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Aufenthalt im Wasserreich (Ciruelo Cabral)

Durch Weingärten und Olivenhaine im Süden Frankreichs, vorbei an den bernsteinfarbenen Schlössern der Herren der Provence und an den rotgedeckten Häusern ihrer Untertanen entlang, floss die Rhone. Der stetige Strom ihres Wassers verriet nicht, dass sie Drachen beherbergte. Einer jedoch hauste in ihren Tiefen: Nahe der Stadt Beaucaire, wo die Rhone in Biegungen dem Meer zustrebte, war die Lagerstatt des Drac verborgen, eines riesigen, uralten Wesens; er verstand sich auf Zauberei, die er für seine eigenen blutigen Zwecke einsetzte.

Der Drac besaß eine Vorliebe für Menschenfleisch und machte sich ein Vergnügen daraus, Sterbliche zu jagen. Von Zeit zu Zeit verließ er den Fluss und begab sich zum Marktplatz von Beaucaire, wo er, für die geschäftigen Stadtbewohner unsichtbar, im Schatten der Platanen herumstrich, ein wachsamer Schatten zwischen Körben voller Fische und Bergen von Obst. Mit kalten, blassen Augen beobachtete der Drache die Hausfrauen, die mit den Händlern schwatzten; mit gekrümmten Klauen schnappte er sich dann geschwind ein unbeaufsichtigtes Kind.

Zum Zeitvertreib lockte der Drac manchmal auch Menschen in seinen Fluss. Einmal tat er dies zu einem seltsamen Zweck, und das geschah so:

An einem Sommernachmittag, als die Sonne unbarmherzig auf Stadt und Felder niederbrannte, ging eine junge Frau aus der Stadt zum Fluss, um die Kleider ihres Kindes zu waschen. Wie sie so ihrer Arbeit nachging, blickte die Frau über das glitzernde Wasser – und dann machte sie große Augen. Auf dem Wasser, nicht weit vom Ufer, schwamm ein goldener Becher. In dem prachtvollen Gefäß schimmerte eine Perle.

Ohne zu überlegen nahm sie den Köder an. Sie streckte die Hand nach dem hübschen Zierat aus, der Becher aber glitt außer Reichweite und glitzerte verführerisch im Sonnenlicht. Die Frau versuchte ihn abermals zu greifen; sie beugte sich über den Uferrand und verlor dabei das Gleichgewicht. Als sie fiel, griff eine Klaue nach ihr; wie eine Fessel schloss sie sich fest um die Taille der jungen Frau. Sie stöhnte und zappelte, aber gegen den Griff war sie machtlos. Sie fühlte, wie sie nach unten gezogen wurde. Während ihre Röcke sich mit Wasser vollsogen, warf sie einen letzten, verzweifelten Blick zum Ufer – sie sah, wie kleine Kleidungsstücke auf dem Gras am Fluss trockneten und das Kind, ganz allein, dasaß und wimmerte. Dann schlugen die Wasser der Rhone über ihrem Kopf zusammen.

Unerbittlich wurde sie in die kalten Tiefen des Flusses hinabgezogen, bis sie nichts wahrnahm als nasse Schwärze, durchbrochen von winzigen Lichtern, strahlend und glitzernd wie die Sterne am nächtlichen Himmel. Sie wurde ohnmächtig.

Als sie die Augen wieder aufschlug, befand sie sich in einer kristallenen Höhle. Vor den durchsichtigen Wänden wogten Wasserpflanzen, als wehe ein Landwind darüber hin. Fische schnellten vorbei. Neben ihr lag der goldene Becher, der sie verlockt hatte, und die Perle, die darin war. Und dann sah sie, wer sie gefangen genommen hatte. Riesenhaft und schimmernd hockte der Drache reglos neben dem Becher und betrachtete sie. Von seinem grünen, starren Blick gebannt, stand die Frau auf, und während sie dies tat, verblasste die Erinnerung an ihr Leben: Ihr kleiner Sohn, ihr Mann, ihr Haus im sonnigen Beaucaire, die Felder und Olivenhaine und die Stadt, das alles wurde zu winzigen Bildern, zu Miniaturen, an die sie sich undeutlich erinnerte, wie an Träume. Nur die Worte des Drachen ertönten in ihrem Kopf. Der Drac sprach mit einer Stimme, die wie ein Gong wiederhallte, und die Sterbliche gehorchte. Der Drache hatte der Frau aufgelauert, weil sie jung und gesund war – und weil sie ihren Sohn stillte. Der Drache brauchte Menschenmilch, um sein eigenes Gezücht, ein schwaches Drachenjunges, zu nähren. So wurde die junge Frau, in einem Zaubergespinst gefangen, die Sklavin des Drac und die Amme eines Drachen. Die Tage vergingen friedlich, und für die menschliche Gefangene in dem trüben Zwielicht der kristallenen Höhle unter dem Fluss war ein Tag wie der andere. Eingelullt von der Bewegung des Wassers draußen und vom Bann des Drachen, lebte sie wie in Trance. Sie säugte das Gezücht des Drac und hegte es, als sei es ihr eigener Sohn. Sie schlief, wann es der Drache gebot, und aß, was er ihr gab. Sie beobachtete die Bewegungen des Wassers durch die durchscheinenden Wände der Höhle, und mit der Zeit wurden ihr die Lebewesen der Rhone – der grün-gold gestreifte Hecht, der schlängelnde Aal, die flinke Forelle – vertraut wie einst die Bewohner von Beaucaire. Mit jedem Tag wurde ihr die Wasserwelt, die sie umgab,verständlicher und bekannter, als seien die Steine und Wasserpflanzen die Felder und Wälder ihrer vergessenen Heimat.

Ihre Sehkraft erhielt sie vom Zauber des Drachen, aber das wusste sie nicht. Jeden Abend rieb sie, wie ihr befohlen war, die Augen des Drachenjungen mit einer Salbe ein, die der Drac ihr gab. Die Salbe verlieh dem Kleinen den durchdringenden Drachenblick, und immer wenn die Frau sich ein Auge rieb, blieb etwas von der Salbe dort hängen, sodass sie ein wenig von der Zauberkraft des Geschöpfes empfing.

Sieben Jahre vergingen. Das Junge wurde groß und stark, und es kam der Tag, an dem der Drac keine Verwendung mehr für seine Gefangene hatte. Er tötete sie nicht, was er durchaus hätte tun können; aber sie hatte seinen Nachkommen genährt, und deshalb ließ er sie frei. Er belegte sie mit einem Bann des Vergessens und versenkte sie in Schlaf, bevor er sie durch den Fluss ans Tageslicht trug.

Die Frau wachte am Ufer in der Nähe ihres Hauses auf. Ein wenig verwirrt sah sie sich um, denn sie erinnerte sich an einen heißen, sonnigen Tag, als sie ihre Wäsche gewaschen und mit ihrem Kind gelacht hatte, das im Gras spielte. Jetzt aber war die Sonne untergegangen, und eines nach dem anderen flammten die Lichter der Stadt auf. Weder die Wäsche auf dem Rasen noch ihr Kind waren irgendwo zu sehen. Sie eilte über die Felder und durch die Straßen der Stadt.

Die Tür ihres Hauses stand offen, um die Abendkühle hereinzulassen, und die Frau ging hinein. Zwei Gesichter wandten sich ihr zu – das eines bärtigen Mannes und eines Knaben, der ihrem Mann glich, als dieser jung gewesen war. Einen Moment starrten sie sich gegenseitig an. Dann sprang der Mann mit einem gellenden Schrei auf. Während der Knabe mit geweiteten Augen zusah, umarmte der Mann die Frau. Er war ihr Ehemann, der sie ertrunken geglaubt und getreu sieben Jahre betrauert hatte. Er überschüttete sie mit Fragen, aber sie konnte keine Antwort geben, denn sie besaß keine Erinnerung an die Welt des Drachen. Der Knabe war ihr Sohn, aber er sprach nicht mit der bleichen, zerlumpten Fremden, ihre Schweigsamkeit schreckte ihn. Aber die Liebe des Vaters zu seiner Frau war so stark und seine Freude über ihre Wiederkehr so groß, dass der Knabe die Fremde allmählich als Mutter annahm. Und in den Wochen ihrer rätselhaften Wiederkehr gewöhnten sich auch die Nachbarn an sie. Ihre siebenjährige Abwesenheit blieb ihnen ein Geheimnis, und ihre Reden schreckten sie zuweilen. Sie träumte von Drachen, erzählte sie oft. Doch ihre Nachbarn waren liebenswürdige Menschen und ließen die Frau gewähren. Sie nahm ihr früheres geordnetes, friedliches Leben wieder auf, kochte und sorgte für den Mann und den Knaben und arbeitete mit den Leuten auf den Feldern. So hätte sie fortleben können, wäre nicht der Drachenblick gewesen. Eines Tages ging sie wie gewohnt auf den Markt, und dort, zwischen den Gemüseverkäufern und Fischhändlern, sah sie den Drac. Schuppig und schimmernd ragte er über den Stadtleuten auf. Sein Haupt reichte fast bis zu den Dachfirsten hinauf, und seine Augen schillerten grün, aber die geschäftigen Händler und ihre Kunden gingen nichtsahnend ihren Geschäften nach. Nur die Frau sah ihn. Als sie aufschrie, blickte er sie scharf an. "Siehst du mich, Sterbliche?", fragte eine Stimme in ihrem Kopf.

"Ich sehe dich, Drache", sagte sie laut, und in diesem Augenblick fielen ihr die ganzen verlorenen sieben Jahre wieder ein. Sie stand regungslos, als die Drachenklaue sich senkte und ihr das linke Auge zuhielt.

"Siehst du mich jetzt?", sagte die Drachenstimme. Sie sah ihn noch. Die Klaue wanderte zu ihrem rechten Auge,und wo der Drache gestanden hatte, sah sie nur den Marktplatz und ihre Mitmenschen. Folgsam sagte sie dem Drachen, dass sie ihn nicht mehr sehe. Sogleich durchfuhr ein blendender Schmerz ihren Kopf. Die Klaue hatte das Auge entfernt, das den Drachenblick besaß.

Halbblind lebte die Frau noch viele Jahre, und wieder und wieder erzählte sie ihre Drachengeschichte. Die Leute hielten sie für verrückt und schlugen ihre traurigen Warnungen in den Wind. So verschwanden Jahr für Jahr Kinder vom Marktplatz von Beaucaire und niemand wußte warum.

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Ganz normal (Der Doktor)

Ganz normal

1. Tag

Küche, FRAU sitzt am Tisch und liest Zeitung, MEYER kommt gähnend herein FRAU: Guten Morgen!

