Kerzenständer aus massivem Eisen.
Nach ein paar Sekunden erhob sich ängstlich ein eher seltsames Exemplar der Spezies Mensch hinter dem Tisch.
Sein Gesicht bestand mehr aus braunem Bart als aus Gesicht und seine gleichfarbigen Haare fielen bis auf die Schultern. Mit einer Mischung aus Erstaunen, Furcht, Ärger und Verwirrung sah er die beiden Drachen an, die den Raum jetzt betraten und auf ihn zu gingen.
Morkulebus begann, sich die vielen Bilder und Zeichnungen an den Wänden anzuschauen, während Kalessan direkt zum Tisch ging und sich mit den Händen darauf abstützte.
"Hallo, wir möchten mit Saurudalf reden! Aber lass mich raten: Er ist gerade nicht zu sprechen?"
Der Mensch sah ihn weiterhin verwirrt an.
"Dacht ich’s mir doch!"
Kalessans Blick fiel auf einen kleinen Teller, der auf dem Tisch lag. Auf dem Teller wiederum lagen zwei Hälften dieser Dinger, die von den Menschen immer "Brötchen" genannt wurden, aufeinander. Zwischen ihnen steckte eine dicke Scheibe Fleisch und noch ein paar weitere, undefinierbare Dinge.
"Oh, was zu essen! Ich darf doch?", sagte er. Ohne eine Antwort abzuwarten, nahm er das seltsame Brötchen und biss einmal herzhaft hinein.
"Hm, das ist gut…wirklich gut – wie nennt ihr Menschen das?", fragte Kalessan mit vollem Mund.
Der Mensch starrte ihn nur weiter fassungslos an, brachte aber irgendwie "…ein…ein Börger…" als Antwort hervor.
"Oh, ein Bürger? Aus dieser Stadt?"
"…ich…denke schon…"
"Jetzt seid ihr Menschen also auch unter die Kannibalen gegangen… Morki, hast du schonmal einen Bürger aus Neudorf gefressen?"
"Nein!"
"Ihr schmeckt verdammt gut, hat euch das schonmal jemand gesagt?", wandte sich Kalessan wieder an den Menschen.
Dieser schien wieder langsam zu Bewusstsein zu kommen: "Hört mal, was wollt ihr von mir?"
Kalessan biss nochmals in den Börger.
"Wir möchten wissen, wo sich Saurudalf momentan aufhält. Und du tätest besser daran, es uns jetzt gleich zu sagen…", sagte er dann mit einem freundlichen Lächeln – das brachte die Leute immer aus dem Konzept.
"Ich bin nur sein Sekretär! Woher soll ich wissen, wo er sich gerade befindet? Wisst ihr, Herr Saurudalf ist ein vielbeschäftigter Mann und…"
"Ich habe mich vielleicht nicht ganz klar ausgedrückt…vielleicht hilft dir das hier auf die Sprünge?"
Er nahm einen der eisernen Kerzenhalter und brach ihn in der Mitte durch.
Die Augen des Menschen weiteten sich wieder.
"Da…dada…dadadas war massives Eisen, sowas kann man nicht einfach verbiegen…geschweige denn zerbrechen! Was zur Hölle seid ihr eigentlich?"
"Wenn ich dir jetzt erzählen würde, wir beide wären Drachen, die in Menschenkörpern stecken und nicht mehr hinaus kommen, würdest du mir dann glauben, Menschlein?", lächelte ihn Kalessan an.
"Nun, wir leben in einer Welt der Magie, hier ist alles möglich und…ihr seid wirklich Drachen?"
"Können sich Tausende von Toten irren?", entgegnete Kalessan lächelnd.
Morkulebus gesellte sich wieder neben Kalessan.
"Du, irgendwas sagt mir, dass wir hier nichts Neues herausbekommen. Lass uns gehen!"
Auf einmal wurde eine Tür in der Wand hinter ihnen aufgestoßen. Heraus kam ein Mensch, der es in der Größe schon fast mit Kalessans Menschengestalt aufnehmen konnte. Er hatte einen kurzen Stab in der Hand, den er mit beiden Händen festhielt. Der Mann schrie: "VERRECKT, IHR DRACONISCHEN MISTKELRE, VERRECKT!"
Dann begann er, unter lautem Getöse mehrere Energieladungen aus dem Stab auf Kalessan und Morkulebus abzufeuern. Irgendwann machte der Stab nur noch *puffpuff*.
Der Mann rannte los, aus der Tür hinaus auf den Korridor und war verschwunden.
Die beiden Drachen starrten sich zunächst selbst und dann einander mehrere Sekunden lang an.
"Wer zur Hölle war das?", fragte Kalessan.
"Das war Ivel, einer von Saurudalfs engeren Mitarbeitern.", antwortete der bärtige Mensch hinter dem Tisch.
Kalessan und Morkulebus sahen sich nochmals an. Dann rannten auch sie los, dem Mann hinterher.
"Hey, so wartet doch, oh mächtige Drachen!", hörten sie den Menschen noch rufen, als sie auf die Treppe stürmten und dem Flüchtenden hinterher hetzten.
Sie rannten, rammten und stießen sich durch regelrechte Horden von Magiern die Treppe nach unten. Ivel konnte nicht weit von ihnen entfernt sein, da die einzelnen Magier, die sie beiseite stießen noch immer einen sehr frisch empörten Gesichtsausdruck trugen.
Nach einigen Minuten kamen sie unten an, rannten durch das geöffnete Portal hindurch auf den Platz davor – und sahen sich Ivel gegenüber, der zwei Armbrüste auf sie richtete.
"So lässt es sich doch gleich viel besser zielen! Absolut freies Schussfeld, keine Möglichkeit mehr für euch, euch zu verstecken und keiner hier kümmert sich um unseren kleinen Disput! So macht mir die Sache Spaß!"
Und wirklich, die Leute ringsum gingen alle weiter ihren Tätigkeiten nach, als würde nichts besonderes geschehen. Entweder gehörte eine Aktion wie diese hier zur Tagesordnung oder die Ignoranz der Menschen ging weiter, als die Drachen gedacht hatten…
Ivel sprach weiter: "Nun gut, Schlangenbrut – oh, das reimt sich ja, hihihi – wo ist denn der Rest von euch? Saurudalf sprach von zehn Drachen in Menschenkostümen, nicht von zwei!"
Kalessan verdrehte entnervt die Augen und sah dabei plötzlich, wie weit über ihm im Licht der untergehenden Sonne etwas kurz aufblitzte.
Morkulebus antwortete Ivel: "Bist du wirklich so dumm und denkst, wir würden dir verraten, wo die anderen sind?"
"Ich töte euch so oder so, da könnt ihr es mir genauso gut auch verraten!"
"Moment…das macht doch überhaupt keinen Sinn!", entgegnete Morkulebus.
Kalessan fragte sich gerade, ob er sich in dem kurzen Aufblitzen getäuscht hatte, als es noch einmal geschah. Er sagte: "Sie befinden sich momentan in der Taverne ‚Rumstehender Esel‘ und haben sich dort Zimmer gemietet."
Morkulebus flüsterte ihm entrüstet zu: "Kalessan, was soll das? Willst du die anderen auch noch gefährden!?"
"Gefährden? Denkst du, diese kleinen Splitter da können einen Drachen verletzen?"
"Bitte vergiss nicht, dass wir momentan vielmehr Menschen sind als Drachen!"
Das Aufblitzen wiederholte sich. Es war schon deutlich näher gekommen und wiederholte sich jetzt immer wieder in regelmäßigen, kurzen Abständen.
Ivel hatte das ständige Nach-Oben-Sehen Kalessans bemerkt. Er sprach: "Ich…kenne diesen Trick… Doch andererseits…andererseits könnte da oben ja auch wirklich etwas sein… Ich werde es mir besser ansehen. Doch damit ihr mich nicht einfach so überwältigen könnt, werde ich dazu einen Schritt zurücktreten."
Er machte einen Schritt rückwärts und legte den Kopf leicht in den Nacken.
Kalessan lächelte.
Das folgende Geräusch konnte er dank seines exzellenten Gehörs nun in seiner "klanglichen Reinheit", wie er es nennen würde, voll genießen:
Wupwupwupwupwupwupflatschpling
Ivel kippte zur Seite. Blut strömte aus einer kleinen Wunde in seiner Stirn und in seinem Nacken. Unter ihm lag ein kleines, rot gefärbtes Geldstück. Kalessan hob es auf, schnippte es in die Luft und fing es spielerisch wieder auf – Drachen lassen nunmal keine einzige Möglichkeit aus, ihren Hort zu erweitern.
Eine Stimme aus der Menge kam: "Hat wohl wieder jemand das Münzwerfverbot auf der Spitze des Turms missachtet…"
Eine junge Frau, die das Geschehen beobachtet hatte, rief mit fassungsloser Stimme: "Diese…diese Münze hat gerade einen Menschen umgebracht…und ihr hebt sie noch auf? Das bringt doch Unglück! Sie ist ja noch ganz vom Blut dieses armen Mannes besudelt!"
Kalessan sah die Münze an, die ihre rote Farbe tatsächlich nur vom Blut Ivels zu haben schien – und stecke sie sich in den Mund. Er lutschte ein paar Sekunden darauf herum und spuckte sie wieder aus. Hervor kam ein Goldtaler – die Studenten hier hatten für ihre Streiche anscheinend ein recht großes Budget…
Kalessan sagte: "Jetzt ist sie sauber!"
Die Frau fiel in Ohnmacht.
Während sich die ersten Menschen daran machten, den toten Körper nach Wertsachen zu durchsuchen, machten Kalessan und Morkulebus sich wieder auf den Weg zurück zur Taverne. Plötzlich ertönte hinter ihnen eine Stimme: "So wartet doch, edle Drachen, ich möchte euch begleiten!"
Es war der bärtige Mann von oben.
Kalessan rollte mit den Augen und drehte sich um: "Jetzt hör mal…ähm…"
"Oh, verzeiht, edle Drachen, ich vergaß, mich vorzustellen.", er neigte sein Haupt, "Mein Name ist Karlmax."
"Nun gut…Karlmax…ich schlage dir vor, du haust jetzt besser ab, ansonsten erleidest du garantiert dasselbe Schicksal wie dein Kollege da hinten – nur wird es diesmal kein Zufall sein und durch echte Handarbeit geschehen."
Kalessan hielt ihm die Münze vor sein Gesicht.
"Er war nicht mein Kollege – ich konnte ihn eh nicht leiden!"
"Schön für dich – und jetzt: Verpiss dich!"
"Ähm, wa…was? Wie? Äh…wie soll ich mich verpissen, oh edler Drache?"
"Ach, vergiss es…hau einfach ab, ja?"
"Einen Moment! Ihr wollt doch meinen Meister Saurudalf finden, nicht wahr? Ich…kann euch vielleicht doch sagen, wo er sich aufhält!"
Eine halbe Stunde später standen sie vor der Taverne.
"Oh, ich kann es noch immer nicht glauben, ich werde gleich die mächtigsten Geschöpfe dieser Welt treffen!", rief Karlmax freudig aus.
"Die hast du schon getroffen, Menschlein. Gleich siehst du nur den Rest von ihnen.", erwiderte Kalessan.
"Setzt du dich jetzt also schon auf eine Stufe mit Smahug?", fragte Morkulebus.
"Nein – ich stelle mich über ihn. Ohne seine Magie ist er schließlich nur ein desillusioniertes Häufchen Elend, du hast ihn doch gesehen. Er hat sich die ganze Zeit immer an seine Magie geklammert, seine gesamte Macht, sein Eigen, sein Schatzzz. Smahug benutzte die Magie, um sich sein gesamtes Leben zu vereinfachen. Ich würde mal gerne wissen, ob er ohne seine Magie überhaupt noch Jagen gehen und überleben könnte. Und dann sein ständiger Kontakt zu den Menschen!", schnaubte Kalessan verächtlich, "Er hat es schon immer gebraucht, seinen ach so reichen Wissensfundus diesen Wichten mitzuteilen und so seine ach so ‚überlegene‘ Intelligenz zum Ausdruck zu bringen. Ich sage dir, der ständige Kontakt zu den Menschen hat ihn verweichlicht, ihn von dem abgewandt, was ein Drache eigentlich sein sollte…hörst du mir eigentlich zu, Morki?"
"Nein."
"Dann lass uns rein gehen!"
Als die beiden Drachen sich in dem Raum umsahen, konnten sie nur Adorelon entdecken, der am Tresen auf sie wartete – von den anderen war keine Spur zu sehen. Der Schankraum war anscheinend noch ziemlich leer, er würde sich jedoch aufgrund der fortgeschrittenen Tageszeit wahrscheinlich schon bald mit Besuchern füllen.
"Wo sind die anderen?", fragte Kalessan.
"Nachdem sie ein paar Minuten lang mit sich alleine waren, haben sie allesamt einen extremen Stimmungseinbruch bekommen und hocken nun auf ihren Zimmern herum. Smahug ist da noch am schlimmsten – mit dem kann man kaum mehr reden! Ich sehe die Sache nicht so wild, dass wird schon alles werden…", antwortete Adorelon.
"Entschuldigt!", meldete sich Karlmax zu Wort, "Seid ihr auch ein Drache?"
Adorelon sah ihn schief an.
"Wo habt ihr denn den aufgetrieben? Im Gefängnis? Bei dem Bart hat der doch sicher 50 Jahre gesessen!"
"Bart?", erkundigte sich Morkulebus.
"Das haarige Ding da im Gesicht."
"Oh! Nein, der arbeitet für Saurudalf und sagte er könne uns zu dessen Versteck führen. Ich hoffe für dich, dass das auch stimmt, Kleiner! Wie dem auch sei, würdest du bitte so freundlich sein und die anderen holen, damit wir weitermachen können, Adorelon?", sagte Kalessan.
"Nein, ich denke wir sollten diese Nacht noch hier verbringen – die Dunkelheit bricht gerade herein, da wären wir auf der Straße zu auffällig. Außerdem sind mir die anderen noch nicht bereit dazu, wir sollten sie eine Nacht lang ausruhen lassen, dann geht es ihnen bestimmt besser.", erwiderte Adorelon.
"Weißt du was? Es ist mir egal, was du denkst – ich möchte aus diesem Körper heraus!"
"Smahug ist nicht in der Verfassung dazu, Befehle zu erteilen, deswegen muss jemand anders diesen Posten übernehmen."
Kalessan starrte ihn hasserfüllt an.
"Und du bist natürlich geradezu prädestiniert dafür, nicht wahr? Was nimmst du dir eigentlich das Recht heraus, hier den großen Anführer spielen zu dürfen?"
"Ich bin nach Smahug immerhin der Älteste vor dir, Kalessan!"
"Oh ja, um gigantische 134 Jahre Unterschied, oh Ältester und damit natürlich auch Weisester unserer Rasse!", giftete ihn Kalessan an.
"So verlangt es die Tradition – wenn es dir nicht passt, kannst du nachher gerne bei Smahug Beschwerde einreichen!"
Kalessan starre ihn weiterhin wütend an, drehte sich nach einigen Sekunden um und wollte die Treppe hochstürmen, prallte dabei jedoch mit Karlmax zusammen, der immer noch hinter ihm stand.
"Verzeiht, oh Drache, aber ich hätte da noch einige Fragen an euch…", sagte dieser, wurde aber gleich von Kalessan unterbrochen: "Und du, Kleiner, du hörst mir jetzt mal genau zu! Ich kann Menschen generell schon nicht ausstehen. Menschen, die mich nerven, sind noch viel schlimmer dran – weißt du, was ich mit allen Menschen, die mich jemals nervten, gemacht habe?"
"Ähm…nein?"
"Die meisten habe ich bei lebendigem Leibe verschlungen, den Rest auf andere Art und Weise getötet. Doch ich kann dir versichern: Es war immer qualvoll und langsam. Was ich dir damit sagen will, ist folgendes: Wenn du mir noch einmal, nur noch ein einziges Mal auf die Nerven gehst, wird dein Schicksal nicht sehr anders aussehen. Und es ist mir egal, was andere ach so autoritäre Drachen sagen – verstanden?"
Ohne ein weiteres Wort stürmte Kalessan die Treppe hoch und auf das für ihn gemietete Zimmer.
Karlmax sah ihm nur verwirrt nach. Dann sagte er: "Er kann Menschen nicht besonders gut leiden oder?"
Adorelon antwortete ihm: "Stimmt, um nicht zu sagen: Er verachtet euch alle aus tiefstem Herzen. Und er ist in dieser Beziehung sehr konsequent."
"Aber warum?"
"Warum? Nun, vielleicht weil ihr euch wie eine Seuche über die gesamte Welt ausbreitet, die Wälder abholzt, mit Dingen rumspielt, die ihr nicht versteht, nichts anderes zu tun habt, als Kriege zu führen und liebend gerne Drachen tötet!?"
"Oh…"
"Vielleicht kann er euch aber auch deswegen nicht leiden, weil es nicht besonders günstig ist, wenn man die Angewohnheit hat, sich andauernd mit seinem Hauptnahrungsmittel anzufreunden!?"
"Oh…"
"Hm, vielleicht aber auch deswegen, weil Menschen einst seine gesamte Familie und fast auch ihn selbst umbrachten?"
"Oh…bitte, was?"
"Da war er schon im heranwachsenden Alter und hatte seine große Liebe gefunden…ich weiß jetzt nicht mehr, wie sie hieß. Auf jeden Fall kamen die Drachentöter in die Höhle, als Kalessan gerade weg war und seine Angebetete schlief. Die Menschen brachten sie um und zerstörten danach die Eier. Kalessan fand sie gerade, als sie sich an seinem Hort gütlich taten. Er ist vollkommen ausgerastet. Hat sie alle an Bäume gefesselt und dann jeden Einzelnen vor den Augen der anderen fünf Tage lang gefoltert…so erzählt man sich. Damals nannte man ihn auch noch Stormblazer – frag mich bitte nicht, warum!"
"Oh…das tut mir leid für ihn!"
"Sag es ihm doch, er interpretiert das wahrscheinlich nur als ’nerven‘ und macht seine Drohung wahr…wie gesagt, er ist sehr konsequent."
Zwei Stunden später hielt sich nahezu die halbe Stadt im Schankraum des "Rumstehenden Esels" auf. Die anderen Drachen waren nun auch alle aus ihren Zimmern gekrochen, mischten sich unter die Menschen und versuchten, sich die Zeit zu vertreiben.
Karlmax saß zusammen mit dem immer noch traurig dreinblickenden Smahug am Tresen und trank ein alkoholhaltiges Getränk nach dem anderen, wobei er dem Drachen einige seiner äußerst interessanten Theorien erläuterte:
"Also, passu auf! Da isch die Bu…die Bur…die Burschwasie oder so, dassin die Leute, die die ganze Knede ham. Un dann isch da dasch Pro…dasch Prole…Proledingschbumsch un…undie ham alle keine Knede. Verstehschtu? Und irjenwann, wenn die Pro…die Prole…diese armen Schweinsens die Schnause voll ham, dann kommendie so an un machen die jesamde Burschwodingsch feddisch…verschtehst?"
Er hatte in Smahug einen geduldigen, jedoch teilnahmslosen Zuhörer…
In zwei verschiedenen Ecken des Schankraumes saßen Adorelon und Kalessan, jeder zusammen mit je einer menschlichen Frau. Während Adorelon seine Schwäche für menschliche Frauen zeigte und eher offen mit seinem Mädchen plauderte und auch ein wenig flirtete, sagte Kalessan zu seiner Frau nur Dinge wie "Oh wie gerne würde ich jetzt mit dir in eine dunkle Gasse gehen und dich vernaschen!", worauf diese nur dämlich kichern konnte, unwissend darüber, dass ihr Gegenüber das Gesagte vollkommen wörtlich meinte.
Neidhöcker saß an einem Tisch, an dem gerade ein Wettkampf im Armdrücken lief und wo er durch seine außergewöhnlichen Kräfte schon bald als Champion des Abends galt und die Wetten für ihn mit einer Gewinnspanne von 1:1.0001 liefen.
Droca sah sich schon bald von einer großen Horde Menschen umzingelt, die alle wollten, dass er ihnen seinen Namen auf ihre mitgebrachten Papierfetzen, Bilder, Taschen oder Körper schrieb.
Ganz anderen Problemen gegenüber sahen sich die "Frauen" des Rates. Während Tjamat zwar immer wieder von menschlichen Männern aufgrund ihrer Schönheit angesprochen wurde, war nach dem ersten Wortwechsel sofort Schluss mit dem Flirten – die meisten Männer liefen würgend und mit der Hand vorm Mund hinaus.
Schneeweißchen wurde jedoch penetranterweise von einem Menschen traktiert, der andauernd versuchte, mit ihr ein Gespräch anzufangen. Nun sei erwähnt, dass Schneeweißchen zwar die menschliche Sprache beherrschte, sie aber nie anwendete. In den kalten Nordlanden, aus denen sie kam, war es fast nie nötig, Menschlich zu sprechen. Die Menschen die sie dort traf, waren entweder tiefgefroren oder wollten sie töten – beides keine gute Grundlage, um eine gepflegte Konversation zu betreiben… Mal ganz davon abgesehen, dass Schneeweißchen viel zu stolz war, diese "niedere" Sprache zu sprechen.
Irgendwann setzte sich dieser Mensch jedenfalls neben sie und begann, sie damit zuzusülzen, wie "bezaubernd" sie doch sei, wie "atemberaubend" ihre Schönheit und wie "grazil" ihre Gesichtszüge, dass er noch nie so eine "elfengleiche, perfekte" Frau gesehen habe und wie gerne er sie doch kennen lernen würde. Ihr Schweigen interpretierte er als angeborene Stummheit und ihre Geduld als offenes Interesse für ihn. Nach einiger Zeit riss jedoch selbst Schneeweißchens draconischer Geduldsfaden. Sie nahm Hans und schleuderte ihn ohne große Anstrengung durch die halbe Taverne an die gegenüberliegende Wand. Seine Reaktion darauf war nur: "Eine wunderschöne Frau, die auch noch stark wie ein Bär ist…genau mein Fall!"
Keine solchen Probleme hatte Glaureng. Sein Gestank manifestierte sich bereits als grünliche Wolke, die über seinem Tisch schwebte und jeden, der nicht selbstmordgefährdet war, auf großem Abstand hielt.
Bleiben noch Morkulebus und Vasdendas. Die beiden befanden sich gerade in einer Konversation. Morkulebus sagte: "Ich kenne dich jetzt schon seit 1348 Jahren und verstehe immer noch nicht, warum du dir als Drache eine pazifistisch-vegetarische Grundhaltung zugelegt hast. Ich könnte mich keine zwei Tage nur von Pflanzen und Wurzeln ernähren!"
"Weißt du was? Ich verstehe euch alle nicht, wie ihr all diese Geschöpfe der Natur so sinnlos und brutal abschlachten könnt, um dann ihre Eingeweide raus zu reißen und diese dann noch zu essen! Das ist doch widerlich, abartig!"
"Ich find’s eher…lecker! Komm schon, du hast es doch noch nie ausprobiert!"
"Werde ich auch nie. Stell dir nur mal vor: Du bist ein Mensch, der sagen wir 30 Jahre lang glücklich und zufrieden vor sich hin lebt, was für ihn ja schon eine recht lange Zeit ist. Eines Tages geht er dann vielleicht nichts Böses wollend in den Wald, um Blümchen zu pflücken oder sich an Mutter Natur zu erfreuen und auf einmal kommt dann so ein daher geflogener schwarzer Drache an und beendet sein Leben mit einem Handstreich. Wie würdest du es finden, wenn dir jetzt jemand einfach so dein Lebenslicht ausblasen würde und du nichts dagegen tun könntest?"
"So ist der Lauf der Dinge! Doch lassen wir das, hier kommen wir eh zu keinem Ergebnis…was mich viel mehr interessiert, ist, wie du bis zum heutigen Tag überleben konntest, ohne irgendeinem Lebewesen Schaden zuzufügen. Die Drachentöter werden dich kaum verschont haben, nur weil alle wissen, wie friedlich und unbeschwert du vor dich hin lebst…"
"Ich habe mich magisch schon sehr früh selbst ausbilden lassen. Ich habe es sogar geschafft, meine Höhle so zu tarnen, dass nur ein Minimum an Drachentötern sie je gefunden hat und eindringen konnte!"
"Und was hast du mit denen gemacht?", fragte Morkulebus.
"Nun, zuerst habe ich sie immer freundlich zum Essen eingeladen…"
"Hat es denn geklappt?"
"Nun…nein, sie haben meine Einladung immer missverstanden."
"Und was hast du stattdessen gemacht?"
"Dann bin ich immer schnell geflohen und habe mir eine neue Höhle gesucht…", antwortete Vasdendas mit gesenktem Haupt.
Morkulebus schüttelte nur noch den Kopf.
Diese Diskussion und die anderen Aktivitäten der Drachen zogen sich jedenfalls noch den gesamten Abend hin, bis der Rat nach und nach beschloss, zu Bett zu gehen.
Als Kalessan am nächsten Morgen aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt. Er lag auf seinem Rücken und sah, wenn er den Kopf ein wenig hob, seinen flachen und mit weicher, fleischfarbener Haut bedeckten Bauch, auf dem die Bettdecke unordentlich ausgebreitet war. Seine wenigen, im Vergleich zu seinem eigentlichen Körper kläglich dünnen Beine und Arme flimmerten ihm hilflos vor den Augen.
Kalessan schrie.
Er war jedoch ein wenig enttäuscht, als sich seiner Kehle nur lächerliche 60 Dezibel entrangen.
Wenige Sekunden später kamen die anderen Ratsmitglieder in den Raum hinein gestürmt, Smahug an der Spitze.
Er rief: "Was? Was ist los? Was ist passiert?"
Die anderen schauten nur hinter Smahugs Rücken hervor und Kalessan neugierig an.
"Ich..ähm…ach nichts, ich dachte beim Aufwachen, ich hätte alles nur geträumt – aber wie du siehst, hat sich relativ wenig verändert… Wenigstens scheinst du wieder bei Verstand zu sein!"
Smahug runzelte: "War ich das etwa irgendwann nicht?"
"Vor wenigen Stunden das letzte Mal."
"Oh…daran kann ich mich gar nicht mehr erinnern…", antwortete er mit auf einmal seltsam verträumter Stimme.
"Sag mal, Smahug, geht es dir irgendwie…nicht gut? Hat dich der Schock vielleicht doch schwerer getroffen?"
Wieder mit verträumter Stimme und abwesendem Blick, antwortete er: "Welcher Schock?"
"Deine Magie – deine verlorene Magie. Du hast gestern den ganzen Abend über den Verlust deiner ach so kostbaren draconischen Magie getrauert!"
Smahug schien irgendwie müde. Mit entsprechender Stimme antwortete er: "Magie…? Draconisch…? Was meinst du mit ‚draconisch‘?"
Kalessan runzelte die Stirn.
Dann fragte er: "Welcher Spezies gehörst du an, Smahug?"
"Ich…ich weiß nicht. Ich meine zu wissen, ein Mensch zu sein…doch…doch war da nicht noch was anderes?"
"Na toll, jetzt ist er völlig durchgeknallt!", spie Kalessan aus, "Na, was sagst du dazu, Adorelon, oh der du unser neuer Anführer bist?"
Dieser sah jedoch keine Spur besser aus als Smahug. Mit gleicher, abwesender Stimme antwortete er: "Ja, Mama!"
Als Kalessan sich die anderen Drachen betrachtete, sah er überall den langsam völlig verträumt werdenden Gesichtsausdruck – von der Neugierde, die vor ein paar Sekunden noch in die Gesichter seiner Kollegen geschrieben stand, war nun nichts mehr zu erkennen. Jetzt hatten sie eine Mimik, die man eigentlich nur bekommt, wenn man sehr viel verbotenes Zeug geraucht hat.
"SEID IHR DENN JETZT ALLE WAHNSINNIG GEWORDEN?", schrie Kalessan, sprang aus dem Bett, nahm Smahug und presste ihn gegen die Wand.
"Was bist du?"
"Ich…bin ein Mensch, genau wie d…"
Kalessan schüttelte ihn.
"Falsche Antwort!"
Da kam ihm eine Idee. Er zog ein Goldstück aus Smahugs Robe.
"Erinnerst du dich an das hier? Du hattest mal Tonnen davon, so viel, dass du darin baden konntest! Du hättest diese ganze verdammte Stadt kaufen können und wärest noch immer der Reichste von uns gewesen!"