MEYER: Guten Morgen, Schatz!

FRAU: Na, hast du gut geschlafen?

MEYER: Ja, ich habe ein wenig seltsam geträumt, aber ansonsten war die Nacht in Ordnung. Nur zu blöd, dass heute wieder Montag ist.

FRAU: Aber das war doch ein schöner Tag gestern mit den Schulzes, nicht wahr?

MEYER: Ja, das stimmt. Aber deren Junge hat mich ziemlich genervt. Keine Erziehung, der Bengel!

FRAU: Soll ich dir ein wenig Kaffee eingießen?

MEYER: Oh ja, bitte! Ich hoffe, er ist nicht zu stark!

FRAU: Ich weiß doch, wie du ihn magst. Aber es stimmt, die heutige Jugend weiß sich wirklich nicht mehr zu benehmen.

MEYER: Keinen Respekt, sage ich!

FRAU: Hier steht es wieder in der Zeitung: -Jugendliche demolieren Telefonzelle-

MEYER: Ich denke, die Polizei sollte da härter durchgreifen. So kann das ja nicht weitergehen!

FRAU: Wahrscheinlich liegt das Problem eher bei den Eltern. Da fängt das doch alles an. (seufzt) Zum Glück ist unsere Kleine ganz anders… Was möchtest du heute auf deinen Toast haben, Schatz?

MEYER: Käse und Marmelade bitte – du verwöhnst mich ja selbst am Montagmorgen, Liebes!

FRAU: Für meinen Liebsten tu ich doch alles! (sie küssen sich)

Aber sag mal, hattest du diese Hörner gestern eigentlich auch schon auf dem Kopf?

MEYER: Nicht, dass ich wüsste. Seltsam, nicht wahr? Müssen wohl über Nacht gewachsen sein…

FRAU: Ja, aber das geht sicherlich wieder vorbei. Oh, schau mal! Hier steht, dass Andreas Fritzschner und Luise Gerbholz sich getrennt haben – dabei waren die beiden doch so ein gutes Paar!

MEYER: Mhm. Gibst du mal bitte die Butter rüber, Schatz?

FRAU: Hier, bitte… Ach, was soll jetzt nur aus dem armen Kind von den beiden werden? Ich finde es immer so schrecklich, wenn die Kinder unter der Trennung der Eltern leiden müssen, du nicht auch, Liebling?

MEYER: If effe gerade, Fatf!

FRAU: Oh, Verzeihung… Ich muss aber sagen, mit diesen Hörnern siehst du wirklich schick aus. Bist du dir sicher, dass du sie nicht noch ein paar Tage behalten willst?

MEYER: Ich weiß ja nicht mal mehr, wie ich sie bekommen habe!

FRAU: Oh… Da soll ja jetzt auch so eine schreckliche Grippe in Südostasien umgehen… grauenhaft, sage ich dir, grauenhaft!

MEYER: Aha…

FRAU (seufzend): Ach ja… wann kommst du heute Abend wieder nach Hause?

MEYER: Das hängt davon ab, wie lange sie mich heute wieder knechten werden… (schaut auf die Uhr) aber in Sachen Arbeit, ich fahre wohl besser gleich los, ansonsten komme ich wieder zu spät. Ich möchte nicht gleich wieder mit einer Rüge beim Chef in die Woche starten.

FRAU: Ist gut Schatz. Dann viel Erfolg auf der Arbeit! Tschüssi!

MEYER: Mach dir einen schönen Tag! Bis dann!

Büro
CHEF (abfällig): Ach, guten Morgen, Meyer! Kommen wir auch schon zur Arbeit, ja?

MEYER: Guten Morgen, Chef. Hören sie: Mein Zuspätkommen tut mir sehr leid, aber da war ein Stau auf der Stadtautobahn und…

CHEF: Ja ja, heute ein Stau, letztens ein Unfall, was kommt wohl morgen, frage ich mich? Meyer, mit dieser Arbeitsmoral können sie ganz schnell einpacken gehen, wenn das so weitergeht!

MEYER: Ja, Chef…

CHEF: Glauben sie mir, wenn das noch öfter vorkommt, dann kenne ich keine Gnade!

MEYER: Ja, Chef…

CHEF: Und was sind das da für komische… Hörner auf ihrem Kopf? Ist das ein neuer Modetrend oder so?

MEYER: Nein, die sind mir wohl über Nacht gewachsen.

CHEF: So so, über Nacht gewachsen. Meinetwegen können sie so aussehen, wie sie wollen, solange sie pünktlich kommen und ihre Arbeit machen. Haben wir uns verstanden?

MEYER: Ja, Chef…

CHEF: Gut, dann fangen sie endlich an!

MEYER: Ja, Chef…

CHEF: Diese Hörner sehen übrigens gar nicht mal so schlecht aus, Meyer. Lässt sie ein wenig aggressiver erscheinen. Wenn sie nur nicht so ein Weichei wären, nicht wahr? (lacht schallend)

MEYER: Haha, sehr lustig, Chef…

Wohnzimmer
FRAU: Na, wie war’s heute, Schatz?

MEYER: Na ja, typischer Montag halt… Bin heute Morgen wieder in einen Stau geraten und wurde vom Chef deswegen böse angeschnauzt. Immerhin fand er meine Hörner ganz nett… Pah, hat mich als Weichei bezeichnet, dieses Arschloch!

FRAU: Na, ich habe dir doch gesagt, dass dir diese Hörner ganz gut stehen.

MEYER: Hast du dich denn noch gar nicht gefragt, wo die eigentlich herkommen?

FRAU: Warum denn? Solange es gut aussieht, ist es doch egal, wo das herkommt, nicht wahr?

MEYER: Na ja, vielleicht hast du Recht…

KIND (laut rufend): Papa, Papa!

MEYER: Hey, mein Engel! (nimmt sie auf den Arm)

Na, was habt ihr heute so in der Schule gemacht?

KIND: Wir haben heute das Einmaleins mit der Sieben gelernt.

MEYER: Na dann kannst du ja schon bald richtig rechnen!

KIND (misstrauisch): Was ist denn das da auf deinem Kopf?

MEYER: Das sind Hörner, meine Kleine.

KIND: Ich finde die doof, mach die ab!

MEYER: Das kann ich nicht.

FRAU (tadelnd): Und wie sprichst du außerdem mit deinem Vater? Der kann ja schließlich mit seinem Kopf machen, was er will!

MEYER: Ich habe dir doch schon gesagt, dass ich nicht weiß, wo die herkommen.

FRAU: Du musst dich nicht dafür schämen, ich finde die schick!

KIND: Ich find‘ die doof!

FRAU (seufzend): Solltest du jetzt nicht ins Bett gehen?

MEYER: Das stimmt, Sternchen, es ist schon spät!

KIND: Och menno, ich wollte noch aufbleiben! Du bist doch gerade erst nach Hause gekommen, Papa.

FRAU: Keine Widerrede, ab ins Bett! Ich lese dir noch eine Geschichte vor, wenn du willst.

KIND (schmollend): Na gut… Nacht, Papa!

MEYER: Gute Nacht, Schatz!


2. Tag

Küche FRAU: Guten Morgen!

MEYER: Guten Morgen, Schatz!

FRAU: Gut geschlafen?

MEYER: Ging so – bis auf diesen seltsamen Traum…

FRAU: Kaffee?

MEYER: Ja, gerne! Gibst du mir mal bitte die Butter?

FRAU: Bitteschön!

MEYER: Dankesehr!

FRAU (in Zeitung lesend): Meine Güte, schon wieder eine Flutkatastrophe in China. Die Leute da tun mir wirklich leid!

MEYER: Warum, gibt doch so viele von denen…

FRAU (aufblickend): Du bist doch sonst nie so zynisch!

MEYER: Weiß nicht… es kam so über mich…

FRAU: Und wie hältst du eigentlich dein Messer? Du solltest wirklich mal deine Fingernägel schneiden… das sind ja schon fast richtige Klauen!

MEYER: Also ich würde sagen, das sind Klauen!

FRAU: Deinen Toast schmieren kannst du damit jedenfalls nicht.

MEYER: Ich habe eh keine Lust mehr auf diesen Aufstrich… haben wir noch Wurst oder Schinken?

FRAU (verwundert): Du isst doch sonst nie etwas anderes als Aufstrich oder Käse zum Frühstück.

MEYER: Ja, aber heute habe ich mal Lust auf etwas Herzhaftes auf meinem Toast!

FRAU: Bist du vielleicht krank oder so?

MEYER: Nein, mir geht es wunderbar!

FRAU: Du musst ja nicht gleich so aggressiv sein!

MEYER (aggressiv): Ich bin nicht aggressiv! Ich will lediglich mal was Neues ausprobieren!

FRAU: Ach, mach doch was du willst.

Büro
CHEF: Ach, Meyer, auch schon da! Ein bisschen knapp, nicht wahr?

MEYER: Ich habe mir Mühe gegeben, Chef!

CHEF: Dann geben sie sich künftig noch mehr Mühe! Wofür bezahle ich sie schließlich? Wahrscheinlich sollte ich froh darüber sein, dass sie überhaupt vor 8 Uhr hier erschienen sind.

MEYER: Ich habe immer eine recht beschwerliche Anfahrt, Chef.

CHEF: Ach, kommen sie mir nicht mit diesem Scheiß! Wenn ihre Anfahrt so beschwerlich ist, dann fahren sie halt früher los!

MEYER: Aber ich stehe schon um Sechs auf!

CHEF: Das interessiert mich nicht! Wenn sie weiterhin hier arbeiten möchten, dann erwarte ich absolute Pünktlichkeit von ihnen! Und schneiden sie sich mal die Fingernägel! Meine Güte, gestern Hörner, heute Klauen – was stellen sie wohl als nächstes mit ihrem Körper an?

MEYER: Ich stelle mit meinem Körper nichts an, Chef. Das… passiert mir einfach!

CHEF (spottend): So so, es passiert ihnen einfach. Wenn sie versuchen wollen, aggressiver auszusehen, dann sollten sie in allererster Linie nicht so ein Weichei sein!

MEYER (entschlossen): Chef, ich…

CHEF (schnappend): Was?

MEYER (demütig): Nichts, Chef…

Wohnzimmer
KIND (weinend): Mama, Mama! Papa hat mein Kuschelschaf zerrissen!

MEYER: Entschuldigung, Liebes, aber es überkam mich einfach… ich weiß auch nicht, was los war…

KIND: Das ist nur wegen diesen doofen Krallen!