Dazu bewegte er das Goldstück vor Smahugs Nase hin und her. Dessen Blick klärte sich langsam auf. Schließlich sagte Smahug "Ich…erinnere…mich…" und lächelte ihn an. Dann wurde er sich seiner Situation schlagartig wieder bewusst. Er vergrub seine Hände im Gesicht und heulte: "Und ich kann nie mehr zurück zu meinem schönen Schatz! Und…UND ZU MEINER MAGIE!"
"Oh nein…jetzt fang bitte nicht wieder damit an!", sagte Kalessan – ohne Erfolg.
Die anderen Drachen standen nur im Raum herum und starrten sie verständnislos-verträumt an.
"Was glotzt ihr alle so? Jetzt bringt dieses Weichei hier raus und lasst mich alleine…ich muss nachdenken!"
Wenigstens konnten sie noch seine Befehle ausführen – und taten es sogar. Doch was brachte es, wenn man eine Horde von Idioten als Untertanen hatte? Als die Drachen aus dem Raum verschwunden waren, erschien Karlmax in der Tür.
Kalessan sagte finster: "Was zur Hölle ist hier eigentlich los?"
Der Magier antwortete: "Nun, es fing an, kurz nachdem ihr auf euer Zimmer gegangen seid. Die anderen blieben noch ein bisschen unten, doch als ich mich mit ihnen unterhielt, wurden sie immer abwesender. Sie vergessen, wer sie sind…oder besse – was sie sind. Und es wird immer schlimmer."
"Aber warum? Einige von ihnen sind früher schon tagelang in ihrer menschlichen Form gewesen…Adorelon sogar ein paar Jahre, als er die Beziehung zu dieser Bauerntochter hatte…"
"Nun, ich habe mir in der Nacht Gedanken darüber gemacht und bin zu dem Schluss gekommen, dass das physische Erscheinungsbild in dem sie sich momentan befinden, sich ihres Geistes bemächtigt und…ach verdammt, ich hatte doch so einen Merksatz dafür. Ah, genau, passt auf, ich habe ihn: ‚Das Schwein bestimmt das Bewusstsein…‘ Moment…nein…nein, das war es nicht…"
Er sah auf.
Kalessans Blick, mit dem dieser zurück starrte, sagte: "Du wirst das jetzt noch einmal so wiederholen, dass ich es auch verstehe, ansonsten passiert etwas sehr, sehr schlimmes!"
"Nun, ähm…ihr müsst verstehen: Eure Magie ist eure Essenz. Die Magie ist das, was euch als Drachen kennzeichnet, wenn ihr euch in euren menschlichen Körpern befindet. Jetzt, wo euch eure Magie fehlt, unterscheidet ihr euch nicht von anderen Menschen. Deswegen beginnt ihr, welche zu werden…", er stockte und begann nachzugrübeln, "Hm…oder war es ‚Das Bein bestimmt das Bewusstsein‘?"
"Wenn die anderen langsam zu Menschen werden – was ist dann mit mir? Ich weiß, dass ich ein Drache war…bin."
"Ich bin mir nicht sicher, aber ich denke es liegt daran, dass ihr meine Spezies noch nie…so gut leiden konntet. Deswegen weigert sich euer Verstand hartnäckig, den Glauben anzunehmen, ihr wäret der von euch selbst erwählte größte Feind…(hmmm, ‚Die Pein…‘?)…ähm…aber ich bin auch fest davon überzeugt, dass ihr euch der Verwandlung nicht sehr viel länger entziehen könnt…(‚Der Leim…‘?)"
"Und wieviel Zeit habe ich noch?"
"Ich weiß es nicht. Vielleicht noch ein paar Stunden…(‚Der Hain…‘?)"
"Oh verdammt! Also gut, du weißt wo Saurudalfs Versteck ist. Wie schnell kannst du uns dort hinführen?"
Karlmax‘ antwortete abwesend: "Jaja…(‚Herr Klein…‘?)"
Kalessan nahm ihn an der Kehle und hob ihn auf eine Höhe mit seinen Augen.
"Hör mal zu: Du wirst jetzt aufhören über diesen dämlichen Merksatz nachzudenken. Du wirst mich und meine Kollegen jetzt zu Saurudalfs Versteck führen. Du hast eine Stunde Zeit. Ansonsten wird die letzte Handlung meiner draconischen Existenz noch einmal meine Lieblingsbeschäftigung sein – das Ausblasen von menschlichen Lebenslichtern auf extrem brutale und unangenehme Art und Weise."
Karlmax wand sich in Kalessans stählernem Griff und röchelte.
Kalessan ließ ihn fallen, beugte sich über ihn und fragte fröhlich: "Na, kann’s losgehen?"
Karlmax führte den Rat zum Eingang der Kanalisation von Neudorf.
Es hatte sich als nötige Maßnahme erwiesen, die neun abwesenden Drachen mit dem Menschen zusammen zu ketten, weil sie ansonsten von alleine keinen Schritt mehr getan hätten – ihr Bewusstsein schaltete doch schneller ab, als erwartet…
"Meine Freunde hier werden aufpassen, dass du mir nicht einfach wegrennst!", hatte Kalessan zu Karlmax gesagt.
Der gesamte Rat bildete also jetzt eine kleine Kolonne aus vor sich hin träumenden Menschen in farbigen Gewändern, die von einem grimmigen Hünen in roter Robe begleitet und von einem kleinen, bärtigen Mann geführt wurde.
"Woher weißt du eigentlich von Saurudalfs geheimen Versteck? So geheim scheint es ja nicht zu sein, wenn du davon weißt…"
Karlmax ignorierte den sarkastischen Unterton Kalessans: "Ich habe einmal heimlich in Saurudalfs Aufzeichnungen gestöbert. Da bin ich auf eine Wegbeschreibung zu seinem Versteck in der Kanalisation gestoßen."
"Das ist ja schön für dich!", antwortete Kalessan, "Mit jedem Satz, den du sagst, verschwendest du weitere wertvolle Zeit deines kurzen Lebens. Wenn ich dir also einen gut gemeinten Vorschlag machen darf: Geh weiter!"
"Ich gehe doch weiter!"
"Willst du mich nerven?"
Karlmax hob die Hände in einer abwehrenden Geste und wollte gerade die Kanalisation betreten, als er mit einem jungen Mann zusammen prallte, der diese gerade verließ. Der Mann schaute die seltsame Gruppe verwirrt an und sagte: "Also Sally hat schon zugemacht. An eurer Stelle würde ich es heute Abend noch einmal versuchen. Oder wollt ihr woanders hin? Achso, zum Sklavenhändler?"
Karlmax antwortete: "Ähm, nein, wir wollen nicht zu Sally – und auch nicht zum Sklavenhändler, wir haben…ähm, woanders einen Termin."
Der Mann zuckte nur mit den Schultern und ging weiter seines Weges.
Kalessan fragte Karlmax auf ihrem Weg in die Kanalisation: "Wer ist Sally? Und was zur Hölle hat sie in der Kanalisation zu suchen?"
"Nun…Sally ist Inhaberin eines…Geschäftes…"
"Ein Geschäft in der Kanalisation? Was verkauft sie denn da unten? Scheiße?"
"Nein, sie verkauft…gewisse Dienstleistungen…"
Kalessan zog nur die Augenbraue hoch.
"Man kann zu ihr gehen…und gegen ein gewisses Entgelt kann man mit einer Frau…zusammen sein…"
"Und das geht nur in der Kanalisation?"
"Naja, Sallys Aktivitäten werden nicht von allen als…völlig legal betrachtet…"
Zu Karlmax‘ Erleichterung hakte Kalessan nicht weiter nach, sondern schüttelte nur den Kopf.
Auf ihrem Weg durch die Kanalisation bemerkte der Drache, dass überall an den Wänden Fackeln hingen. Wozu sollte jemand in einer Kanalisation Fackeln aufhängen lassen? Und warum kamen ihnen immer wieder Menschen auf dem Weg in die Kanalisation entgegen?
Karlmax sagte: "So, jetzt kommen wir in den Haupttunnel!"
Sie bogen um eine Ecke – und fanden sich auf einer Art Straße wieder. Erneut hingen hier überall Fackeln an den Wänden. Mehrere Menschen liefen auf den breiten Randsteinen neben dem stinkendem Hauptstrom der Kanalisation entlang und bogen ab und zu in finstere Seitengassen ein. Als Kalessan einen Blick in einen der Seitentunnel warf, sah er am Ende eine Tür, über der ein hölzernes Schild hing, auf dem ein großes Messer abgebildet war. In einem anderen Tunnel war eine Tür mit einem Schild, auf dem ein brennendes Pentagramm aufgemalt war. Wieder in einem anderen Tunnel hing ein Schild auf dem eine vermummte Gestalt zu sehen war.
Nachdem sie diesen Tunnel passiert hatten, kam ihnen genau eine solche Person entgegen. Als Kalessan sie passierte, rempelte diese ihn kurz an, entschuldigte sich und ging hastig weiter. Kalessan befühlte seine Taschen und war eher weniger überrascht, als er sie leer vorfand.
Er drehte sich um und sah die vermummte Gestalt noch schnell in den dazu passenden Seitentunnel einbiegen. Kalessan rannte dem Menschen in den Tunnel hinterher und kam vor der Holztür mit dem "Vermummter Mann"-Schild zu stehen.
Er klopfte an, worauf sich der obligatorische Schlitz, durch den zwei finstere Augenpaare starrten, öffnete.
"Ja?", hieß es barsch.
"Einer von euren kleinen, dreckigen Dieben hat mich eben beraubt. Er wird eine Menge Leben retten, wenn er mir jetzt gibt, was mir zusteht."
Die finsteren Augen wurden noch finsterer. Dann ging der Schlitz zu. Von innen hörte man die Stimme des Pförtners rufen: "Jimmy, hast du eben einen zwei Meter großen Typen, mit ’ner komischen roten Robe ausgeraubt?…Du hast da mal wieder was vergessen!"
Der Schlitz öffnete sich wieder: "Es tut uns leid, er ist noch jung und relativ unerfahren. Hier, bitte!"
Eine Karte wurde durch den Schlitz gesteckt. Kalessan nahm sie entgegen. Der Schlitz ging zu. Auf der Karte stand: "Ihr wurdet von Jimmy dem Fuß ausgeraubt, offizielles Mitglied der Diebesgilde, Neudorf, HbmG. Wir danken für eure Kooperation und wünschen euch noch einen angenehmen weiteren Aufenthalt in der Neudorfer Kanalisation!"
Kalessan zerknüllte die Karte wütend mit einer Hand.
"So, das reicht…jetzt gibt es Tote!"
Er ballte seine Hand zur Faust und schlug mit aller Kraft gegen die Holztür. Der erwartete Effekt explodierenden Holzes blieb jedoch aus. Stattdessen explodierte der Schmerz in seiner Hand.
Kalessan wimmerte.
Hinter der Tür ertönte die Stimme des Pförtners: "Wir haben jetzt geschlossen, kommt morgen wieder!"
Kalessan betrachtete ungläubig seine schmerzende Hand – es hatte also begonnen.
Er rannte los.
Am anderen Ende des Tunnels stand Karlmax mit den träumenden Drachen.
"Was…was ist denn los mit euch?"
"Halt die Klappe und führe mich zu Saurudalfs Versteck. Keine Umwege, kein Verlaufen, keine ‚Abkürzungen‘, verstanden?".
Karlmax sah ihn an – direkt in seine Augen. Und was er entdeckte, gefiel ihm überhaupt nicht – er sah Panik.
Obwohl Karlmax nicht der Schnellste war und die neun Drachen hinter ihm die Fortbewegung enorm erschwerten, schafften sie es binnen weniger Minuten durch einige Seitenkanäle in einen kleinen Tunnel, der an einer Gargoyle-Statue endete.
"Und jetzt? Ich tippe auf das alte ‚Schalter finden und drücken‘-Spiel.", sagte Kalessan ungeduldig, aber mit einer gehörigen Portion Galgenhumor.
"Nicht ganz…laut Saurudalfs Aufzeichnungen müsste uns jetzt ein Rätsel gestellt werden. Leider weiß ich nicht genau, wie es lautet."
"Ein Rätsel? Warum wird nicht nach irgendeinem Passwort oder so gefragt? Das wäre doch viel sicherer!"
"Nunja, Saurudalf ist recht vergesslich, besonders was Passwörter betrifft. Aber er ist gut im Rätseln. Deswegen hat er diesen Gargoyle verzaubert, ein Rätsel aufzugeben. So hat er zumindest eine Eselsbrücke für sein Passwort…"
Kalessan zog eine Augenbraue hoch, zuckte dann aber nur mit den Schultern und ging auf die Statue zu. Die Augen des Gargoyles begannen auf klassische Art und Weise rot zu glühen. Dann sprach er:
"Halt, wer hier vorbei möchte, muss erst das schwierigste Rätsel lösen, welches da je erfunden worden ist, ansonsten…"
"Ansonsten was?", fragte Kalessan herausfordernd.
"Ansonsten wird er ein schreckliches Schicksal erleiden!"
"Das da wäre…"
"Er muss eine Stunde warten, bis er noch einen Versuch bekommt!"
"Bitte…was? Keine tödlichen Strafen? Keine alles zu Asche verbrennenden Feuerbälle? Keine rasiermesserscharfen, plötzlich aus der Wand schießenden Klingen? Keine sich langsam zusammen bewegenden Wände, die ihre Opfer langsam und qualvoll zerquetschen?"
"Nein! Mein Meister würde sich doch nicht absichtlich in Gefahr bringen. Außerdem wäre es doch ziemlich lästig, die Sauerei hinterher hier immer aufräumen zu müssen, nicht wahr?", antwortete der Gargoyle fröhlich.
"Oh…wie langweilig!", entgegnete Kalessan offensichtlich enttäuscht, "Nun gut, dann stell dein ach so schweres Rätsel!"
"Nun gut. Aber seid vorbereitet auf das schwierigste und gewiefteste Rätsel aller Zeiten, eine Kopfnuss, die nur die Allerwenigsten der Allerwenigsten knacken konnten, eine Aufgabe, die nur die Schlauesten der Schlauesten der…"
Der Gargoyle bemerkte nun Kalessans patentierten Todesblick, welcher anscheinend auch bei ihm hervorragend funktionierte…
"Ähm, ja…Verzeihung. Hier nun das Rätsel: Am Morgen geht es auf vier Bei…"
"Der Mensch!", sagte Kalessan.