MEYER: Aber Mäuschen, ich kann doch nichts dafür!

FRAU: Ganz ruhig, Papa hat es sicherlich nicht so gemeint.

KIND (schluchzend): Aber das war mein Lieblingskuscheltier!

MEYER: Ich kaufe dir ein neues, in Ordnung?

KIND (schniefend): Wirklich?

MEYER: Aber natürlich. Noch ein viel schöneres als das, was du bisher hattest.

KIND: Na gut…

FRAU: Das mit dem Kuscheltier hätte nun aber wirklich nicht sein müssen.

MEYER: Probier du doch mal, mit diesen Klauen irgendwas einigermaßen behutsam anzufassen!

FRAU: Dann schneide sie dir halt ab, kann doch nicht so schwer sein!

MEYER: Diese Dinger sind mit mir verwachsen!

FRAU: Och, jetzt sei doch nicht so zimperlich!

MEYER: Ich bin nicht zimperlich!

FRAU: Bist du wohl!

KIND: Müsst ihr immer streiten?

FRAU: Ach, geh doch ins Bett!


3. Tag

Küche FRAU: Guten Morgen!

MEYER: Guten Morgen, Schatzzz!

FRAU: Gut geschlafen?

MEYER: Sssehr gut, danke.

FRAU: Du, das wegen gestern tut mir leid. Unser Streit und so…

MEYER: Dasss issst kein Problem.

FRAU: Behalte die Krallen ruhig, ich finde sie gar nicht so schlimm.

MEYER: Allesss klar!

FRAU: Nimm nur bitte diesen Schwanz vom Tisch!

MEYER: Issst gut, meinetwegen.

FRAU: Und warum sprichst du so komisch?

MEYER: Liegt wohl an den Zzzähnen.

FRAU: Ach so… sind recht spitz, stimmt. Spricht sich sicherlich schwer da durch.

MEYER: Ganzzz genau.

FRAU: Was möchtest du auf deinen Toast?

MEYER: Ich möchte keinen Toassst. Gib mir lieber nur die Wurssst und den Sssinken! Hassst du vielleicht noch ein wenig rohesss Fleisss?

FRAU: Also mich wundert gar nichts mehr…

Büro
CHEF: Mensch, Meyer! Jetzt passen sie doch mal mit diesem dämlichen Schwanz auf!

MEYER: Verzzzeihung, Chef!

CHEF: Sie Vollidiot, wollen sie mich etwa umbringen?

MEYER: Sssoll nicht wieder passsieren.

CHEF: Und hören sie auf, so dämlich zu sprechen, das lässt sie ja noch bescheuerter wirken, als sie ohnehin schon sind!

MEYER (zischt): Ich warne sssie! Reizzzen sie mich nicht!

CHEF (kampfeslustig): Oder was? Häh? Was passiert dann, Meyer?

MEYER (schweigt)

CHEF: Pah! Sie sind immer noch der feige Mistkerl, den ich damals eingestellt habe, da ändert auch ihr komisches Aussehen nichts dran. Aber machen sie sich nichts draus! Wer mir droht, wird eh hochkant rausgeschmissen. Wer nicht arbeitet ebenfalls, also was stehen sie noch hier rum, häh?

MEYER (zischt)

Wohnzimmer
MEYER: Schatzzz, ich musss dir etwasss mitteilen!

FRAU: Was denn, Liebling?

MEYER: Ich ssspüre eine fortsssreitende Entwicklung in mir. Mein Bewussstsssein verändert sssich. Bald ssson werde ich eine neue Form angenommen haben.

FRAU: Das freut mich für dich, Liebling! Man lernt ja im Leben nie aus, sage ich immer.

MEYER: Ich fürchte, du verssstehssst nicht…

FRAU: Keine Sorge, ich verstehe dich durchaus. Wer sollte dich auch besser verstehen als deine Frau?

MEYER: Nun…

FRAU: Siehst du! Aber übertreibe es bitte nicht, unsere Kleine wagt sich ja kaum mehr in deine Nähe!

MEYER: Anssseinend versssteht sssie…

FRAU: Ich bitte dich, Liebling, sie ist doch nur ein Kind. Woher soll sie denn von der komplexen Welt der Erwachsenen wissen?

MEYER: Gute Frage…

FRAU: Ich habe übrigens die blutigen Nackensteaks besorgt, die du haben wolltest. Wie soll ich sie dir zubereiten?

MEYER: Gar nicht, ich essse sssie lieber roh! Nichtsss kann den Gesssmack frisss gessslagener, blutiger Beute ersssetzzzen.

FRAU: Hast du denn keine Angst vor Krankheiten?

MEYER: Nein.

FRAU: Nun, solange sich deine ‚Bewusstseinsänderungen‘ nur in deinen kulinarischen Vorzügen äußern, bin ich ja beruhigt.


4. Tag

Küche FRAU: Guten Morgen!

MEYER (knurrt)

FRAU: Gut geschlafen?

MEYER (schnaubt)

FRAU: Na dann ist ja schön, ich nämlich nicht. Deine ollen Flügel lagen mir die ganze Nacht über im Weg. Könntest du wohl bitte ein bisschen besser auf sie aufpassen?

MEYER (grummelt)

FRAU: Ich habe schließlich auch ein Anrecht auf Schlaf. Möchtest du etwas Spezielles zum Frühstück?

MEYER (bellt)

FRAU: Was hast du gesagt?

MEYER (bellt)

FRAU: Ach, du kannst dir dein Frühstück ja auch selber nehmen, bist ja schließlich nicht umsonst erwachsen!

MEYER (zischt)

FRAU: Ach komm, war doch nur ein kleiner Scherz. Hast du dir gestern einen Sonnenbrand geholt? Deine Haut ist so rot.

MEYER (knurrt)

FRAU: Ich kenne da eine exzellente Sonnencreme, die könntest du…

MEYER (brüllt)

FRAU: Schon gut! Schon gut! Musst ja nicht gleich wieder so aggressiv werden…

Büro
CHEF: Oh, Meyer – so früh waren sie ja noch nie bei der Arbeit! Woran liegt’s?

MEYER (schnaubt)

CHEF: Ach, sie haben jetzt Flügel, wie? Sie haben es jetzt anscheinend nicht mehr nötig, wie jeder normale Mensch mit dem Auto zur Arbeit zu fahren oder zumindest die öffentlichen Verkehrsmittel zu nutzen?

MEYER (knurrt)

CHEF: Oh nein, wir müssen ja so ausgefallene Mätzchen wie den Luftweg verwenden, weil wir ja etwas besseres sind als all die anderen, nicht wahr?

MEYER (knurrt lauter)

CHEF: Wissen sie was, Meyer? Ich kann sie nicht leiden. Sie sind gefeuert!

MEYER (bellt)

CHEF: Ha! Ganz genau! In meiner gesamten Zeit hier habe ich noch nie einen unpünktlicheres…

MEYER (faucht)

CHEF: …unzuverlässigeres, fauleres,…

MEYER (faucht lauter)

CHEF: …schmierigeres, arschkriecherischeres…

MEYER (faucht noch lauter)

CHEF: …und vor allem feigeres Weichei als sie erlebt!

MEYER (brüllt laut auf)

CHEF: Ha! Und jetzt, wo sie draußen sind, zeigen sie mal wirklich ein bisschen Aggressivität… Meyer?

Wohnzimmer
FRAU: Oh, hallo Schatz, da bist du ja wieder! Warum so früh heute?

MEYER (rülpst)

FRAU: Meine Güte, da hat ja jemand all deine Sachen mit roter Farbe besprüht – wie ist denn das passiert?

MEYER (bellt)

FRAU: Das muss umgehend in die Wäsche! Oh schau, selbst das Gesicht hast du dir beschmiert, das solltest du dir sofort abwaschen!

KIND (kommt die Treppe herunter)

FRAU: Schau mal, Herzchen, Papi ist heute schon früher zuhause!

MEYER (gurrt KIND zu)

KIND (kreischt): Das ist nicht mehr mein Papi, das ist ein Monster!

MEYER (fiept)

KIND: Nein, fass mich nicht an, du bist nicht mehr mein Papi! (rennt heulend wieder die Treppe hinauf)

FRAU: Ich weiß wirklich nicht, was in letzter Zeit mit ihr los ist, irgendwie benimmt sie sich seltsam…

MEYER (schnaubt)

FRAU: Du könntest auch mal mit ihr reden, schließlich ist sie auch dein Kind!

MEYER (knurrt)

FRAU: Mal ehrlich, den ganzen Tag über bist du weg arbeiten und ich sitze hier alleine mit der Kleinen – du bist nie für sie da, kein Wunder, dass sie sich dir gegenüber so komisch verhält.

MEYER (zischt)

FRAU: Nein, du brauchst es gar nicht zu leugnen, du solltest mit ihr auch mal wieder was unternehmen. Sie kennt ihren Vater ja kaum noch… ich denke außerdem nicht, dass es gut für dich ist, wenn du dir diese rote Farbe einfach ableckst! Ich packe die Sachen lieber wirklich gleich in die Wäsche…

5. Tag

Küche, morgens FRAU (von der Zeitung aufblickend): Guten Morgen!

MEYER: Guten Morgen, Weibchen.

FRAU: Gut geschlafen?

MEYER: So gut wie noch nie.

FRAU: Na das ist schön. Willst du dich nicht setzen?

MEYER: Ich brauche jetzt keine Stühle und sonstige minderwertige menschliche Einrichtungsgegenstände mehr.

FRAU: Wie du meinst… Seit wann kannst du eigentlich Bauchreden?

MEYER: Ich kommuniziere mit dir auf einer telepathischen Ebene, die eurem schlecht entwickelten menschlichen Gehirn für immer unverständlich bleiben wird, Weibchen. Meine Metamorphose hat sich fast vollzogen. Ich bin nun beinahe ein vollkommen neues Wesen, dass seine lächerliche menschliche Hülle abgestreift hat. Ich bin frei von jeglicher Verantwortung, frei von jeglicher Form von Gewissen, frei von unbedeutenden menschlichen Gefühlen. Ich habe eine höhere Form des Daseins erreicht.

FRAU: Das freut mich für dich, Schatz. Was willst du zum Frühstück?

MEYER: Ich werde mir nachher selbst etwas jagen.

FRAU: Aber die Supermärkte machen doch erst in ein paar Stunden auf!?

MEYER: Supermärkte sind eine weitere niedere menschliche Erfindung, derer ich nicht mehr bedarf.

FRAU: Ach so. (schlägt die Zeitung auf und liest) Meine Güte, ist das nicht dein Chef?