"Hey, das ist gemein. Ihr kanntet das Rätsel schon!"
"Oh, ich bitte dich – das ist das älteste, dümmste und vor allem populärste Rätsel der Geschichte."
"Aber bis jetzt hat es noch keiner gelöst!"
"Nun…wie viele waren vor uns denn schon hier außer deinem Meister?"
Der Gargoyle sah sie nachdenklich an, zuckte dann mit steinernen Schultern und schob sich mitsamt der Wand, in der er befestigt war, beiseite und gab den Weg frei.
Karlmax sagte: "Ich kannte das Rätsel noch nicht!"
"Du bist ja auch kein Drache. Weiter!"
Kalessan, Karlmax und die neun halbnarkotisierten Drachen gingen durch die Tür hindurch. Dahinter befand sich ein Raum, der eher spärlich ausgestattet war: Je zwei Holzbänke standen an den beiden Seitenwänden und in der Mitte des Raumes war ein Tisch, auf dem einige Schriftrollen lagen.
Karlmax sagte: "Das hier muss der Empfangsraum sein!"
"Wozu braucht ein machtgieriger Magier in seinem geheimen Labor unter der Erde einen Empfangsraum?"
"Hoher Besuch, Freunde, Sponsoren…"
Kalessan nahm sich eine der Schriftrollen. Sie war mit dem Schriftzug "Mord ist Sport, Ausgabe 4/01" betitelt.
Die Tür hinter ihnen ging wieder zu. Aus der gleichen Richtung ertönte eine Stimme: "Guten Tag!"
Die beiden drehten sich ruckartig um. Hinter ihnen stand ein ihnen sehr bekannter Mann, der einmal mehr zwei Armbrüste auf sie richtete.
"Ivel!?", riefen sie gleichzeitig (Kalessan und Karlmax, nicht die Armbrüste).
"Nein, ich bin Esöb, der Zwillingsbruder von Ivel, den ihr so hinterhältig ermordet habt. Dafür werdet ihr mir bezahlen!"
"Wir haben gar kein Geld dabei, das wurde uns gestohlen!", antwortete Karlmax schnell, "Außerdem haben wir ihn nicht umgebracht!"
"Du hörst besser auf, mich für dumm zu verkaufen!"
"Er hat Recht, wir haben ihn nicht umgebracht. Nicht direkt zumindest.", warf Kalessan ein.
"Wenn ihr es nicht wart, wer dann?"
"Ich könnte euch jetzt die Wahrheit erzählen und sagen, dass Ivel von einer Münze getötet wurde, die mehrere hundert Meter weit fiel, eine irrsinnige Geschwindigkeit entwickelte und seinen Kopf durchbohrte. Würdet ihr mir glauben?"
"Das geschah vor der Magierakademie?"
"Ja."
"Oh diese verdammten Studenten! Eines Tages verpasse ich denen für ihre dummen Streiche eine Tracht Prügel, die sich gewaschen hat! Wie dem auch sei, ich danke euch für eure Hilfe. Jetzt muss ich euch aber leider bitten, mit mir mitzukommen – wir haben euch bereits erwartet."
Er deutete höflich auf die Tür am anderen Ende des Raumes.
Angesichts der Armbrüste blieb den beiden wohl keine Wahl. Sie setzten sich in Bewegung, öffneten die Tür und liefen den dahinter liegenden Gang hinunter. Esöb ging direkt hinter ihnen, stieß aber immer wieder mit dem geistlosen Smahug zusammen, der noch hinter Karlmax hing – und das brachte ihn langsam aus der Fassung: "Müssen diese neun Zombies denn unbedingt hinter dir herlaufen? Öffne die Tür!"
Karlmax tat wie ihm geheißen und öffnete die Tür neben ihm. Dahinter lag ein leerer, kleiner Raum.
"Binde sie ab und führe sie da hinein!"
Nachdem Karlmax auch das ausgeführt hatte, erkundigte sich Esöb: "Und sie können sich nicht aus freiem Willen weiterbewegen?"
"Anscheinend nicht, nein."
"Gut. Weiter!"
Einmal mehr markierte eine dieser langweiligen Holztüren das Ende des Ganges.
"Da durch!"
Hinter dieser letzten Tür wartete eine echte Überraschung auf Kalessan und Karlmax: Es handelte sich hierbei nicht um einen weiteren, kleinen, leeren Raum, sondern um eine Halle von relativ beachtlichen Ausmaßen. Überall standen Tische herum, auf denen, wie es sich für ein ordentliches Magierlabor gehört, verschiedenste Gerätschaften und vor allem Dutzende Reagenzgläser standen, die mit allerlei Flüssigkeiten gefüllt waren, deren Farbspektrum es einmal mehr schon fast mit dem der Drachen aufnehmen konnte.
An einem der Tische und neben einem großen Eisenkäfig stand mit dem Rücken zu ihnen Saurudalf. Vor ihm war das Prettschett positioniert. Saurudalf fluchte: "Verdammt!"
Kalessan antwortete: "Ihr wisst nicht, wie man es bedient, hm? Lasst mich raten: Es liegt an diesen komplizierten ausländischen Anleitungen, die kein Normalsterblicher verstehen kann, nicht wahr? Achso, ihr habt es ja selbst gebaut…ich vergaß…"
Saurudalf drehte sich um.
"IHR! Ich…äh…ich habe euch schon erwartet! Besonders…MEIN SEKRETÄR? Was zur Hölle willst du hier, Karlmax? Und wo ist der Rest von dem Drachengesocks?"
"Die habt ihr mit euren Mätzchen in den Wahnsinn getrieben, sodass sie jetzt glauben, sie wären Menschen. So etwas finde ich sehr unschön von euch… Ich dachte, ihr wolltet aus dieser Stadt einen lebenswerten Ort machen!", antwortete Karlmax – seine Naivität war doch wirklich zu niedlich.
"Die anderen habe ich in eine unserer Zellen gesperrt – wie er sagt, sie waren völlig geistlos…", sagte Esöb.
"Hm…interessant! Sagt mir, um noch einmal auf den Beginn unseres Gespräches zurück zu kommen, Drache, was meintet ihr damit, dass ich nicht wüsste, wie man das Prettschett bedient?"
"Wir haben euch doch gesagt, dass sich unsere Magie von der euren unterscheidet. Das Ding da hat keinerlei Nutzen für euch, solange ihr die Funktionsweise unserer Magie nicht versteht."
Saurudalf kniff die Augen zusammen und schenkte Kalessan den bösen Blick, was diesen natürlich wenig beeindruckte.
"Nun, ich lerne schnell. Ihr seid nicht zufällig bereit, es mir zu erzählen?"
Kalessan lächelte den Magier an.
"Nun gut, dann werde ich mich woanders erkundigen gehen."
"Da bin ich ja mal gespannt, wie ihr das anstellen wollt. Wenn nicht gerade Smahug wieder ein loses Mundwerk gehabt hat, dürfte dieses Geheimnis kaum in einer eurer billigen Schriften niedergeschrieben sein. Und bei dieser Angelegenheit bin ich mir ziemlich sicher, dass sogar er die Klappe halten kann." antwortete Kalessan.
Saurudalf lächelte den Drachen an.
"Er hat geredet, nicht wahr?", sagte Kalessan
"Ganz in der Nähe von Neudorf gibt es einen alten Tempel mit einer großen Bibliothek. Und rein zufällig gibt es meines Wissens nach in dieser Bibliothek auch ein Buch über "Die Geheimnisse der Drachenmagie" – verfasst mit Hilfe von Smahug, dem Weisen…"
Kalessan spitzte die Lippen und ging dann mit seinem Gesicht in eine wütend-enttäuschte Grimasse über. Er sah ungefähr so aus, als hätte ihm jemand eine Stunde lang ohne Unterbrechung ins Gesicht geschlagen.
"Ähm, Meister?", fragte Esöb.
"Ja?"
"Meint ihr den Tempel, der im Dunklen Sumpf im Norden liegt?"
"Ja!"
"Ich halte es für gefährlich, dort hinzureisen. Der Tempel ist im letzten Monat wieder einige Meter gesunken, habe ich gehört. Viele der örtlichen Mönche haben ihn schon verlassen, weil er jetzt jederzeit untergehen könnte…"
"Ach, Quatsch! So lange wird er ja wohl noch halten. Ich brauche höchstens zwei Tage bis dahin. Und für meine Studien benötige ich auch nicht viel Zeit. Doch bevor ich abreise, habe ich noch etwas zu erledigen…", sagte Saurudalf mit einem bösen Blick auf Kalessan und Karlmax.
An seinen Sekretär gewandt sagte er dann: "Zunächst einmal: Du bist gefeuert! Und dann habe ich mir für euch beide schon ein wundervolles Schicksal ausgedacht. Ich werde an euch beiden meine neueste und bösartigste Errungenschaft einweihen und euch in einen großen Bottich stecken, der bis zum Rand gefüllt ist mit kochender, brodelnder, alles auflösender…", er machte eine dramatische Pause, "ASCORBINSÄURE!"
"Ähm…Meister?"
"Ja, was ist?"
"Ähm, das mit dem Kochen und Brodeln und dem Alles-auflösen stimmt nicht so ganz…"
"Bitte…was?"
"Nun…es handelt sich nicht um eine aggressive Flüssigkeit, wie ihr vielleicht annehmt, sondern eher um…um…um…ein Pulver…"
"Ein Pulver…"
"Ein Pulver."
"Ich hatte dir doch aufgetragen, Säure für meine Folterkammer zu beschaffen!"
"Ja – und ihr hattet mir auch aufgetragen, möglichst die billigste Säure zu besorgen, die ich finden könnte. Und das war nunmal Ascorbinsäure."
"Kann man das Pulver vielleicht in Wasser lösen und so eine kochende, brodelnde und alles auflösende Säure schaffen?"
"Nein, das habe ich schon versucht."
Saurudalf schloss die Augen, presste die Zeigefinger an die Stirn, massierte sich die Schläfen und atmete ruhig ein und aus. Dann sagte er: "Nun gut…vielleicht ist es ja besser so.", er wandte sich an Kalessan, "Jetzt kann ich euch noch damit quälen, wie ich eure eigene Magie benutze, um euch langsam zu Tode zu foltern… Esöb, du wirst diese beiden hier in den Eisenkäfig sperren und sie so lange bewachen, bis ich wieder da bin – verstanden?"
"Ja, Herr."
"Diese Aufgabe ist auch wirklich nicht zu schwer für dich?"
"Nein, Herr."
"Du wirst dich auf diesen Stuhl setzen und diese beiden nicht aus den Augen lassen?"
"Ja, Herr. Nein, Herr."
"Gut."
Saurudalf drehte sich ohne ein weiteres Wort um und stürmte aus der Halle hinaus.
"Es war irgendwas mit ‚…ein‘ hinten dran…", sagte sich Karlmax.
Er saß nun schon seit ungefähr zwei Stunden zusammen mit Kalessan in dem Eisenkäfig und nutzte die Zeit, um sich über das Problem Gedanken zu machen, welches ihn schon seit einiger Zeit beschäftigte.
Kalessan saß ebenfalls in Gedanken versunken neben ihm.
"Wisst ihr vielleicht noch ein Wort mit ‚…ein‘ hinten dran?", wandte Karlmax sich an den verwandelten Drachen. Dieser saß jedoch nur da und starrte ins Leere.
"Ähm…Kalessan?", fragte Karlmax und streckte die Hand aus. Er zögerte kurz, in dem Bewusstsein, dass sein Vorhaben einem Selbstmord gleichkommen könnte – dann rüttelte er den Drachen an der Schulter. Nichts geschah.
"Kalessan? Hallo! Aufwachen! Oh, verdammt…"
Das war ein schlechtes Zeichen. Kalessan war unübersehbar geistig abwesend.
Karlmax suchte nun nach der Lösung von einem ganz anderen Problem. Er tastete seine Taschen nach Geld ab, doch seine Unterbezahlung machte sich in gefundenem finanziellem Nichts recht deutlich bemerkbar.
Er fragte den in der Nähe auf einem Stuhl sitzenden Esöb, der gerade in einer Schriftrolle las, die mit "Das Sally-Magazin" betitelt war: "Ähm habt ihr vielleicht kurz eine Münze oder ein Goldstück für mich? Ihr bekommt es auch gleich wieder."
Esöb sah kurz auf: "Ich soll dich wohl noch dafür bezahlen, dass du da drinnen sitzt? Vergiss es!"
Dann wandte er sich wieder seiner Schriftrolle zu. Auf einmal wurden seine Augen groß. Er drehte die Schriftrolle um 90 Grad. Seine Augen wurden noch größer. Esöb schaute wieder auf Karlmax und machte den Mund hastig auf und zu: "Ent…ent…oh…oooh….entschuldige mich, ich habe…oohhoohh…kurz was zu erledigen!"
Dann stand er schnell auf, rannte mit der Schriftrolle vor den Augen zunächst gegen eine geschlossene Tür, öffnete sie dann, ging hindurch und schloss sie wieder. Dann waren nur laute Oh..oohh…ohhohhhhoooohhhhs aus dem Raum dahinter zu hören.
Karlmax dachte weiter nach, wie er Kalessan aus seiner Lethargie reißen könnte. Da kam ihm eine weitere Idee.
Er ging zu Kalessan und öffnete dessen Mund und legte ein paar seiner Finger hinein.
"Na, schmeckt euch das?"
Keine Reaktion.
Zur Standardausstattung eines Bürgers, der in einer Stadt wie Neudorf wohnt, gehört immer ein Messer. Das ist so selbstverständlich, dass es nicht einmal von den örtlichen Bösewichten und Schurken bei Durchsuchungen abgenommen wird. Es gibt sogar ein Gesetz, das alle Bürger von Neudorf verpflichtet, immer ein Messer dabei zu haben. Wenn man jemandem sein persönliches Messer entwendet, droht dem Dieb darauf die Todesstrafe. Das reduzierte die Gerichtsverfahren wegen vorsätzlichem Mord ganz erheblich, da nun jeder Mörder auf "Verteidigung aus Notwehr" plädieren konnte.
Jedenfalls holte Karlmax sein ganz persönliches Messer aus dem Ärmel, zögerte kurz, biss dann die Zähne zusammen und schnitt sich in den Arm.
Dann ließ er das Blut in Kalessans geöffneten Mund laufen.
Zunächst gab es wieder keine Reaktion. Dann schloss sich Kalessans Mund plötzlich um die Wunde und begann zu saugen.
"AUA!", rief Karlmax, zog den Arm schnell weg und legte sich dann erschrocken die Hand auf den Mund, in der Annahme, Esöb könnte etwas gehört haben.
Kalessan starrte ihn zunächst an, als ob er ein saftiges Stück Fleisch wäre. Dann schaute er ihn völlig verwirrt an und schließlich betrachtete er ihn so, wie er ansonsten immer nur…Karlmax anstarrte. Sein Blick fiel auf dessen Schnittwunde.
Er runzelte die Stirn und schien erneut ins Leere zu starren. Als Karlmax schon dachte, seine schmerzhafte Aktion hätte doch keinen Erfolg gehabt, sagte Kalessan:
"Warum tust du das? Du hast mich vorher noch nie getroffen. Du weißt nicht mal mehr, ob ich die Wahrheit sage und wirklich ein Drache bin… Außerdem war ich nicht gerade nett zu dir – und dennoch machst du das alles hier mit, um mir zu helfen. Warum?"
Karlmax zuckte mit den Schultern: "Nun, sogar Saurudalf sagt, dass ihr ein Drache seid – warum sollte er sonst so etwas behaupten? Vielleicht helfe ich euch aber auch nur deswegen, weil ich schon immer einem Drachen begegnen wollte – weil ich schon immer mal auf einem Drachen reiten und die Welt von oben sehen wollte…ich bin wahrscheinlich nur wieder zu naiv…"
"Allerdings! Schon Pläne, wie wir hier herauskommen?"
"Nun…nein! Ich dachte vielleicht, dass ihr…"
"Kalessan! Karlmax!", rief eine Stimme von der Tür her, durch die sie den Raum betreten hatten. In ihr stand Smahug.
"Was macht ihr denn da drinnen?"
Kalessan antwortete: "Smahug! Geht es dir wieder besser?"
Der Drache kam näher an den Käfig heran: "Ging es mir denn je schlecht? Daran kann ich mich schon gar nicht mehr erinnern…"
Kalessan seufzte: "Nicht schon wieder…Smahug, sag mir: Was bist du?"
"Wie…was bin ich?"
"Welcher Spezies gehörst du an?"
"Ich bin natürlich ein Mensch! Was ist denn das für eine seltsame Frage?", antwortete Smahug fröhlich.
Kalessan senkte resigniert den Kopf und seufzte erneut – diesmal war sich Smahug anscheinend sicher. Dann schreckte er auf: "Karlmax, wo ist dieser Esöb hin?"
"Oh, der ist wahrscheinlich gerade auf der Toilette und schaut sich schmutzige Schriftrollen an…", antwortete dieser.
"Warum muss er dazu auf die Toilette? Warum geht er nicht in die Eingangshalle und nimmt eine der sauberen Schriftrollen?"
"Vergesst es! Smahug, könntet ihr bitte das Schlüsselbund dort nehmen und die Tür dort drüben abschließen? Das würde uns ein paar Probleme ersparen…", Karlmax zeigte auf die Schlüssel und die Tür.
"Was ist denn hinter…"
"Halt den Mund und tu es einfach! Wir wissen nicht, wann er wieder zurück kommt!", sagte Kalessan.
Smahug hob abwehrend die Hände: "Nein! Nicht in diesem Tonfall! Ich möchte zuerst das Zauberwörtchen hören!"
"Abrakadabra!"
"Du weißt, welches Wort ich meine!"
"Er hat es doch eben gerade gesagt!", stöhnte Kalessan und deutete auf Karlmax.
"Ich möchte es aber von dir hören!"
Kalessan seufzte: "Würdest du BITTE zu diesem Tisch dort gehen, BITTE das Schlüsselbund welches dort liegt aufnehmen, dich BITTE zu dieser Tür dort drüben bewegen und sie dann BITTE abschließen, WEIL UNSER VERDAMMTES LEBEN DAVON ABHÄNGT!"
"Aber natürlich, mein Freund!", antwortete Smahug fröhlich und setzte sich in Bewegung.
"Oh…das ist so erniedrigend!", stöhnte Kalessan.
Smahug probierte einige der Schlüssel aus und fand schließlich den richtigen. Kurz nachdem er ihn umgedreht hatte, wurde die Klinke von der anderen Seite heruntergedrückt.
Smahug rief: "Hahaahaaa, wir haben dich eingeschlossen, du Bösewicht!"
Esöb antwortete: "Och Mist…dann geh ich halt noch mal auf die Toilette…"
Kalessan und Karlmax befanden sich wieder auf dem Weg zur Oberfläche.
Hinter ihnen liefen die neun nun mehr als aufgeweckten Mitglieder des Rates. Sie benahmen sich wie Kinder, die gerade durch das größte Spielwarengeschäft der Welt liefen – und dabei war es nur eine stinkende Kanalisation…
"Was war eigentlich der Grund für ihren langen Aussetzer vorhin?", erkundigte sich Kalessan.
"Ich vermute, dass sie sich in einem inneren Konflikt befanden, in dem ihre alten Erinnerungen und ihr neues, menschliches Ich gegeneinander ankämpften. Eine Vergangenheit als Drache und eine Zukunft als Mensch lässt sich nunmal nicht unter einen Hut bringen. Nun, das Ergebnis dieses Konfliktes liegt hier gut sichtbar vor uns. Sie scheinen nun hyperaktiv zu sein und all die neuen Eindrücke in sich aufzunehmen, als müssten sie ihr verlorenes Gedächtnis mit Erinnerungen aller Art füllen…"
"Aber du bist dir sicher, dass sie ihre Erinnerungen von vor der Verwandlung alle wieder zurück erhalten?", fragte Kalessan.
"Ich bin mir in gar nichts sicher – ich bin mir nicht einmal mehr sicher, ob man sie überhaupt zurückverwandeln kann!", kam Karlmax‘ Antwort.
"Du wirst ja richtig aggressiv, Kleiner – so gefällst du mir!", erwiderte Kalessan mit einem Grinsen.
"Und warum geht es euch auf einmal wieder so gut? Ihr hört euch nicht so an, als wäret ihr noch vor einigen Minuten kurz davor gewesen, eure Existenz aufzugeben…", fragte Karlmax.
"Du hast Blutgruppe 0 negativ?"
"Woher…"
"Meine Lieblingsblutgruppe – lass es mich so sagen: Dafür lohnt es sich wirklich, weiter als Drache zu existieren!", antwortete Kalessan weiterhin grinsend. Dann wurde er schlagartig ernst, blieb stehen und sah Karlmax lange und seltsamerweise völlig ohne Aggressivität im Blick in die Augen.
"Danke!", sagte er dann – und ging weiter.
Karlmax sah ihm nach.
An der Oberfläche angekommen machten sie sich auf die Suche nach dem erstbesten Stall, der Pferde verleihen konnte. Auf dem Weg zu "Rudy’s Rappen" in der Stinkegasse, dem einzigen Pferdestall der auch richtige Pferde anbot, kamen sie einmal mehr an dem großen Platz vor der Magierakademie vorbei. Auf dem Platz stand eine derartig große Menschenmasse, dass es unmöglich war, den Platz zu überqueren, wenn man nicht gerade ein Bulldozer war.
Die Menge bestand nahezu ausschließlich aus menschlichen Männern im jungen bis mittleren Alter, die alle in voller Rüstung und bewaffnet waren. Sie standen halbkreisförmig um den Eingang der Magierakademie. Alle schauten einen kleinen Holzpodest vor dem Eingang an, auf dem ein Redner stand – es war Saurudalf.
Mit lauter Stimme verkündete er etwas: "…und deswegen benötige ich mindestens ein Viertel von euch, damit wir uns zusammen einen Weg durch die Armee schlagen können. Diejenigen unter euch, die diese Aktion überleben, werden reich belohnt werden!"
Karlmax fragte einen in der Nähe stehenden Soldaten: "Was ist denn los? Was für eine Armee meint er?"
"Neudorf wird von der Armee des Schräckelichen Haramasch belagert. Seine Truppen haben bereits die gesamte Stadt umzingelt und man kann nun weder in sie hinein noch aus ihr heraus…deswegen möchte der Bürgermeister jetzt losziehen, um Hilfe zu holen. Doch dazu braucht er halt ein paar Männer, um sich eine Schneise zu schlagen."
"Aber wie kann so eine Armee unbemerkt bleiben? Warum wurden wir nicht vorgewarnt?"
"Keine Ahnung…wahrscheinlich haben all die Händler, Kundschafter und Reisenden nur wieder vergessen, uns davon zu erzählen – das hatten wir schon einmal.", der Soldat zuckte mit den Schultern.
"Wie groß ist denn Haramaschs Armee?"
"So an die 1.000 Mann…"
"Hm, das geht ja noch.", erwiderte Karlmax erleichtert.
"Ja, wenn man die restlichen 99.000 Amazonenkämpferinnen seiner Armee nicht mitzählt – die sind alle anscheinend völlig begeistert von Haramasch…"
Karlmax klappte die Kinnlade herunter.
Kalessan sagte: "Diese Armee ist kein Problem für uns, sobald wir unsere Magie wieder haben. Komm mit!"
Er packte Karlmax am Ärmel und zog ihn mit sich durch die Menge – die anderen Drachen folgten brav. Wenigstens gab es diesmal wirklich was zum Glotzen…
Nach einigen Minuten voller Schubsen und Drängeln gelangte Kalessan mit seinem Anhang dem Holzpodest schon sehr nahe. Leider fielen die Drachen mit ihren farbigen Roben in der Menge so stark auf, wie ein Pottwal im häuslichen Wohnzimmer. Ihre Ankunft blieb bei Saurudalf also nicht unbemerkt.
"Ihr da! Bringt mir diese komischen Vögel in ihren bunten Roben hier her und haltet sie hier fest!"
Wenige Sekunden später sahen sich die Drachen mit Saurudalf konfrontiert und von einer Horde feindlicher Soldaten umzingelt.
"Ich weiß nicht, wie ihr euch befreien konntet…aber ich werde euren Tod nicht weiter hinauszögern! Soldaten! Bringt sie um! Hier und jetzt, vor meinen Augen!", rief Saurudalf.
"Aber Herr, warum sollen wir sie umbringen? Sie haben euch doch gar nichts getan!", erwiderte einer der Soldaten. Die anderen nickten zustimmend.
"Doch, haben sie – was wagt ihr eigentlich, meine Autorität in Frage zu stellen!?"
"Wir möchten ja nur wissen, was sie euch getan haben."
"Siiieee…sind bei mir eingebrochen und…und haben versucht mich zu bestehlen.", Saurudalf war sichtlich stolz darauf, dass er seinem Publikum zumindest eine Halbwahrheit präsentiert hatte.
"Wir wollten uns aber nur das zurückholen, was uns gehört!", schrie Kalessan den Magier an.
Einer der Soldaten sah den Drachen an und wieder zu Saurudalf zurück: "Stimmt das, was er sagt?"
Saurudalf lief rot an: "DAS IST DOCH WOHL VÖLLIG EGAL, JETZT BRINGT DIESE MISTKERLE ENDLICH UM!"
"Oh nein, so kommen wir erst gar nicht ins Gespräch.", antwortete der Soldat und wandte sich wieder an Kalessan, "Was hat euch Saurudalf denn abgenommen?"
"Wenn ich dir erzählen würde, dass ich und meine neun farbigen Kollegen hier Drachen sind, deren Magie von Saurudalf gestohlen wurde, wodurch sie jetzt in diesen Menschenkörpern feststecken – würdest du mir dann glauben?"
Der Soldat schrak zurück: "Das ist ja ein unglaubliches Vergehen! Werter Bürgermeister, bevor wir euch in eurem Vorhaben unterstützen können, muss ich euch eindringlich darum bitten, diesen Herren hier ihre Magie zurück zu geben!"
Saurudalf sah so aus, als würde er gleichzeitig kurz vor dem größten Heulkrampf und dem schwersten Wutausbruch in der Geschichte der Menschheit stehen.
So ist es äußerst bewundernswert, dass er es schaffte, sich zusammenzureißen. Jedenfalls schrie er nicht groß herum und brachte alles um, was ihm im Wege stand.
Vielmehr hob er beide Hände. Sie begannen zu leuchten.
"Vielleicht kann ich euch Drachen mit Magie nicht verletzten – aber eurem Freund und dem Großteil der anderen Menschen hier würden ein paar ordentliche Stromschläge sicherlich…schlecht tun. Deswegen tut ihr alle gut daran, mich jetzt durch zu lassen – und wehe euch, ihr versucht, mich anzugreifen oder ihr verfolgt mich…ihr möchtet nicht wissen, was dann passiert!", sagte er.
Kalessan schnaubte verächtlich. Sollte er jetzt der Beschützer dieser Menschen sein? Das wurde wirklich immer und immer besser… Er tröstete sich jedoch damit, dass seine eigene magische Immunität nun wahrscheinlich auch verschwunden sein würde und trat beiseite.
Eine kleine Gasse bildete sich in der Menge. Saurudalf bewegte sich zügig durch die Masse, die Hände leuchtend im Anschlag gehalten. Am Rande des Platzes angekommen, rannte er los.
"VERDAMMT!", schrie Kalessan und stampfte mit dem Fuß auf.
Karlmax versuchte, ihn zu beruhigen: "Ruhig Blut, Kalessan! Er kann ohne Hilfe nicht aus der Stadt raus, er ist uns hier ausgeliefert."
"Du vergisst den netten Herrn Haramasch und seine Feministentruppe, Kleiner. Allzu viel Zeit haben wir in dieser Hinsicht sicherlich nicht mehr."
Die Menge auf dem Platz begann sich langsam aufzulösen – die Soldaten waren anscheinend auf dem Weg, um die Stadtmauern zu bemannen und der aufkommenden Belagerung zu trotzen.
Karlmax sagte: "Das mit dem Krieg lasst mal meine Sorge sein!"
Er stieg auf den Podest und richtete sich lauthals an die Menge: "Ähm…Hallo? Könnte mir mal bitte jemand zuhören?"
Jemand in der Menge schien ihn tatsächlich bemerkt zu haben: "Hey Leute, schaut mal, da steht noch jemand auf dem Podest!"
Zustimmende Rufe ertönten aus anderen Teilen der Masse: "Ja, stimmt!", "Der hat sicher was zu sagen!", "Komm, sprich zu uns!", "Ja, genau, sprich zu uns!"