MEYER: Sieht so aus.

FRAU: Hier steht, dass er gestern im Laufe des Tages einfach verschwunden ist und am Abend dann tot und völlig verstümmelt in einer Seitengasse aufgefunden wurde.

MEYER: Köstlich.

FRAU: Wer macht denn nur so was, das ist ja grauenvoll!

MEYER: Ich war es.

FRAU: Was ist aus dieser Welt nur geworden?

MEYER: Seit gestern ein besserer Ort.

FRAU: Ich hoffe, sie finden den Mörder bald.

MEYER: Du verstehst anscheinend nicht, was hier vor sich geht, Weib. Du verschließt deine Augen vor dem Offensichtlichen, um dein kleines, unbedeutendes Leben einfach weiterführen zu können. Du leugnest die Veränderung, die rings um dich vor sich geht. Deine Ignoranz ist nur allzu menschlich.

FRAU: Also in diesem Ton musst du mir erst gar nicht kommen. Wann hast du dich schließlich das letzte Mal wirklich um mich gekümmert oder um deine Tochter? Manchmal habe ich das Gefühl, dass du mich gar nicht mehr richtig liebst!

MEYER: Liebe. Du meinst dieses Gefühl, das über reines sexuelles Verlangen hinausgeht. Dieses Gefühl, welches wir beide vor vielen Jahren anscheinend füreinander gehegt haben. Das brauche ich jetzt nicht mehr.

FRAU: Oh, und anscheinend bist du auch noch stolz darauf. Wenn dem so ist, kannst du unser Haus ja auch gleich verlassen!

MEYER: Nein. Als Heimstatt gefällt mir diese Behausung eigentlich noch recht gut. Ich rate jedenfalls dir und deinem Jungtier mir nicht mehr so sehr in die Quere zu kommen.

FRAU: Na dann hau doch ab! Ich kannte mal einen Herrn Meyer, der hat mich noch geliebt!

MEYER: Der existiert jetzt nicht mehr.

Wohnzimmer, mittags, es klingelt an der Tür
MEYER: Was ist, Mensch.

POLIZIST: Einen schönen guten Tag. Sie sind…

MEYER: Ja, der bin ich, wenn auch dieser Name nicht mehr notwendig ist.

POLIZIST: Nun, ich bin vom Morddezernat und möchte ihnen einige Fragen betreffs des Mordes an ihrem Arbeitgeber stellen. Darf ich hereinkommen?

MEYER: Ich bitte sie darum.

POLIZIST: Oh, vielen Dank. Schicke Hörner übrigens! (er setzt sich auf das Sofa, MEYER legt sich ihm gegenüber hin) Also, fangen wir an. Herr Meyer, wo waren sie gestern um 16:34 Uhr?

MEYER: In einer dunklen Seitengasse.

POLIZIST: Hätten sie zu diesem Zeitpunkt nicht auf der Arbeit sein sollen?

MEYER: Gestern noch, ja.

POLIZIST: Aber sie waren nicht auf ihrem Arbeitsplatz im Büro, wo sie ihren Chef zuletzt sahen?

MEYER: Nein, das sagte ich bereits.

POLIZIST: Und was haben sie in jener dunklen Seitengasse gemacht?

MEYER: Ich habe einen mir äußerst unangenehmen Menschen zerfleischt. Wahrscheinlich eine Reaktion auf meine frühere Existenzform.

POLIZIST: Hat sie irgendjemand dabei beobachtet, sodass sie ihre Aussage verifizieren können?

MEYER: Nur dieser eine Mensch.

POLIZIST: Lassen sie mich das bitte wiederholen: Sie waren zum Tatzeitpunkt nicht an ihrem Arbeitsplatz, sondern in einer, wie sie es beschreiben, ‚dunklen Gasse‘ und haben dort eine ihnen bekannte Person umgebracht, ohne dass sie jemand dabei gesehen hat, der das jetzt bezeugen könnte?

MEYER: Ja.

POLIZIST: Es tut mir leid, aber solange sie ihre Aussage nicht bezeugen können, stehen sie unter dringendem Verdacht, ihren Chef ermordet zu haben! Ich möchte sie bitten, mich auf das Dezernat zu begleiten, auf dass wir ihnen weitere Fragen stellen können!

MEYER: Ich fürchte, diesem Wunsch kann ich nicht nachkommen.

POLIZIST: Es tut mir leid, aber wenn sie nicht gewillt sind, meiner Aufforderung Folge zu leisten, muss ich sie leider verhaften und abführen.

MEYER: Das will ich sehen.

Wohnzimmer, nachmittags, FRAU kommt heim

FRAU: Guten Abend, Schatz!

MEYER: Du klingst nicht mehr sehr wütend, Weibchen.

FRAU: Nein… du, ich habe noch mal nachgedacht. Es tut mir sehr leid, was ich heute Morgen zu dir gesagt habe. Natürlich möchte ich nicht, dass du das Haus verlässt.

MEYER: Das hatte ich auch niemals vor.

FRAU: Wenigstens einer hier ist dem anderen treu…

MEYER: Glaub‘, was du willst. Wahrscheinlich wünschst du dir nur, dass ich nicht abhaue, weil du dieses Haus alleine nicht abbezahlen kannst.

FRAU: Manchmal wünsche ich mir nur ein wenig mehr Zärtlichkeit von dir!

MEYER: Wünsch dir, was du willst.

FRAU: Oh Schatz, wirklich? Weißt du, tatsächlich habe ich neulich beim Juwelier dieses wunderschöne Collier gesehen… sag mal, wer sitzt denn da auf unserem Sofa?

MEYER: Ein Polizist.

FRAU: Und was wollte der hier?

MEYER: Mich über den Mord an meinen Chef ausfragen.

FRAU: Konntest du ihm helfen?

MEYER: In gewisser Weise.

FRAU (flüsternd): Sag mal, hat der all den Rotwein über dem Sofa und dem Teppich verschüttet?

MEYER: In gewisser Weise.

FRAU: Ich hole wohl besser den Teppichreiniger von oben.

Sie geht nach oben und kommt kurze Zeit später freudestrahlend mit etwas Glänzendem in der Hand zurück

FRAU: Oh, Schatz, das ist ja… wundervoll! Woher wusstest du von dem Collier? Das ist genau das, das ich mir schon immer gewünscht habe! (sie fällt ihm um den Hals)

MEYER: Das gehört zu meinen Schätzen. Es ist nicht für dich bestimmt.

FRAU: Aber was willst du denn damit anfangen?

MEYER: Mich an seiner Schönheit und seiner Einzigartigkeit erfreuen.

FRAU: Mir steht es aber viel besser!

MEYER: Wenn ich es dir gebe, wirst du dann ruhig sein.

FRAU: Oh, Liebling, du bist der beste Ehemann auf der Welt!

6. Tag

Küche FRAU: Guten Morgen!

MEYER (gähnt)

FRAU: War die Nacht für dich nicht ungemütlich?

MEYER: Warum.

FRAU: Nun, immerhin hast du nicht in unserem Bett sondern auf diesen ganzen Kostbarkeiten geschlafen. Ich frage mich immer noch, wo du das Geld her hast, um dir all den Schmuck kaufen zu können…

MEYER: Ich brauche kein Geld.

FRAU: Ach, mit diesen Kreditkarten werde ich mich nie anfreunden können…

MEYER (seufzt)

FRAU: Wann ist dieser Polizist eigentlich gestern nach Hause gegangen?

MEYER: Gar nicht, der sitzt noch immer auf dem Sofa.

FRAU: Dem scheint es hier aber zu gefallen. Vielleicht wurde er ja zu Hause von seiner Frau rausgeworfen? Oh, die Welt ist so voll von schlecht geführten Ehen…

MEYER: Wie wahr…

FRAU (öffnet die Zeitung und liest): Na sieh mal einer an, so ein Zufall! Der Juwelier aus dem du die ganzen Sachen hast wurde gestern noch überfallen. Fast alles hat der Täter mitgenommen, und das am helllichten Tage. Unglaublich! Zum Glück hast du all die Sachen vorher gekauft, sonst wären sie jetzt weg.

MEYER: Und wenn ich dir den Hals umdrehe, hältst du das für eine Massage…

FRAU: Was?

MEYER: Lies nur weiter in deiner Zeitung.

Wohnzimmer, mittags, es klingelt an der Tür
KIND: Ja?

2. POLIZIST: Hallo, Kleine! Kannst du mir sagen, wo dein Vater ist?

KIND: Mein Vater ist ein Monster!

MEYER: Wer ist denn da.

2. POLIZIST: Ich komme vom Dezernat für…

MEYER: Kommen sie herein.

KIND: Nein, kommen sie nicht! Er hat schon dem den anderen Männern ganz doll wehgetan. Er wird ihnen auch wehtun! Schnell, gehen sie weg!

2. POLIZIST: Aber mal ganz ruhig, Kleine, das ist doch nur dein Vater! Und außerdem bin ich ein Polizist, ich kann schon ganz gut auf mich selbst aufpassen.

MEYER: Ich bin mir sicher, dass sie das können.

KIND: Nein, bitte, er wird sie umbringen, so wie die anderen.

MEYER: Jetzt ist genug. Geh auf dein Zimmer, oder ich werde dich bestrafen müssen.

KIND (rennt angsterfüllt nach oben)

2. POLIZIST: Eine süße Kleine haben sie da!

MEYER: Ja, nicht wahr.

2. POLIZIST: Aber wie dem auch sei, ich bin hier wegen des Überfalls auf den Juwelier gestern Nachmittag. Sie wurden zum Tatzeitpunkt in der Nähe des Geschäfts beobachtet. Haben sie vielleicht irgendwas gesehen?

MEYER: Ja, und zwar viele schöne Juwelen und Schmuckstücke.

2. POLIZIST: Darf ich daraus schließen, dass sie zum Tatzeitpunkt im Laden waren?

MEYER: Das dürfen sie.

2. POLIZIST: War außer ihnen sonst noch jemand im Geschäft?

MEYER: Nur der Juwelier.

2. POLIZIST: Verdammt, dieser Fall gibt einem Rätsel auf. Genauso wie mein verschwundener Kollege von gestern. Haben sie ihn zufällig gesehen, er hatte wohl in dieser Gegend etwas zu erledigen.

MEYER: Er ist noch hier.

2. POLIZIST: Wirklich? Können sie mich zu ihm bringen?

MEYER: Kommen sie mit.

2. POLIZIST: Tatsächlich, da sitzt er ganz friedlich. Er bewegt sich ja gar nicht!

MEYER: Es liegt vielleicht daran, dass ihm sein Herz rausgerissen wurde.