Der Platz füllte sich wieder genauso schnell mit Soldaten, wie er sich geleert hatte – anscheinend war jede Möglichkeit, die unangenehme Arbeit auf der Mauer noch ein wenig hinauszuzögern, äußerst willkommen.
"Ähm…hört mich an, oh Soldaten von Neudorf!", rief Karlmax in übertriebener Betonung.
Ein Blick in die Menge verriet ihm, dass diese Art der Rede nicht sehr gut ankam. Also machte er normal weiter: "Passt auf, ich weiß, wie ihr die Invasion auf unsere Stadt verhindern könnt!"
"Hört hört!", kam die Antwort aus dem Publikum.
"Diese letzten 24 Stunden hat mir eines klar gemacht: Die physische Projektion des eigenen Ich ist rückkoppelnd auf die Gedanken des betroffenen Individuums!"
Stille.
Kurze Ansätze eines halbherzigen "Hört…" waren zu vernehmen.
"Ähm…was ich sagen möchte, ist: Das, was man glaubt zu sein, das ist man auch. Das, was man weiß, das kann auch nicht falsch sein. Wenn wir jetzt einfach annehmen…nein, wenn wir wissen, dass diese Armee gar nicht da draußen steht – dann wird sie auch nicht mehr da sein, wenn wir nachsehen. Jetzt wissen wir noch, dass Haramasch mit seinen Horden da draußen wartet. Wenn wir jetzt anfangen zu wissen, dass alles seinen gewohnten Gang geht, dann kann doch gar keine Barbarenhorde existieren. Denn wir wissen, dass sie nicht existiert!", Karlmax‘ Versuch den Soldaten seine Gedankengänge zu erklären war ähnlich hilflos wie der eines Hochschullehrers, der Quantenphysik in einer Vorschulklasse unterrichten soll.
Dennoch sprangen die Soldaten auf seinen Vortrag an – wenn auch nicht so, wie sich Karlmax das vorgestellt hatte: "Hey, der Typ da scheint intelligent zu sein, das stimmt sicher, was der sagt!", "Ja, genau!", "Hey, ich weiß gar nichts von eine Barbarenhorde, die vor unserer Stadt campt und uns zu überrennen droht!", "Was für eine Barbarenhorde?"
Die Menge begann sich auf unter fröhlichem Gelächter aufzulösen.
Kalessan stellte sich neben Karlmax. Aus der absoluten Leere seines Gesichtsausdruck konnte man nur ansatzweise das herauslesen, was er über das eben Gesehene dachte.
Er sagte zu Karlmax: "Eine Frage…eine einzige Frage, dich mich Zeit meines Lebens beschäftigt hat: Ihr existiert erst seit wenigen Jahrtausenden. Ihr vermehrt euch schneller als die Karnickel. Ihr nehmt mit euren Städten und Burgen drei Viertel der gesamten Landmasse des Planeten ein. Ihr seid die erfolgreichste Spezies, die diese Welt je hervorgebracht hat…
Warum?"
Karlmax sah ihn an und lächelte – es war, als ob die Rollen getauscht wurden – und sagte: "Wir wissen halt sehr viel…"
Und dann stand Esöb vor ihnen. Er hatte eine riesige Armbrust in der Hand. Wie man unschwer erkennen konnte, war sie jedoch ein wenig modifiziert: Die Waffe war mit lauter Zahnrädern versehen und hatte statt einem Abzug eine große Kurbel, sowie ein langes, ledernes Band, welches an der Seite des Geschützes herunter hing und in dem viele weitere großkalibrige Armbrustbolzen steckten.
Er trieb die Drachen auf dem Podest zusammen und begann, böse zu grinsen.
"So…ich denke mal, ich habe jetzt die Erlaubnis von Saurudalf bekommen, euch mit meinem kleinen Baby hier umzulegen. Noch ein paar obligatorische letzte Worte?"
Kalessan bemerkte ein vertrautes altes Aufblitzen über sich und sah nach oben. Dann rief er: "Ja: ALLE IN DIE AKADEMIE!"
Esöb sah ebenfalls nach oben – diesmal war das Blitzen nicht einfach, sondern gleich dutzendfach. Und während sich die Drachen in die Akademie zurückzogen, fluchte er seine eigenen letzten Worte: "Oh, diese verdammten Studenten!"
Und dann war da wieder dieses wundervolle Geräusch:
Wupwupwupwupwupwupflatschpling
wupwupflatschpling
wupflatschpflatschplingpling
wupwupwupflatschpling
Es sah aus wie eine realistische Version des Märchens vom Sterntaler.
Die Drachen beobachteten das Schauspiel teils angewidert, teils belustigt.
Kalessan sagte: "Diese Studenten gefallen mir…sie haben genau das richtige Timing!"
Zur gleichen Zeit, außerhalb der Stadt:
Die gigantischen Horden des schräckelichen Barbaren Haramasch bereiteten sich auf ihren Sturm auf Neudorf vor.
Junge Männer machten sich bereit, für ihren Führer in den gegnerischen Pfeilhagel zu laufen und schoben den riesigen Rammbock in Richtung des großen Holztores der Stadt. Hinter ihnen folgten die ersten Wellen von Kriegerinnen und Bogenschützinnen.
Über Steine und Äste rollte der gigantische Baumstamm, auf welchem vorne ein Eisenkopf in Form eines riesigen Geschlechtsteiles aufgesteckt war – das Zeichen des Schräckelichen Haramasch. Es hatte schon seine Gründe, warum ihm die Frauen wortwörtlich in Scharen hinterher liefen.
Die Männer hatten das Stadttor erreicht. Auf Kommando holten sie mit dem schweren Baumstamm aus und ließen ihn gegen das Tor krachen. Die Erschütterung und der Lärm mussten durch die gesamte Stadt zu hören sein.
Ein weiteres Mal schmetterte der eiserne Wille Haramaschs gegen die schutzlosen Tore Neudorfs. Da rief einer der Männer, die das Gerät bedienten: "STOP! STOP! Ist euch eigentlich nichts aufgefallen?"
"Hey, an dem Rammbock da vorne steckt ja ein…"
"Nein, das meine ich nicht, Idiot! Wir müssten doch jetzt eigentlich von siedendem Öl übergossen und von Pfeilen überschüttet werden, oder?"
Zustimmende Rufe ertönten von den anderen Männern. Der Redner ging ein paar Schritte zurück, hob die Hände trichterförmig vor den Mund und rief lauthals: "HAAALLOOO! IHR DA! GEHT ES LANGSAM MAL LOS HIER?"
Keine Antwort.
"IST ÜBERHAUPT JEMAND ZU HAUSE?"
Keine Antwort.
Der Mann stapfte wieder zurück zu seinen Kollegen.
"Na toll, keiner da. Da gibt es endlich mal eine Sache, für die man ordentlich sterben kann und dann…"
"Ja, genau! Ich hatte mich schon so gefreut, heldenhaft für die Eroberung dieser Stadt draufzugehen."
"Und meine Familie braucht das Geld von meiner Lebensversicherung!"
"Von deiner was?"
"Ähm…das ist, wenn…wenn…wenn du…nein…ähm, pass auf, das funktioniert so: Wenn du…ähm…stirbst und du…und du so eine Versicherung…ähm…äh…ach, vergiss es!"
"Was ist hier eigentlich los, ihr maskulinen Faulpelze?", brüllte eine heran marschierende Kommandantin.
"Die Neudorfer wollen nicht kämpfen!"
"Was?"
"Die reagieren einfach nicht auf unsere Attacken!"
"Ist doch wunderbar, da bleibt ihr noch ein bisschen länger am Leben."
"So macht es aber keinen Spaß!", sagte einer der Soldaten enttäuscht.
"Hm…da hast du auch wieder Recht.", stimmte die Kommandantin zu.
"Und was machen wir jetzt?"
"Tja, ich würde sagen, diese Party ist gelaufen…kommt, wir suchen uns eine andere Stadt – ich sage noch schnell Haramasch Bescheid!"
"In Ordnung!", "Bis nachher!", "Tschau!", "Ssih Juh!", "Wir sehn uns!", "Bai bai!"
Es war eine fröhliche Soldatentruppe.
Kalessan schaute vorsichtig über die Mauer.
"Ich glaube es einfach nicht – die ziehen tatsächlich ab! Woher zur Hölle wusstest du, dass das passieren würde?"
Karlmax zuckte mit den Schultern: "Einen Versuch war es doch wert, meint ihr nicht auch?"
Jemand zupfte ihn am Gewand: "Ähm…Entschuldigung?
"Was ist…Neidhöcker?"
"Mooooment! Woher willst du wissen, dass das da Neidhöcker ist und nicht Droca?", unterbrach ihn Kalessan.
"Aber ich bin Neidhöcker!"
Karlmax schaute Kalessan verwirrt an: "Das ist doch eindeutig. Er hat eine viel größere Nase als Droca, außerdem ist seine Stirn leicht gewölbt und er hat ein gut sichtbares Grübchen im Kinn. Mal ganz davon abgesehen, dass seine Haare blond und Drocas Haare eher dunkelblond sind… Das Einzige, was die beiden verbindet, ist die Farbe ihres Gewandes. Obwohl…Neidhöckers Robe ist eher bronze- und Drocas kupferfarben…"
"Ist dir gerade klar geworden, dass du das erste Wesen bist, das die beiden mit 100%iger Genauigkeit voneinander unterscheiden konnte?"
"Ähm…hallo?", sagte Neidhöcker, "Darf ich auch noch was sagen?"
"Jaja, nur zu…", antwortete Kalessan.
"Wir suchen doch nach diesem Saurudalf…wie wollen wir ihn jetzt finden?"
"Ich denke, wir sollten uns auf den Weg zu ‚Rudys Rappen‘ machen und versuchen, Saurudalf dort abzufangen."
Wenige Minuten später kamen sie an besagtem Ort an.
Es handelte sich…um einen Stall.
Ein ganz normaler Stall.
Er war im fackwerklichen Stil erbaut und hatte eine große, klassische Holztür als Eingang.
Keine architektonischen Verrücktheiten.
Keine durchgedrehten Menschen, die vor dem Stall herumliefen, noch durchgedrehtere Sachen machten und gar unaussprechliche Dinge taten.
Ein ganz normaler Stall.
Kalessan mochte den Stall.
An der Tür hing ein Schild:
Rudys Rappen
Inhaber: Rudy Maphrodit
Kalessan, Karlmax und der Rest betraten das Gebäude.
Es roch nach Pferd. Und auch ein wenig nach Eseln, Schweinen und zu groß geratenen Hunden. Sie alle standen in ihren Boxen rechts und links neben dem Hauptgang, welcher an einer Art Theke endete.
Dahinter stand ein muskulöser, ungewaschener und unrasierter Mann.
Der Stall war schon fast zu klassisch.
Karlmax sagte: "Hallo…ich nehme an, ihr seid Rudy?"
"Nennt mich Maphrodit!", kam die barsche Antwort.
"In Ordnung, Herr Maphrodit. Wir wollten nur fragen, ob hier vor kurzem ein junger, recht unauffällig gekleideter Mann vorbei gekommen ist."
"Geht’s vielleicht ’n bisschen präziser, Freundchen? Junge Männer, die unauffällig gekleidet sind, kommen hier nicht gerade selten vorbei."
"Ähm…wisst ihr zufällig, wie der Bürgermeister aussieht?"
"War vor ’ner Viertelstunde hier, der gute alte Saurudalf. Wollte mein schnellstes Pferd hab’n. Hab ihm hundert Goldstücke dafür abgeknöpft. Dabei sind se doch alle gleich schnell!", Herr Maphrodit lachte.
"Dann gebt uns euer zweitschnellstes Pferd!"
"Das kostet euch 90 Goldstücke!"
"20 Goldstücke!", warf Kalessan ein und setzte sofort seinen Lieblingsblick auf.
Herr Maphrodit zeigte sich allerdings als äußerst widerstandsfähig…
"Lass nich mit mir fälschen!"
Das verwirrte selbst Kalessan. Doch zum Glück kam ihm Tjamat zu Hilfe.
"Ooohhh, schaut mal, das süße Hündchen da!", sagte sie…er zu einem riesigen, bellenden Dobermann, der angestrengt an seiner Kette riss und versuchte, ihm die Kehle rauszureißen.
Der Fakt, dass da gerade eine Frau mit der tiefsten Bassstimme sprach, die Herr Maphrodit je gehört hatte, ließ dessen Unterkiefer runterklappen und brach seine psychische Widerstandskraft gegenüber Kalessans "Tu was ich die befehle!"-Blick. Diese taktische Schwäche wurde sofort ausgenutzt.
"10 Goldstücke!"
Herr Maphrodit nickte wortlos und murmelte: "Box 4…"
Kalessan sagte zu Smahug: "Du regelst das mit der Bezahlung. Zur Not bleibst du einfach so lange hier, bis ich wieder zurückkomme, ja?"
"In Ordnung, mein Freund!", antwortete dieser fröhlich.
Kalessan verzog säuerlich das Gesicht, drehte sich dann um und ging zur besagten Box. Karlmax folgte ihm.
"Was ist?", fragte Kalessan.
"Darf ich nicht mitkommen?"
"Zu zweit sind wir viel zu langsam – ich reite alleine."
"Aber ihr kennt nicht die geheime Abkürzung durch den Wald, so wie ich…", antwortete Kalessan mit einem Grinsen.
"Sag mal, woher kennst du eigentlich immer die beste Abkürzung, den exakten Weg zum Ziel und die richtige Erklärung für alles?"
"Wenn man nicht der Stärkste oder Schnellste ist oder enorme magische Fähigkeiten, sowie einen eisernen Willen oder wirtschaftliches Geschick hat, dann hat man in dieser Stadt keine Chance zu überleben. Also schafft man sich so viel Wissen an wie möglich, um den Großen und Starken nützlich zu sein."
Kalessan seufzte: "Wenn doch nur alle Menschen eine solche Einstellung hätten… Steig auf!"
Ihm gefiel diese Abkürzung nicht. Äste peitschten gegen sein Gesicht und Zweige rissen seine Kleidung auf. Warum musste er eigentlich reiten? Ach ja, weil Karlmax nicht reiten konnte – selbst er als Drache konnte das! Ein Transportmittel, das man fressen konnte, hielt er für eine praktische Erfindung.
Nach einer Ewigkeit, wie es Kalessan schien, kamen sie aus dieser Hölle von einem Wald heraus und auf offenes Gelände.
"Wohin jetzt?", rief Kalessan.
Doch sein Reitpartner antwortete nicht.
Der Drache drehte sich um, blieb jedoch bei der Hälfte der Drehung stecken. Genau parallel zu ihnen, vielleicht 50 Meter entfernt, ritt Saurudalf und starrte sie genauso dämlich an wie sie ihn. Dennoch reagierte er früher und gab seinem Pferd die Sporen.
Die Verfolgungsjagd ging nun über das offene Feld.
Saurudalf hatte sein Pferd anscheinend bereits ziemlich verausgabt, denn obwohl Kalessan und Karlmax zu zweit auf einem Ross saßen, gelang es ihnen, immer weiter und weiter aufzuholen.
Sie kamen näher und näher, bis auf eine Entfernung von 5 Metern, da schlug Saurudalf einen Haken und vergrößerte den Abstand wieder.
So ging das Spiel eine Zeit lang weiter. Immer wieder holten Kalessan und Karlmax auf. Ab und zu kamen sie sogar so nah heran, dass Karlmax nach Saurudalf greifen konnte. Doch dieser schlug immer wieder plötzliche Haken, was einmal sogar zur Folge hatte, dass Karlmax fast aus dem Sattel fiel.
Schließlich kamen Verfolger und Verfolgter an einen Fluss, der über eine Furt durchquert werden konnte. Saurudalf ritt vor und drehte am anderen Ufer um. Er hob etwas in die Luft – es war das Prettschett.
Er rief: "Wenn ihr ihn haben wollt – dann kommt und verlangt nach ihm!"
Karlmax rief zurück: "Heißt es nicht das Prettschett?"
Kalessan sagte zu ihm: "Können wir solche Debatten jetzt wohl mal bitte außen vor lassen?"
Dann ritt er los, durch die Furt. Auf halbem Wege hob Saurudalf auf einmal den anderen Arm und begann, einen seltsamen Singsang aufzusagen. Gleich darauf war ein lautes Rauschen zu vernehmen.
Kalessan ritt weiter, doch das Rauschen wurde schnell immer lauter und lauter. Mit letzter Kraft schob sich sein Pferd aus dem Fluss hinaus. Der Drache stürzte sich sogleich auf seinen Widersacher.
Die beiden Pferde gingen zu Boden.
Nach ein paar Sekunden legte sich der Staub.
Kalessan hatte Saurudalf am Boden festgenagelt. Dieser schaute ihn völlig verwirrt an: "Das…das ist aber nicht richtig! Ihr solltet voller Erstaunen in dem Fluss warten und dann hilflos von der gigantischen Flutwelle weggespült werden…"
Kalessan drehte sich um. Das Rauschen, das er gehört hatte, war nur der Wind gewesen. Doch da war auch eine Flutwelle. Sie war knapp einen Meter hoch.
"Ich bin beeindruckt…", sagte er. Dann holte er aus und schlug Saurudalf mit der Faust ins Gesicht, sodass dieser sofort bewusstlos wurde.
"Ähm…hallo? Könnt ihr mir mal helfen?", fragte Karlmax, der bäuchlings unter dem Pferd begraben lag.
Kalessan hörte nicht auf ihn. Er nahm das immer noch blau leuchtende Prettschett in die Hand und betrachtete es kurz.
Karlmax sah, wie er es zu Boden schmetterte und wie es zerplatzte. Das blaue Leuchten, das vorher immer so intensiv gewesen war ging in die Luft über und wurde sofort von Kalessans Körper aufgesogen. Die Bedienung des Prettschetts war doch einfacher, als er gedacht hatte…
Wie ein gigantischer Wirbelsturm rotierte die blau gefärbte Luft um den Drachen, ohne jedoch einen Ton hervorzubringen. Es war, als betrachtete man einen spektakulären Effektfilm, den man vorher auf "Stumm" geschaltet hat. Schon bald war nichts mehr von dem blauen Licht in der Luft um Kalessan vorhanden.
Und dann verschwand die Sonne.
Nein, sie verschwand nicht – sie war einfach weg.
An ihrer statt erhob sich eine riesige gelbe Mauer vor Karlmax‘ Augen. Es war Kalessans Unterbauch.
Der Drache hatte seine Flügel weit ausgebreitet und das Sonnenlicht schien durch die relativ dünnen Membranen.
Seine Arme hielt er so, als ob er die Welt umarmen wolle.
Die Augen waren geschlossen.
Es war die Pose, die Menschen einnahmen, wenn sie nach einem sehr langen und sehr unfreiwilligem Aufenthalt unter der Erde endlich mal wieder an die Erdoberfläche kamen und die Sonne sehen konnten.
Dann ertönte die Stimme des Drachen. Wie eine mächtige Orkanböe drückten die erzeugten Schallwellen Karlmax zu Boden.
"JAAAAA – DAS IST MACHT!"
Kalessan schlug die Augen wieder auf. Sein Blick fiel auf Karlmax. Mit einer Handbewegung schleuderte er das erschöpfte Pferd von seinem Körper herunter.
Der kleine Mensch rappelte sich auf und betrachtete den Drachen mit offenem Mund von oben bis unten.
"Ihr…ihr seid wunderschön…", hauchte er.
"Schön für dich, Wurm!", antwortete das gigantische Wesen in leiserem Tonfall, was allerdings auch schon ausreichte, Karlmax wieder zu Boden zu schmettern.
Der Drache machte nicht einmal eine Bewegung mit der Klaue, als er den Menschen in die Luft hob, welcher sich nun, von unsichtbaren Händen getragen, in einer Höhe mit Kalessans gigantischem Gesicht befand.
Das Gesicht grinste – Karlmax lächelte zurück.
"Du denkst also wirklich, ich hätte mich geändert…", sagte der Drache, diesmal in einem Tonfall, der in Karlmax‘ Ohren keine bleibenden Schäden hinterließ.
Das Lächeln auf dessen Gesicht erstarb sofort und wich einem verwirrten Blick.
"Was…was meint ihr damit?"
"Oh, komm schon – ich hatte dich für intelligenter gehalten. Denkst du wirklich, du kannst einen 3000 Jahre währenden Persönlichkeitszug von mir einfach umpolen? Ich dachte eigentlich immer, deine Naivität wäre nur oberflächlich. Jetzt hat sie dich in den Tod getrieben…"
"Ihr…ihr wollt mich jetzt umbringen? Einfach so umbringen? Ich habe euch das Leben gerettet! Ich habe euch eure Existenz bewahrt! Ohne mich wäret ihr gar nicht in der Gestalt, in der ihr euch momentan befindet!"
Kalessan lachte: "Oh, aber Selbstbewusstsein hast du dazu gewonnen – bravo! Weißt du…ich bin dir sehr dankbar, dass du mir mein Leben gerettet hast. Ich bin dir aber noch dankbarer für die erste richtige Mahlzeit seit langem, die du mir abgeben wirst. Und natürlich für dieses wunderbare Geschenk…diese unbändige Kraft, die nun durch meinen Körper fließt…"
"Ihr werdet den anderen Drachen ihre Magie doch zurückgeben…oder?"
"Ha, deine Naivität kennt wirklich keine Grenzen! Schau dir diese Trottel doch an! Einer ist unfähiger als der andere, kaum sind sie von dieser Kraft getrennt. Sie vergraben sich in sich selbst und akzeptieren ihr Schicksal – sie kämpfen nicht für ihre Existenz. Ich bin der Einzige, der würdig ist für diese Macht!"
"Aber…aber…", stammelte Karlmax, "Aber es ist nicht richtig! Es kann nicht einer alleine die gesamte Verantwortung übernehmen. Es kann nicht nur eine Meinung vertreten sein, eine Herrschaft oder ein überautoritäres Wesen."
"Deine kleinen Theorien können mir absolut egal sein, Wurm. Du warst zwar ein ganz schlaues Kerlchen, aber es kann mir egal sein, was die Welt über mich denkt. Was wollen sie denn alle gegen mich unternehmen? Endlich habe ich die Freiheit, zu tun und lassen, was ich will, unabhängig von den Entscheidungen irgendeines Rates und ohne die Möglichkeit, dass mir jemand in meine Angelegenheiten pfuscht!"
"Nun gut, dann fresst mich! Doch ich prophezeie euch eins: Wenn ihr nicht im Sinne eurer Untergebenen handelt, wovon ich stark ausgehe, dann werden sie sich eines Tages gegen euch aufheben – allesamt! Alle intelligenten Völker und Wesen dieses Planeten werden sich gegen euch auflehnen. Und dann habt ihr nur zwei Möglichkeiten: Entweder, sie finden einen Weg, euch umzubringen. Oder ihr schafft es, sie alle zu vernichten. Doch sagt mir: Lohnt es sich, alleine auf der Welt zu sein? Was nützt es, über die gesamte Welt zu herrschen, wenn es nichts mehr gibt, worüber man herrschen könnte? Eines Tages werdet ihr das einsamste Wesen auf diesem Planeten sein und dann werdet ihr wünschen, mich nicht gefressen und den Rat gerettet zu haben. Ich weiß, dass auch ihr von anderen Wesen abhängig seid. Ihr habt doch immer jemanden gebraucht, mit dem ihr euch auseinandersetzen konntet. Ich weiß, dass ihr die Konversationen und Streitigkeiten mit euren Kollegen im Grunde immer gemocht habt. Ohne sie wird es euch schnell langweilig werden."
Kalessan schnaubte: "Und woher willst du das wissen, Würmchen?"
"Ich weiß es einfach. So etwas habe ich im Gefühl! Und jetzt: Bringt es hinter euch!"
Karlmax Stimme zitterte kein bisschen – das tat schon sein Körper. Und sein Blick sah eisern in die gelb glühenden Abgründe seines Gegenübers, so wie es vor ihm noch niemand getan hatte.
Kalessan war beeindruckt.
"Ich bin beeindruckt!", sagte er, "Du versuchst nicht weiter, mich irgendwie umzustimmen. Du flehst nicht um dein Leben. Du bettelst nicht um Gnade oder um einen schnellen Tod, weil du weißt, dass es keinen Sinn hat. Ich bin nicht dumm, musst du wissen…und ich weiß, dass alles, was du gerade gesagt hast, vollkommen richtig ist."
"Also…was werdet ihr jetzt tun?", fragte Karlmax.
Kalessan lächelte.
"Sagt, werter Herr, was ist das da für ein Ding, was ihr in den Händen haltet?", fragte Tjamat den Herrn Maphrodit höflich.
"Dassis ’ne Armbrust, du Ausjeburt der Hölle! Noch ein Wort von dir und ich drück‘ ab!", antwortete dieser nicht ganz so höflich.
"Und was passiert dann?", erkundigte sich Smahug, der sich genähert hatte, um das interessante Gerät zu betrachten.
Herr Maphrodit wich sofort zurück an seine Theke.
"Und ihr andern bleibt mir auch fern, oder ’s setzt für euch auch was, ihr Diebe!"
"Was ist ein Dieb?", fragte einer der restlichen Drachen mit kindlicher Neugier.
"Seid’s ihr vollkommen bescheuert oder was? Ihr wisst jenau, dass ihr mir noch Geld schuldet…150 Goldstücke!"
"Geld?"
"Schon mal g’sehn?", fragte Herr Maphrodit sarkastisch, als er eine golden glänzende Münze aus der Tasche zog.
Die Drachen schraken sofort auf, wichen vor dem kleinen Geldstück zurück und betrachteten es furchtvoll.
"Nehmt dieses schreckliche Mordinstrument sofort weg von uns! Wollt ihr uns etwa Schaden zufügen?", rief Smahug ängstlich aus.
"Wat?"
"Wir haben vorhin gesehen, wie ein Mensch damit umgebracht wurde – bitte…tut uns nichts!"
Das löste bei Herrn Maphrodit einen Geistesblitz aus, wie er nur äußerst gerissenen und geldgierigen Geschäftsleuten kommen kann. Zur Probe hielt die Münze noch ein wenig weiter von sich, was sofort zur Folge hatte, dass die Drachen noch ein wenig weiter zurückwichen. Er legte die Armbrust auf seine Theke und bewegte sich langsam auf die Gruppe der neun verschüchterten Drachen zu, die Münze stetig von sich gerichtet.
"Ihr werdet mir jetzt all euer Ge…alle eure Waffen geben, ansonsten werde…ich meine hier benutzen!", rief er aus.
"Oh, bitte…wir sind unbewaffnet!"
"Wat, ihr habt kein Geld dabei?"
"Wir…wir sind friedliebende Leute, wir tragen keine Waffen bei uns!", stammelte Smahug.
"Nicht ma‘ mehr euer Messer?"
"Was auch immer das ist – nein!"
Und wie es der Zufall so will erspähte Herr Maphrodit just in diesem Moment durch die immer noch geöffnete Eingangspforte seines Stalles zwei Männer der Stadtwache vor seinem Laden. Schnell bewegte er sich auf die beiden zu und rief: "Hey, Wachen! Ich hab‘ hier neun Frevler, die ohne Messer herumlaufen und mir noch Geld schulden. Nehmt se sofort fest!"
Die beiden Männer reagierten nicht.
Sie schauten nach oben.
Genauso die vielen Menschen rechts und links neben ihnen.
"Hallo? Könnt’s ihr noch hören?"
Vielleicht lag es ja an der Münze in Herrn Maphrodits Hand…auf jeden Fall stürmte die kleine Menschenmasse, die sich vor seinem Laden angesammelt hatte, auf einmal laut schreiend auseinander.
Die Tiere im Stall begannen zu scheuen und zu schreien.
Die Erde erzitterte und ein lautes Krachen war von draußen zu hören.
"Wat zur…", setzte Herr Maphrodit an. Der Rest seines Satzes ging jedoch in einem ohrenbetäubenden Knirschen und Bersten unter.
Bretter und Holzsplitter fielen auf ihn, seine Tiere und seine neun Kunden herunter. Alle Anwesenden in dem Gebäude warfen sich zu Boden, bis der Holzregen aufgehört hatte.
Herr Maphrodit sah nach oben.
Das Dach des Hauses war nicht mehr vorhanden. Stattdessen türmte sich der Schatten eines gigantischen Drachen über das Gebäude, der sich anscheinend direkt in das Haus nebenan gesetzt hatte und den Inhalt des von ihm aufgebrochenen Stalls fies grinsend betrachtete.