2. POLIZIST: Jetzt, wo sie’s sagen… Du meine Güte, sie haben den Juwelier ausgeraubt, nicht wahr?

MEYER: Immerhin waren sie besser als der andere.

2. POLIZIST: Wieso ‚waren‘?

MEYER: Ich zeige es ihnen.

Schlafzimmer, abends, FRAU betrachtet sich und ihr Collier im Spiegel
KIND (schluchzend): Mama?

FRAU: Hm?

KIND: Ich habe Angst! Papa tut so vielen Menschen weh.

FRAU: Mhm.

KIND: Was ist, wenn er als nächstes dir oder mir wehtut?

FRAU: Hm.

KIND: Ich will, dass Papa damit aufhört!

FRAU: Mhm.

KIND: Ich will meinen alten Papa zurück!

FRAU: Kannst du später noch mal wiederkommen? Mama ist gerade beschäftigt!

KIND (geht weinend aus dem Zimmer)

7. Tag

Küche FRAU: Du, Schatz, ich mache heute Nachmittag hier übrigens einen Kaffeeklatsch mit meinen Freundinnen.

MEYER: Erwarte kein Interesse für diese niederen Aktivitäten.

FRAU: Also bist du damit einverstanden?

MEYER: Ja. Obwohl ich nicht weiß, warum ich mich überhaupt noch mit dir abgebe. Eigentlich solltest du mir überhaupt nichts bedeuten. Warum nur kann ich es nicht über mich bringen, dir irgendwas anzutun.

FRAU: Na weil du mich liebst!

MEYER: Liebe, was ist das schon. Vielleicht habe ich dich ja früher mal geliebt.

FRAU: Wie kann denn ein Mann seine Liebe einer Frau besser beibringen als über diese wundervollen Geschenke, die du mir gemacht hast?

MEYER: Sag mir: Empfindest du Liebe für mich. Hast du sie jemals empfunden. Oder liebst du nur die Materialien, mit denen ich dich versorgt habe.

FRAU: Aber natürlich liebe ich dich, Schatz! Auch mit all diesen Hörnern und Stacheln und Zähnen. Einen so umwerfenden Mann kann man doch nur lieben.

MEYER: Und was ist mit unserer Tochter.

FRAU: Die liebe ich natürlich auch.

MEYER: Ich meine, liebt unsere Tochter auch mich.

FRAU: Aber natürlich… Nun, sie benimmt sich momentan etwas komisch, aber das wird schon wieder.

MEYER: Vielleicht sollte ich dir mitteilen, dass sie weggelaufen ist.

FRAU: Ach, sie ist sicherlich nur zu Freunden spielen gegangen.

MEYER: Um fünf Uhr morgens. Vielleicht hätte sie mich nicht dabei sehen sollen, wie ich die beiden Polizisten… entsorgt habe.

FRAU: Ach, mach dir keine Vorwürfe, sie wird sich schon wieder anfinden.

MEYER: Und wenn schon. Jetzt macht es nichts mehr aus. Ich empfinde keine Liebe mehr und habe schon lange keine mehr empfangen. Nun kann ich auch genauso gut so bleiben. Wer weiß, ob eine Umkehr möglich gewesen wäre.

FRAU: Vielleicht sollten wir einfach mal wieder miteinander schlafen?

MEYER: Was für ein abartiger Gedanke.

Wohnzimmer, FRAU, 1. FREUNDIN und 2. FREUNDIN sitzen beim Kaffeeklatsch
FRAU: Und vorgestern, da hat er mir dieses Collier geschenkt, das ich schon immer mal haben wollte. Zusammen mit all diesen anderen Kostbarkeiten!

1. FREUNDIN: Sag an!

2. FREUNDIN: Ehrlich?

FRAU: Wenn ich es euch doch sage! Und täglich kommt er mit neuen Schätzen nach Hause, oh es ist so wunderbar!

2. FREUNDIN: Weißt du, wie viele Frauen dich um so einen Ehemann beneiden?

1. FREUNDIN: Mich eingeschlossen!

FRAU: Nun, seine Macken hat er ja auch. Dieser neue Schwanz den er hat, über den bin ich zum Beispiel schon ein paar mal gestolpert, und seine Flügel hat er auch nicht ganz unter Kontrolle, aber ansonsten ist alles in Ordnung.

2. FREUNDIN: Wo ist eigentlich eure Tochter? Sie ist doch so ein liebes Mädchen.

FRAU: Laut meinem Mann ist sie heute Morgen weggegangen, wahrscheinlich spielen. Sicherlich kommt sie heute Abend wieder nach Hause.

3. POLIZIST (von draußen, die Stimme durch ein Megaphon verzerrt): Okay, Meyer, wir wissen, dass sie da drinnen sind. Kommen sie mit erhobenen Händen raus!

1. FREUNDIN: Was ist denn da los?

FRAU: Sieht nach Besuchern aus.

MEYER (auf dem Weg zur Tür): Ich kümmere mich darum. Liebling.

FRAU: Ist gut, Schatz! Ach, ist er nicht hinreißend?

2. FREUNDIN: Ja, er hat eine ungemein kraftvolle Ausstrahlung.

1. FREUNDIN: Besonders über diesen Trick mit dem Bauchreden bin ich fasziniert!

Von draußen ertönen Schüsse und Schreie, übertönt durch ein lautes Gebrüll

FRAU: Ich bin froh, dass wir es so gut haben, und dass sich mein Mann sein Geld nicht mit Betteln oder Verbrechen verdienen muss. Auf der anderen Seite wäre mir das Leben an der Seite eines Prominenten auch nichts, mit diesem ganzen Pressezirkus käme ich wahrscheinlich nicht zurecht.

1. FREUNDIN: Wie wahr!

2. FREUNDIN: Wie wahr!

FRAU: Das ist sicherlich das beste für eine gute Beziehung: ein ganz normaler Mann.

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Das Babysitter (Der Doktor)

Das Babysitter

Es
ist allgemein bekannt, dass transdimensionale Reisen ganz alltägliche Phänomene
sind.

Doch… woher ist es bekannt?
Wesen im gesamten Universum reisen nahezu täglich durch Zeit und Raum –
die meisten von ihnen sind natürlich nicht besonders glücklich darüber,
weil sie dann immer mit irgendwelchen Weltenrettungsaktionen beauftragt werden,
die zwar eh gut ausgehen, aber dennoch eine Menge unnötigen Stress bereiten
und größtenteils auch noch schlecht geschrieben sind.
Und das beantwortet auch gleich unsere Frage, woher denn das Wissen um transdimensionale
Reisen als alltägliches Phänomen stammt – wenn so viele Leute
Bücher und Romane über etwas wie transdimensionale Reisen schreiben,
dann muss doch an der Sache etwas dran sein, nicht wahr?

Fakt ist, dass nur ein Bruchteil der Autoren wirklich an das Phänomen der
alltäglichen transdimensionalen Reise glaubt.
Fakt ist, transdimensionale Reisen sind ein alltägliches Phänomen.
Man könnte nun fragen, was zuerst dagewesen sei – die transdimensionalen
Reisen oder die Geschichten über sie, aber das wäre dann doch zu sehr
an den Vorgänger dieser Geschichte angelehnt und sowieso eigentlich nur
vollkommen langweilig.

Die
Person, von der jetzt hier die Rede sein soll, kümmerte sich natürlich
ebenfalls nicht um solche Fragen.
Dennoch war sie sich nicht dessen bewusst, dass sie sich gerade auf einer transdimensionalen
Reise befand, denn diese beginnen meistens in einem Wald, in einem See oder
an irgendeiner anderen aus der Heimatwelt des Reisenden bekannten landschaftlichen
Gegend.
Als der anfangs erwähnte Herr durch den für ihn ganz normal erscheinenden
Wald wanderte, traf er sogar auf ihm bekannte Tiere, also Viehzeugs wie Rehkitze,
Hoppelhäschen und eine Horde ausgehungerter, blutrünstiger Wölfe.
Jene war auch der Grund, warum unser Reisender sein Gehtempo etwas beschleunigte
– ob nun Heimatwelt oder nicht, niemand landet gerne in den Mägen
von sieben ausgehungerten Wölfen.

Diese Geschichte soll natürlich nicht zu einem vorzeitigen Ende kommen,
von daher wurde unser Dimensionsreisender auch auf wundersame Weise im letzten
Moment gerettet. Der letzte Moment markierte die Stelle, an der der Fliehende
mitten auf einer Lichtung stolperte, sich flach auf den Boden legte und sich
in panischer Angst umdrehte, um seinem unausweichlichen Schicksal in die Augen,
beziehungsweise in die Mäuler zu schauen.
Ihm eröffnete sich das Bild des Wolfsrudels, wie es genau am Rande der
Lichtung zum Stehen kam, wütend über die anscheinend verloren gegangene
Mahlzeit enttäuschtes Geheul anstimmte und nicht minder enttäuscht
umdrehte, um abzuziehen.
Unser Protagonist konnte sein Glück natürlich nicht fassen und drehte
sich dann um, um sich über die Ursache dieser so überraschenden Wendung
seines kleinen Abenteuers zu erkundigen.

Hinter ihm auf der Lichtung stand eine Person, die in ihm erstmals Zweifel darüber
aufkommen ließen, sich noch auf der richtigen Welt zu befinden. Andererseits
gibt es selbst auf den am höchsten entwickelten Welten immer noch Leute,
die sich in lange, schwere, bunte Roben kleiden und als halbverrückte Einsiedler
mit langen Bärten in von hungrigen Wölfen verseuchten Wäldern
abseits der Zivilisation leben, um allen Vorbeikommenden doppeldeutige Sprüche
unterzujubeln, die eigentlich nur gut klingen, die Betroffenen jedoch meist
stundenlang über das eben Gesagte nachgrübeln lassen. Meistens finden
sie dann sogar einen Sinn in diesen Sprüchen, worauf die Einsiedler dann
immer sehr stolz sind.
Solch ein Exemplar der Rasse, die wir normalerweise als „Mensch“
bezeichnen, stand jedenfalls hinter unserem Reisenden und schaute ihn weise,
beziehungsweise halbverrückt an, das ist ja auch eine Sache des Standpunktes.

Unser Reisender kann natürlich auch sprechen, und da jetzt ein guter Zeitpunkt
war, um den ersten Dialog dieser Geschichte zu beginnen, sagte er:
„Wie haben sie… warum… ähm… danke!“
Auch der Einsiedler konnte anscheinend sprechen, und er erwiderte in derselben
Sprache und in sanftem, zumindest weise klingenden Tonfall schlicht:
„Folge mir!“
Der Reisende sah sich in seinen Handlungsmöglichkeiten daraufhin sehr beschränkt
und beschloss weiserweise, sich aufzurappeln und dem Einsiedler zu folgen.

„Wie haben sie das gemacht? Das mit den Wölfen…“, fragte
er.
„Das tut nichts zur Sache. Viel wichtiger ist doch die Frage: Warum bist
du hier? Und vor allem: Wo bist du?“
„Nun, die erste Frage ist einfach zu beantworten. Ich wollte eigentlich
nur kurz in den Wald gehen, um mal zu pinkeln. Wo ich jetzt bin, kann ich mir
ehrlich gesagt nicht vorstellen, aber ich wäre ihnen ganz dankbar, wenn
sie mich zur Straße zurückführen würden, damit ich mein
Auto suchen gehen kann.“
Der Einsiedler sah ihn mit einer Mischung aus milder Belustigung und einer Prise
Traurigkeit an.

„Ich fürchte, wir werden dein… ähm… Au-to hier in der Gegend
nicht finden. Ich fürchte außerdem, dass du dich gar nicht mehr auf
der Welt befindet, die du als deine Heimatwelt bezeichnet.“
„Einen Moment, was wollen sie damit sagen? Meinen sie etwa, dass mein
Auto hier gar nicht mehr in der Nähe ist?“
Der Alte nickte.
„Und sie wollen mir allen ernstes verklickern, dass ich mich auf einer
fremden Welt in einer fremden Dimension oder so befinde?“

Der Alte nickte.
„Und sie denken wirklich, dass ich ihnen diesen Schwachsinn abkaufe?“
Der Alte nickte.
Unser Reisender schüttelte ungläubig den Kopf und schaute sich den
Einsiedler noch mal von oben bis unten an. Dann kam er zu einem Entschluss und
sagte:
„Oh, kacke Mann!“

Dies
ist ein wunderbarer Zeitpunkt, um all die faszinierenden Phänomene einer
transdimensionalen Reise einmal kurz zusammenzufassen.
Zunächst ist es erstaunlich, dass die Welt, in die ein transdimensional
Reisender versetzt wird, immer dieselben Klimabedingungen vorweist wie die Heimatwelt
des Betroffenen. Bisher ist jedenfalls noch niemand bei solch einer Reise durch
beispielsweise akuten Mangel an Sauerstoff in der Atmosphäre umgekommen.
Ebenfalls auffällig ist das Existieren gewisser, anscheinend universell
gültiger Tier- und Pflanzenarten. So wird man in jedem Wald jeder Parallelwelt
Kiefern und Tannen sowie die bereits erwähnten Rehe, Hasen und natürlich
die ausgehungerten Wölfe antreffen… wenn man Pech hat.
Viel interessanter und vor allem viel erstaunlicher als diese beiden Tatsachen
ist jedoch die ebenfalls universelle Existenz einer Lebensform, die wir als
„Mensch“ bezeichnen. Die meisten Parallelwelten haben außerdem
noch dem Menschen sehr ähnliche Lebensformen vorzuweisen, die dann meistens
„Zwerge“ oder „Elfen“ genannt werden.

Am erstaunlichsten mag einem jedoch die Tatsache erscheinen, dass die sprachbegabten
Wesen dort, wohin man durch eine transdimensionale Reise hinversetzt wird, immer
die eigene Sprache sprechen!
Wissenschaftler einer hochentwickelten Welt versuchten einst, dieses Phänomen
zu erklären, scheiterten jedoch daran, einen Namen dafür zu finden
und gingen, für immer zerstritten, auseinander.
Ein Dimensionsreisender gelangte einmal aufgrund all dieser Tatsachen zu folgendem
Ergebnis:
Wenn die Umgebung, die Wesen, die Sprache und sonst auch alles andere dem Reisenden
bereits vertraut ist, so kann es sich nur um Einbildung handeln, um einen schlechten
Traum, um eine eingebildete Realität, die jedoch niemals stattgefunden
hat.

Das erklärte zwar nicht, was mit den Leuten geschah, die von ihren Reisen
nicht zurückkehrten (worüber es auch wieder Theorien wie „Der
Körper kann ohne den Schweiß nicht leben… nein, es war nicht der
Schweiß, Moment…“), in der Heimatwelt dieses Menschen wurde diese
Theorie dennoch zu einem gigantischen Erfolg, als der Reisende zusammen mit
seinem Bruder eine Dokumentation über diese Reise in die fremde Welt drehte,
die von den meisten Leuten, die sie sahen, jedoch für einen Unterhaltungsfilm
missverstanden wurde.

Nun,
dieser Reisende hat nichts mit unser momentanen Hauptfigur zu tun, zu der wir
nun nach diesem kleinen Exkurs wieder zurückkommen möchten.

Er war nun schon eine ganze Weile neben dem Einsiedler nebenher gelaufen und
stellte, halb ihm, halb sich selbst, folgende Fragen:
„Wie bin ich hier hergekommen?“
„Die Antwort wirst du bei Ihm erfahren.“
„Wie komme ich wieder zurück?“
„Die Antwort wirst du bei Ihm erfahren.“
„Warum gerade ich?“

„Die Antwort wirst du bei Ihm erfahren.“
„Wer ist dieser Ihm eigentlich?“
„Die Antwort wirst du bei Ihm erfahren.“
„Fischers Fritz fischt frische Fische!“
„Die Antwort wirst… bitte, was?“
„Wollte nur mal sehn, ob sie mir auch zuhören…“

Mit diesen Antworten musste sich unsere Hauptfigur zunächst mal zufrieden
stellen und nun der Dinge harren, die da noch kommen mochten. Es dauerte zum
Glück nicht lange, bis der Alte mit ihm vor einem großen Loch in
einer mitten im Wald liegenden Felswand ankam, welches so dunkel und finster
war, wie es eben nur große Höhleneingänge mitten im Wald sein
können. Von dem Eingang weg führte eine Art breiter Trampelpfad, der
darauf schließen ließ, dass öfter in diese Höhle hinein
und aus ihr hinaus gegangen wurde.
„Dort drinnen wird Er auf dich warten und dir deine Bestimmung in dieser
Welt mitteilen.“, sprach der Alte mit theatralisch ausgestrecktem Arm.

„Sie meinen, dort drinnen wird mir erzählt werden, dass ich so ein
seit langer Zeit erwarteter Mann-zwischen-den-Welten bin, der jetzt seine Bestimmung
ergreifen und gegen das Übel kämpfen soll, dass diese Welt befallen
hat und sie vermutlich vernichten wird, sollte ich nicht einschreiten? So was
in der Richtung?“
Der Alte sah ihn milde lächelnd an und sprach dann:
„Nun, vielleicht wird es nicht ganz so schlimm…“
Der Reisende drehte sich zu dem Höhleneingang um, atmete einmal tief ein
und aus und setzte sich dann mangels sinnvoller alternativer Möglichkeiten
in Bewegung, um diesen Er mal aufzusuchen.

Die dunkle Höhle zeichnete sich durch kühle Feuchtigkeit aus, die
normalerweise dunkle Höhlen auszeichnet, die sehr kühl und feucht
sind. Dennoch war sie nicht vollkommen finster – der Reisende konnte einen
Lichtschimmer am Ende des Ganges, in dem er sich gerade befand, ausmachen. Wie
er bald herausfinden sollte, stellte dieser Lichtschimmer den Fackelschein dar,
der eine Höhle von riesigen Ausmaßen gleichmäßig erhellte.
Und in dieser Höhle lag Er – ein Anblick, der unseren Reisenden verblüfft
stehen ließ, da es sich hierbei um etwas handelte, was längst nicht
auf allen Welten des interdimensionalen Reiseverkehrs vorzufinden ist. Er öffnete
die Augen und starrte den Reisenden mit einem Blick an, der wahrscheinlich Stahl
hätte zum Schmelzen bringen können – zum Glück war keiner
in der Nähe. Unser Protagonist machte sich lediglich in die Hosen.

Dann fing Er an zu sprechen. Es war laut. Sehr laut. Doch irgendwas, was das
folgende Klingeln in seinen Ohren nur schwach übertönte, sagte dem
Reisenden, dass Er es auch wesentlich lauter hätte sagen können.
Er sagte:
„Komm näher!“
Solch einer Stimme verweigert man keinen Gehorsam. Das begriffen die Beine unseres
Reisenden schneller als sein Kopf und setzten sich in Bewegung, um in geringerem,
aber dennoch nicht respektlosen Abstand vor Ihm stehen zu bleiben.

Dann fing Er erneut an zu sprechen:
„Lass mich raten: Du bist ein Reisender aus einer fremden Dimension von
einer anderen Welt. Du bist in dieser Welt gelandet und wurdest von einem Rudel
hungriger Wölfe durch den Wald verfolgt. Dann wurdest du von einem alten
Einsiedler gefunden, der dich zu mir geführt hat.“
Es sah so aus, als müsste unser Reisende trotz schmerzhaft pulsierender
Trommelfelle nun irgendwas sagen. Folgender Satz erschien ihm recht angemessen:
„Woher… könnt ihr all das wissen?“
Der Kopf von Ihm setzte sich in Bewegung, um kurz vor unserem Reisenden zum
Stillstand zu kommen, worauf dieser sehr erstaunt gewesen wäre, wie viel
Stoff sich noch in seiner Blase befand, wäre er nicht viel zu sehr damit
beschäftigt gewesen, seine Körperfunktionen am Laufen zu halten, damit
er nicht einfach vor Angst wegstarb.

Und Er sprach ein weiteres mal:
„Dieser Einsiedler hat sich zu mir geführt. Warum? Weil ich ihn dafür
bezahle!“

Kalessan
mochte transdimensional Reisende.
Sie schmeckten wie die Menschen seiner eigenen Welt und ihr Tod zog keinerlei
nervende Konsequenzen wie räuberische Racheritter mit sich. Außerdem
wurden dadurch die Dörfer seiner Umgebung ein wenig entlastet.
Nachdem er fertig war, erinnerte er sich daran, dass er den Alten wohl demnächst
für seine Dienste einmal mehr bezahlen musste. Vielleicht sollte er die
Wölfe für ihre gute Arbeit auch mal wieder belohnen…

Er beschloss, diese Angelegenheiten auf später zu verschieben und legte
sich wieder hin. Kurz bevor er einschlief, lobte er sich selbst einmal mehr
für die sehr gute Investition in das Dimensionsportal direkt im benachbarten
Wald.