"Da seid ihr ja alle, schön zusammengepfercht auf einen Haufen – wie praktisch!", donnerte seine Stimme über die Stadt und zerstörte noch ein wenig mehr von Herrn Maphrodits Stall.
Und während dieser noch überlegte, ob er von dem Drachen einen Schadenersatz fordern solle, wurde der Kunde, der eine goldene Robe trug, wie von Geisterhand in die Luft erhoben.
Herr Maphrodit beobachtete sprachlos, wie der Mensch immer weiter anstieg, auf den gigantischen Kopf und das riesige Maul des Drachen zu.
Saurudalf erwachte.
Er war anscheinend nicht tot.
Das war ja zumindest schonmal etwas…
Er richtete sich auf.
Anscheinend lag er immer noch neben der Furt, die über den Fluss führte.
Mein Prettschett!, dachte er panisch und betastete hektisch seinen gesamten Körper, sah sich um – und fand ein paar Meter neben ihm die übrig gebliebenen Scherben seiner Kreation.
Er kniete sich hin, nahm einige der Scherben mit beiden Händen auf und ließ sie durch seine Finger auf den Boden rieseln.
"Mein schönes, schönes Prettschett…wie konnte das nur passieren? Was habe ich falsch gemacht? Warum ich? Warum muss immer mir so etwas passieren? WARUM ICH?", schrie er letztendlich laut aus.
"Psst, nicht so laut! Ihr wollt doch nicht wilde Tiere anlocken oder?", ertönte eine Stimme.
"Oh, richtig…Verzeihung! Moment mal…", Saurudalf drehte sich um, "DU?"
"Warum duzt mich eigentlich jeder in dieser dämlichen Geschichte, während alle anderen geihrzt werden?", antwortete sein Sekretär.
"Bitte…was?"
"Ach, vergesst es!"
"Wo ist dieser unsägliche Drache hin? Ich möchte meine Magie wiederhaben!", rief Saurudalf wütend aus.
"Keine Ahnung, er hat mich einfach hier gelassen und ist weggeflogen. Ich bin nur noch hier, um euch einem Gericht zu verantworten, das eine angemessene Strafe über eure Taten verhängen wird."
"Ich habe keine Zeit für solche Spielchen!", knurrte Saurudalf entnervt und machte eine Handbewegung durch die Luft, die zur Folge hatte, dass Karlmax‘ Beine wortwörtlich unter seinem Körper weggefegt wurden.
Er gab einen kurzen Schmerzenslaut von sich und fragte Saurudalf dann erstaunt am Boden liegend: "Hey, wie habt ihr das gemacht?"
"Die Macht ist mit mir…ich bin Magier, du Vollidiot!"
Er machte weitere Handbewegungen. Karlmax drehte sich schnell, ein wenig über dem Boden schwebend, immer im Kreis.
"Du sagst mir jetzt, wo dieser Drache hin ist, ansonsten mache ich hiermit solange weiter, bis das gesamte Blut deines Körpers im Kopf und in den Füßen ist!"
Karlmax‘ Antwort war: "Hui! Juchuu! Das macht Spaß!"
Saurudalf zog ihn mit einer Handbewegung an sich heran und starrte ihn mit wütenden Blicken an.
"Du hältst das Ganze wohl für besonders komisch, nicht wahr? Nun, ich nicht. Also, wo ist der Drache?"
"Ich weiß es nicht!"
"Nun gut…dann brauche ich dich nicht mehr…"
Saurudalf schleuderte seinen Sekretär mit einer starken magischen Handbewegung mehrere Meter weit von sich weg und gegen einen Baum, wo dieser an einem spitzen Ast hängen blieb.
Der Magier lächelte, drehte sich um – und hörte wieder auf zu lächeln. Die Erde bebte kurz, als der gigantische rote Drache rund zehn Meter vor ihm aufsetzte.
Sie erbebte erneut. Direkt hinter ihm hatte sich ein weiterer Drache, diesmal mit goldenen Schuppen niedergelassen.
Dann bebte die Erde wieder.
Und wieder.
Und wieder.
Und immer wieder, als die anderen acht Drachen des Rates sich kreisförmig um ihn postierten und eine riesige, undurchdringliche Mauer aus schuppigen Leibern bildeten.
Der goldene Drache begann zu sprechen: "Seid ihr Saurudalf Roklem, Bürgermeister der Menschenstadt Neudorf und lehrender Magier an der dortigen Magierakademie?"
Aufgrund der für ihn eher ungewohnten Lautstärke wälzte sich der Mensch auf dem Boden hin und her, hielt sich die Ohren zu und schrie in einem hilflosen Versuch, gegen die geballte Dezibelkraft anzukommen, laut "AAAAAAAAAAAHHHH!".
"Was hat er gesagt?", fragte Smahug.
"Ich glaube, er sagte ‚Jaaaaaaaaaaaaa!’", antwortete Vasdendas.
"Müssen denn diese Formalitäten sein? Können wir ihn nicht einfach endlich umbringen?", seufzte Kalessan.
Smahug sagte: "Du hast ja Recht…also, Freunde – auf mein Zeichen! Eins, Zwei…"
Während Smahug diesen Satz sagte, rappelte sich Saurudalf wieder auf.
Ah, so ist es besser!, dachte er sich.
Blut strömte aus seinen Ohren.
Doch warum macht dieser Drache sein Maul auf und zu, ohne etwas zu sagen?
So sehr Saurudalf Rätsel mochte, dieses sollte ihm für den Rest seines Lebens zu schaffen machen und ungelöst bleiben. Unnötig zu sagen, dass dieser Rest nicht mehr sehr groß war.
Denn plötzlich öffneten alle zehn Drachen ihre Mäuler und hauchten ihn an. Ein tödlicher Regenbogen aus Drachenodems ging auf ihn nieder.
Fortan hätte man den Magier Saurudalf in ein Buch der Rekorde eintragen können, hätte es etwas derartiges schon gegeben. Er war der erste Mensch der Welt, der auf sechs verschiedene Weisen gleichzeitig starb.
Er wurde durch die Odems der Drachen gleichzeitig verbrannt, eingefroren, von Säure zerfressen, von einer Giftwolke erstickt, von einem Blitz gebrutzelt und in einer Wolke aus Wasserdampf gekocht.
Das hatte natürlich zur Folge, dass von ihm und einem großen Stück Land rings um ihn herum relativ wenig übrig blieb.
Smahug ergriff erneut das Wort: "So, gute Arbeit Freunde, das wäre erl…Vas? Vasdendas? Geht es dir gut?"
Der messingfarbene Drache saß bebend vor dem verkohlten Stück Land, das einmal Saurudalf gewesen war.
"Ich…ich habe gerade ein lebendes Wesen umgebracht…"
"Tut mir ja sehr leid, dass du so gegen deine Prinzipien ver…"
Vasdendas unterbrach ihn gleich wieder: "Es war…befriedigend…es…es hat mir etwas gegeben, diesen…diesen MISTKERL zu pulverisieren. Na? Gefällt dir das, du…du blöder Mensch du? Na? Willst du mehr davon?"
Und erneut spie er seinen korrosiven Atem auf das ohnehin schon gequälte Stück Land.
"Na? Jetzt bist du nicht mehr so stark, ohne dein Prettschett, hm?"
Er nahm die verbrannte Erde in seine Klauen, warf sie in die Luft und lachte dazu irre.
Während einige der anderen Drachen des Rates versuchten, ihn zu beruhigen, fiel Kalessan etwas ein: "Wo ist denn eigentlich Karlmax?"
"Der hängt da hinten an diesem kleinen Baum.", antwortete Smahug.
"Smahug?"
"Ja?"
"Du hast Recht, er hängt da an dem Baum. An einem spitzen Ast hängt er.", sagte Kalessan.
"Ja, und?"
"Der Ast ist durch seinen Brustkorb getrieben worden."
"Oh…ist er tot?"
Das Paradies war schön.
Karlmax hatte zwar nie an ein Leben nach dem Tod geglaubt, doch hier war es. Eine wundervolle, paradiesische Landschaft mit immergrünen Bäumen, wundervoll duftenden Blumen in den schönsten Farben, großartigem Wetter und idyllischen Seen.
Doch das war noch nicht alles. Als er das Paradies durchstreifte, noch immer in den Sachen, die er bei seinem Tod getragen hatte, traf er auf all die Personen, die ihm in seinem Leben wichtig gewesen waren.
Seine verstorbenen Eltern, seine Geschwister, seine gesamte Familie war dar. Und es bedurfte keiner Worte mehr, um zu kommunizieren – es herrschte einfach ein tiefes, wortloses Verständnis. Lächelnd und lachend zeigten ihm seine Verwandten die schönsten Ecken des Paradieses, führten ihn durch die idyllische Landschaft und durch heimelige Dörfer, in denen die Menschen in ewigem Glück leben konnten.
Und die ganz Zeit dachte dich Karlmax nur eines: Warum bin ich eigentlich nicht schon früher gestorben?
Irgendwann versammelten sich all seine Verwandten rings um ihn herum und lächelten ihn an. Doch etwas Trauriges schwang in diesem Lächeln mit.
Was…was ist?, wollte Karlmax fragen, doch auf einmal gab der Boden unter ihm nach und er fiel. Er konnte noch von unten die Gesichter seiner Liebsten sehen, wie sie ihm nachsahen.
Dann verschwammen ihre Köpfe.
Stattdessen starrten ihn zehn riesige Drachen an.
Und sie alle hatten schrecklichen Mundgeruch.
Außerdem lag er auf einem verkohlten Stück Land. Neben ihm standen ein paar verbrannte, verkrüppelte Bäume.
"Er kommt zu sich!", sagte einer von den Drachen.
"Was…wo…wo sind meine Eltern? Meine Verwandten? Die schöne Landschaft? Bin ich in der Hölle?", stammelte Karlmax.
"Du bist wieder in der Welt der Lebenden.", antwortete der Drache mit dem goldenen Kopf, "Du hast unser Leben gerettet, also retteten wir deines – ist doch ein faires Geschäft, nicht wahr?"
"Ja…", sagte der Mensch resigniert.
"Und so dankt er es uns. Hallo! Wir haben uns alle gerade angestrengt, um dich aus dem Reich der Toten zu holen!", sprach der grüne Drache…Glaureng war sein Name gewesen, richtig.
"Denen geht es irgendwie immer so mies, wenn man sie wieder zum Leben erweckt. Bis jetzt haben sich nur die wenigsten gefreut. Die waren aber genauso wenig dankbar…", erwiderte Adorelon, der Silberne.
So langsam kamen die Erinnerungen Karlmax‘ wieder zurück. Er wandte sich an Kalessan: "So seid ihr meinem Rat also gefolgt!?"
"Andernfalls wärest du bereits seit einigen Stunden verdaut."
"Und…" – Karlmax warf einen Blick auf die anderen Drachen – "Und die anderen hier haben wieder alle ihr Gedächtnis zurück? Sie sind wieder genauso wie vorher?"
"Ich denke schon.", antwortete Kalessan, "Sie haben jetzt nur erstmal keine große Lust, wieder in die Nähe von menschlichen Städten zu kommen…kann ich ihnen nicht verdenken."
"Und jetzt? Was passiert jetzt?"
"Wir werden jetzt alle nach Hause fliegen. Ich erkläre diese Sitzung als beendet! Wir sehen uns in ein paar Jahrzehnten zur Jahrhundertsabrechnung wieder, ja?", sagte Smahug.
Die meisten der Drachen riefen eine Zustimmung, verabschiedeten sich voneinander und schwangen sich in die Lüfte.
"Und das war’s? Mehr nicht? Keine große Abschlussfeier? Sie haben mir nicht einmal mehr gedankt!", rief Karlmax enttäuscht.
"Sie haben ihre Schuld an dich bezahlt. Du bist schließlich auch nur ein Mensch von vielen. In ein paar Jahren bist du eh tot.", erwiderte Kalessan, der noch dageblieben war, "Aber du kannst gerne mit zu mir kommen, dann zeige ich dir mal meine Höhle, wenn es dich froh macht."
Ein glückliches Aufblitzen in Karlmax‘ Augen verriet ihm, dass dies der Fall war. Kalessan senkte seinen Kopf.
"Also gut – steig auf!"
Karlmax ließ nicht lange auf sich warten.
"Nun gut, oh großer Anführer…man sieht sich!", sagte Kalessan zu Smahug.
"Kalessan, ich wollte dir noch sagen, ähm…danke! Du hast die richtige Entscheidung getroffen!", antwortete dieser.
"Dieses Urteil überlasse lieber mir, Smahug!"
Er stieß sich vom Boden ab und flog weg.
Smahug sah ihm nach und dachte sich: Irgendetwas bin ich auch ihm schuldig…vielleicht sollte ich demnächst damit aufhören, so offen über unsere Rasse zu plaudern…
Und während ihrem Flug nach Hause dachten auch die anderen über sich und die zurückliegenden Ereignisse nach.
Droca dachte darüber nach, ob er bei dem aufkommenden Theaterstück "Kerker und Drachen" eine Rolle übernehmen sollte.
Neidhöcker dachte: Ich habe jetzt mal wieder richtig Lust, an einer saftigen Wurzel zu knabbern!
Adorelon dachte: Der zeitliche Ablauf der letzten paar Seiten ist irgendwie vollkommen unlogisch, wenn man mal darüber nachdenkt…
Vasdendas dachte: Ich muss jetzt irgend etwas töten…jetzt sofort!
Glaureng dachte: War ich wirklich so böse, dass man mich so hässlich erschaffen musste? Das ist gemein!
Tjamat dachte ernsthaft darüber nach, demnächst bei sich zu Hause ein Ei auszubrüten.
Morkulebus dachte ernsthaft darüber nach, professioneller Krallenmasseur zu werden.
Schneeweißchen dachte: HED DSUEB SAHEZA KEIW JASHD AKEJES MEUNASJ KAOSLEJB!
Karlmax erfreute sich an der absoluten Freiheit des Fliegens, genoss den Wind, der durch seinen Bart rauschte und dachte: Vielleicht ist das Leben ja doch nicht so schlimm!?
Und Kalessan? Der dachte nur: Oh, hab ich einen Hunger! Irgendwo muss doch hier etwas zum Essen sein! Ein Dorf, eine kleine Stadt…irgendwas!
Tja…das Sein verdirbt das Bewusstsein.
Der Doktor, http://www.die-subkultur.net