Dies
ist im übrigen keine Geschichte über das transdimensionale Reisen.
Oh nein, es ist viel schlimmer!

Es
ist eine Eigenart der Menschen, selbst die positivste und friedlichste revolutionäre
wissenschaftliche oder soziologische These, Theorie, Erkenntnis oder Abhandlung
zu kriegerischen Zwecken zu missbrauchen. Seit jemandem mal ein Apfel auf den
Kopf fiel und der Betroffene sich dachte „Ui! Schwerkraft!“, fingen
Menschen sofort damit an, Menschen von Burgmauern aus Steine auf die Rübe
zu werfen (wobei erwähnt werden sollte, dass die Menschen, die sich der
jeweiligen Burgmauer näherten meistens ebenso wenig friedliche Absichten
im bald etwas flacher aussehenden Kopf hatten… mit einigen tragischen Ausnahmen
natürlich) – oder, noch schlimmer, goldene Münzen von hohen
Türmen, nur um zu sehen, was passiert…

Karlmax‘ revolutionäre These war von diesem Schicksal bisher verschont
geblieben – wobei sie den Frieden zwischen den Menschen ja nicht gerade
predigte… Vielleicht hing es damit zusammen, dass die Menschen es langweilig
fanden, sich an die Regeln einer bereits kriegerischen These zu halten –
wo blieb denn da der Spaß? So kam es, dass Karlmax durch seine Theorie
weltberühmt wurde und viele Tourneen veranstaltete, um Vorträge über
seine revolutionären, die Gesellschaft der Menschen verbessernden Gedanken
zu halten. Die Menschen hörten dabei immer interessiert zu, waren begeistert
und honorierten jeden von Karlmax‘ Auftritten mit donnerndem Applaus –
nur hatte anscheinend niemand so richtig Lust dazu, der erste zu sein, der diese
revolutionären Ideen auch umsetzte.

Um jene Ideen soll es in dieser Geschichte jedenfalls ebenfalls nicht gehen.

Karlmax
befand sich jedoch gerade kurz vor einer Tournee in entfernte Länder, um
viele, schon jetzt vollkommen ausverkaufte Vorträge zu halten. Dabei hatte
er jedoch zwei Probleme:
Seine Frau und seinen Sohn.
Rita, die Stählerne, wie sie sich selbst nannte, war die perfekte Ergänzung
zu Karlmax‘ Charakter: Impulsiv, aggressiv, stark, direkt und dickköpfig
dominierte sie ihren Mann vollständig, was diesem aber nicht viel ausmachte,
da er sich selbst nicht gerade zur Führungspersönlichkeit geboren
sah und beruhigt war, wenn es eine Instanz über ihm gab, die die ganze
Verantwortung trug und nicht ihn damit belastete.

Dies war jedoch noch nicht das Problem. Karlmax bestand nämlich darauf,
seine Frau Rita auf der Tournee bei sich zu haben – und das nur teilweise
aus Liebe zu seiner Gefährtin. Als persönliche Beschützerin machte
sie sich dank ihrer selbst gegenüber vielen Männern überlegenen
Muskelkraft nämlich gar nicht schlecht.
Nur leider bestand sie darauf, dass ihr gemeinsamer Sohn Ninnel nicht auf die
Reise mitkommen dürfe, wodurch sich das eigentliche und damit größte
Problem ergab:

Wohin mit dem Jungen?
Der achtjährige Ninnel war schon mehrfach durch sein… nun, rebellisches
Verhalten aufgefallen und gegenüber zahlreichen Verwandten durfte man seinen
Namen noch nicht mal erwähnen, wollte man nicht riskieren, sofort aus dem
Haus geworfen zu werden… womöglich noch aus einem Fenster im vierten
Stock…
„Was ist mit den Dusseleys?“, fragte Karlmax.
„Ich fürchte, die sind nach unserem Besuch letzten Sommer nicht mehr
so gut auf unseren Kleinen zu sprechen, Schatz. Außerdem ist der Angriff
durch diesen Assassinen kurz nach unserem Aufenthalt dort erfolgt, weißt
du noch?“

„Hast Recht, mein Haselschnäuzchen…“
„NENN mich nicht Haselschnäuzchen!“, giftete seine Frau ihn
an.
„Ähm… ja, Rita…“, Karlmax senkte demütig den Blick,
als ihm ein Einfall kam:
„Was ist mit Sally? Du kennst sie ja… ähm… ein bisschen… sie
könnte mit Ninnels… Eigenarten sicherlich fertig werden.“

Ritas Stimme schnitt so scharf durch die Luft, dass sich Karlmax damit seinen
Bart hätte abrasieren können:
„Ich lasse nicht zu, dass MEIN SOHN bei einer so unflätlichen Frau
einquartiert wird! Sie mag noch so nett sein, aber ihr Berufsstand übt
bloß einen schändlichen Einfluss auf unseren süßen Kleinen
aus!“
„Aber ich habe dich doch bei ihr kennen gelernt, Liebste!“

„Das ändert nichts daran, dass es ein für unseren Jungen schändliches
und unmoralisches Etablissement ist! Weitere Vorschläge?“
Karlmax wusste, dass die Diskussion um das Thema Sally beendet war und kramte
in seinem Gedächtnis weiter nach Möglichkeiten zur Unterbringung seines
Sohnes… jedoch gingen ihm so langsam die Ideen aus. Einen Namen hatte er noch:
„Was ist mit Tante Peggy? Hat sie unseren Kleinen schon mal kennen gelernt?
Bei ihr wäre es doch außerdem gar nicht so schlimm, wenn wir es uns
mit ihr verderben würden…“

„Peggy? Nein, die kommt nicht in Frage. Sie ist doch tagtäglich so
sehr mit dem Schmachten über diesen Schauspieler… wie hieß er noch
mal? Genau, dieser Schauspieler Droca…“ – *pling* – „Sie ist doch
so sehr mit ihm beschäftigt und deswegen immer so neben sich, dass unser
Kleiner bei ihr wahrscheinlich verwahrlosen und verhungern würde… Sag
mal, ist was mit dir?“
Karlmax starrte ins Leere. In seinem Kopf machte es immer *pling*, wenn sich
eine neue, bahnbrechende Idee anbahnte.
„Welchen Namen hast du gerade noch mal genannt?“

„Droca, der Schauspieler… Kennst du ihn nicht?“
Karlmax wusste zwar nicht, wo Droca lebte und wie er ihn erreichen konnte. Doch
dafür kannte er jemand anders… *pling*
„Hast du dieses Geräusch gerade auch gehört?“, fragte
Rita.
Eigentlich war der Gedanke vollkommen wahnsinnig. Er war sogar so wahnsinnig,
dass sich Karlmax fragen musste, ob er selbst nicht bereits wahnsinnig war,
wenn er auf solch wahnsinnige Gedanken kam. Konnte er seinen Sohn wirklich diesem
alten Freund anvertrauen? Wobei sich die Frage stellte, ob er noch sein Freund
war… beziehungsweise, ob er wirklich jemals wirklich sein Freund gewesen war…
Nun, eigentlich hatte er sich gegenüber Karlmax bei seinem Besuch immer
ganz nett benommen… aber würde das auch für seinen Sohn gelten?

Die Schwärze von Karlmax‘ Gedankenwelt wurde jäh von einem lautstarken
Rufen unterbrochen:
„Paaaapaaaaa, bin wieder Zuhaaaaauuuseeeee!“
Das Rufen ertönte direkt neben Karlmax Ohr, worauf dieser nicht vorbereitet
war, erschrocken umkippte und mit dem Hinterkopf schmerzhaft auf dem Boden aufschlug.
Sekunden später traf eine gigantische Faust auf seinen Unterleib und nagelte
ihn fest.
Als Karlmax wieder Luft bekam und er statt vollkommenster Schwärze wieder
zumindest verschwommene Bilder sehen konnte, eröffnete sich ihm das Bild
seines Sohnes Ninnel, wie dieser auf seinem Unterleib saß.

Während Karlmax nur schmerzhaft und leise aufstöhnen konnte, lächelte
Rita die beiden liebevoll an und sagte:
„Na, ich lasse euch beiden dann mal alleine und bereite das Abendbrot
vor – so lange dürft ihr dann noch miteinander spielen. Und Karli
– überlege dir dann bitte noch schleunigst eine Lösung für
unser kleines Problem, ja?“
Mit diesen Worten drehte sie sich um und ging aus dem Raum hinaus in Richtung
Küche.

„Oh toll, Papa, wir spielen! Du bist das Pferd und ich bin der Reiter,
ja?“, rief der Junge überschwänglich in unerträglicher
Lautstärke.
Karlmax sah auf die Schuhe seines Sohnes – er hatte wieder die Stiefel
mit den echten Sporen angezogen…
„Ja, Ninnel!“, stöhnte er auf – Sohn hin oder her, dachte
er, dieser Junge sollte seine Eltern doch mal wieder schätzen lernen! Vielleicht
wäre die Methode ein wenig radikal und riskant, doch sicherlich nicht unwirksam…

Als er sich umgedreht hatte, rief sein Sohn „Hü-hott!“ und
trat mit den Sporen zu.
Mit einem gedämpften Schmerzensschrei trat Karlmax seinen allabendlichen
Leidensweg an und hielt sich nur mit dem Gedanken am Bewusstsein, wie er seinen
Plan seiner Frau verklickern sollte…

Zur
gleichen Zeit machten sich die berühmten Helden Rimorob, der Krieger, Fladnag,
der Magier, Oblib, der Halbling und Salogel, der Elf daran, ein Land von der
schrecklichen Kreatur zu befreien, die man nur den „roten Schrecken“
nannte. Dass es sich hierbei um eine sehr klassische Gruppe aus hochstufigen
Abenteurern handelte, konnte man daran erkennen, dass sie mehr Wert auf Stil
als auf Effektivität bei der Arbeit legten. So glänzte Rimorobs Rüstung
selbst bei absoluter Dunkelheit in einem funkelnden Licht, was einem eher sinnlosen
elfischen Zauber zu verdanken war, aber mehrere 1000 Orks beim Bergen jenes
Artefakts das Leben gekostet hatte. Und Salogel glich mehr einer wandelnden
Frisur als einem todesmutigen Helden, der mal eben nebenbei mit einem Langbogen
einer Fliege ein Auge ausschießt. Was Salogel an Haaren hinten hatte,
besaß Fladnag vorne am Kinn, hierbei sei jedoch erwähnt, dass es
sich um ein gewaltiges Haartransplantat handelte, da der Magier erst 32 Jahre
alt war. Oblib war leider zu klein für jegliche Art von Haaren an anderen
Stellen außer auf seinem Kopf und vor allem an seinen Füßen,
erwies sich im Kampf dennoch sehr nützlich darin, Gegnern in Stellen zu
beißen, wo es wirklich weh tat…

So exzentrisch sie auch erscheinen mögen, viele solcher Heldengruppen bringen
es merkwürdigerweise immer wieder zu großen Erfolgen, viel Geld und
einem Maß an Arroganz, das jeden Adligen als bescheiden und schüchtern
darstellt.
Und jene berühmte Runde war nun daran, ihren Ruhm und vor allem ihren Reichtum
beträchtlich zu vermehren.
„Eeeyy, du bist mir auf meine Haare getreten!“, beschwerte sich
Salogel.

„Und du mir auf meine – ausgleichende Gerechtigkeit!“, erwiderte
Fladnag, „Warum ist es hier auch so dunkel drinnen?“
„Ruhe!“, rief Rimorob dazwischen, „Wir müssten gleich
in der Haupthöhle sein! Bleibt dicht zusammen – hast du gehört,
Oblib?“

„Ja, Papa!“, kam die piepsige Antwort in spottendem Tonfall.
Rimorob blieb stehen.
„Das hier ist kein Zuckerschlecken, das ist vielleicht die größte
Herausforderung unserer Heldenkarriere, ich verlange also absolute Konzentration
von euch allen!“
„Hatten wir denn je eine richtige Herausforderung?“, tönte
es aus Salogels Richtung, „Von den Viechern haben wir doch auch schon
ein halbes Dutzend umgebracht.“

„Ja, aber der hier soll ein bisschen größer sein als die anderen…
zumindest hat das die Olle gesagt, die uns diesen Auftrag gegeben hat.“
Darauf entgegnete Oblib:
„He he, Frauen, die übertreiben es doch immer, wenn es um Männerangelegenheiten
wie das Bekämpfen von Dr…“
„Halt den Mund“
„Kommt es nur mir so vor, oder stinkt es hier wirklich ganz gewaltig?“,
fragte Fladnag.

„Scheint an diesem merkwürdigen Luftzug zu liegen…“
„Das hält ja kein Mensch aus!“
„Oder Elf…“, meldete sich Salogel zu Wort.
„Ja ja oder Elf…“
„Und was ist mit mir?“, fragte Oblib.

„Halt den Mund!“, entgegnete Fladnag und fügte hinzu:
„Hm, das scheint eine Tropfsteinhöhle zu sein, seht euch mal diese
ganzen Stalagmiten und Stalaktiten an!“
„Welche waren denn noch mal welche?“, fragte Oblib.
„Klappe! Hier scheint auch irgendwo die Quelle dieses Luftzugs zu sein…“
„Uääähhh, diesen Gestank ertrage ich nicht länger!“,
stöhnte Salogel herum.

„Aber warum haben diese Stalaktiten so eine seltsame Anordnung…? Die
Farbe scheint auch nicht zu stimmen, soweit man das in diesem diffusen Licht
sagen kann.“
Rimorob meldete sich zu Wort:
„Ist euch eigentlich schon aufgefallen, wie weich der Boden auf einmal
geworden ist?“
Die Gefährten sahen sich in dem diffusen Licht unsicher an. Der übel
riechende Luftzug umwehte sie in gleichmäßigen Abständen dröhnend
in dieser unheimlichen Stille.

„Lasst uns ein wenig mehr Licht riskieren!“, sprach Fladnag und
ließ den Kristall am Ende seines Zauberstabs erleuchten. Über den
folgenden, einmaligen Anblick verlor er nur ein Wort:
„Oh!“
Kalessan schluckte.

„Und
du bist dir sicher, dass dieser Herr… wie hieß er noch mal, Schatz?“

„Kalessan…“
„…dass dieser Kalessan unseren Liebling auch annehmen wird?“,
erkundigte sich Rita bei ihrem Mann und versuchte, das laute Quietschen der
Kutschenräder und das Hufgetrappel der Pferde zu übertönen.
„Nein, ich bin mir ganz und gar nicht sicher – aber er ist unsere
einzige Chance… Ninnel, hör bitte damit auf, mit deinem Messer die Kutsche
zu zerkratzen! Außerdem ist er der einzige, der es mit dem… impulsiven
Charakter unseres Sohnes aufnehmen kann.“

„Und warum wohnt er mitten im Wald?“
„Nun… er ist ein Einsiedler?“, entgegnete Karlmax vorsichtig.
„Ein Einsiedler? Unser Sohn soll bei einem Einsiedler
wohnen? Bist du denn von allen Sinnen?“
„Schatz, ich habe dir gesagt, er ist unsere einzige Chance. Wir können
jetzt nicht mehr zurück – wir haben eh schon Glück, dass seine
Behausung ungefähr auf dem Weg liegt. Und sieh es doch mal von der positiven
Seite: Unser Sohn lernt die Natur kennen, lernt, wie er alleine in der Wildnis
überleben kann und verbringt ein paar wildromantische Wochen – nicht
wahr, Ninnel?“

„Ich will nicht zu so einem doofen Einsiedler!“, sagte Ninnel und
begann wieder, mit seinem Messer obszöne Muster in das Holz der Kutsche
zu gravieren.
„Ninnel, ich habe gesagt, du sollst damit aufhören! Sag du doch auch
mal was, Rita!“, wandte sich Karlmax verzweifelt an seine Frau, als sein
Sohn keine Anstalten machte, den Befehl des Vaters zu befolgen.
„Schatz, hör bitte auf damit!“, sagte Rita, woraufhin Ninnel
sie kurz anglotzte, um dann das Messer in seine Tasche zu stecken und seinen
Vater durchdringend anzustarren.
Plötzlich kam die Kutsche abrupt zum Stehen und das andauernde Quietschen
und Hufgetrappel wurde durch lautes, panisches Wiehern ersetzt.

„Oh, ich fürchte, wir sind bald da!“, ließ sich Karlmax
vernehmen und stieg aus dem Gefährt aus.
Um ihn herum erstreckte sich der düstere, verlassene und erschreckend ruhige
Wald. Jedenfalls hatte Karlmax das Gefühl, dass er erschreckend ruhig werden
würde, wenn die Pferde mit ihrem Gewieher aufhörten.
„Die Pferde wolln nich weiter, Sir, weiß auch nich, warum.“,
sagte der Kutscher, ein dreckiger, abgetakelter Unhold mit grauenhaftem Akzent,
der für sämtliche Neudorfer, die beruflich in irgendeiner Form mit
Pferden zu tun hatten, absolut typisch war.

„Ähm, das geht schon in Ordnung, Herr Kutscher, wir gehen ab hier
zu Fuß weiter. Fahrt ihr doch einfach ein wenig zurück, bis die Pferde
sich wieder beruhigt haben und wartet dort auf uns. Sollten wir in… einer
Stunde noch nicht wieder zurück sein, dann fahrt einfach wieder zurück
nach Neudorf und behaltet das Geld – und, wenn ich euch einen Rat geben
darf, fahrt schnell!“, mit diesen Worten warf Karlmax dem Kutscher ein
Beutel mit Gold zu, was normalerweise ein todsicheres Mittel ist, um einen Neudorfer
Kutscher seltsame Befehle ohne Fragen ausführen zu lassen… normalerweise…
„Hoi… und warum so viel, Sir?“, erkundigte sich der Kutscher.
„Ähm… Gefahrenzulage!“

„Ah… Darf man auch erfahrn, warum so viel, Sir?“
Karlmax warf einen Blick auf seine Familie, die eben aus der Kutsche ausgestiegen
war und sagte:
„Nein! Deswegen ist es auch so viel.“
Das reichte dem Kutscher anscheinend, der mit einem Achselzucken die Kutsche
mit den scheuenden Pferden auf dem Waldweg (welcher übrigens merkwürdig
breit war und so aussah, als würde er regelmäßig benutzt werden)
wendete und den Weg zurückfuhr, den sie gekommen waren.

„Könntest du mir mal bitte erklären, was hier los ist?“,
giftete Rita ihren Mann mit in die Seiten gestemmten Armen an.
„Nein, kann ich nicht, aber eine andere Möglichkeit, Ninnel unterzubringen,
gibt es jetzt auch nicht mehr – oder willst du etwa doch, dass er uns
auf dieser interessanten Reise begleitet?“
Karlmax hoffte, dass seine Frau sich noch an den einen Auftritt von ihm erinnerte,
wo Ninnel die „Hoppe Hoppe Reiter mit Sporenstiefeln“-Nummer auf
der Bühne vor dem Publikum mit seinem Vater abgezogen hatte, ohne dass
sich Karlmax dagegen hätte wehren können..

Glücklicherweise war Rita jener Auftritt ebenso peinlich gewesen und noch
immer sehr gut in Erinnerung. Deswegen war nun einer der wenigen Momente gekommen,
in dem sie sich ihrem Mann unterordnete, wenn auch nicht ohne die Arme zu verschränken
und säuerlich vor sich hin zu grummeln.
Nach einigen Minuten Fußmarsch endete der Weg an jenem dunklen, finstren
Höhleneingang mitten im Wald, an den Karlmax nur zu gute Erinnerungen hatte.
Momentan fragte er sich, wie er es damals geschafft hatte, jene Höhle lebendig
zu verlassen und ob ihm das noch ein zweites Mal gelingen würde, von seiner
Familie ganz abgesehen…
„Eine HÖHLE? Eine HÖHLE! Unser Sohn kann nicht mal mehr in einem
richtigen Haus mit einem ordentlichen Bett schlafen? Bist du jetzt vollkommen
übergeschnappt, Karlmax?“, fuhr Rita auf.

„Schatz, er wird es überleben! Nicht wahr, Ninnel?“, entgegnete
Karlmax hilflos.
„Ich will nicht in diese doofe Höhle!“
„Da siehst du’s! Er will nicht da rein!“, sagte Rita.
„Er wollte auch nie zu den Dusseleys…“

„Aber die kannte ich wenigstens.“
„Nun, ICH kenne Kalessan da drinnen – oh bitte, Rita, kannst du
mir nicht ein einziges Mal vertrauen?“
Mittlerweile war Karlmax der Verzweiflung nahe und sich nicht mehr sicher, ob
er die Konfrontation mit Karlmax oder die mit seiner Frau mehr scheute.
„Ich will nicht in diese doofe Höhle!“
Rita schaute ihren Gatten an, zuckte kurz nervös mit den Augenlidern und
sagte dann:

„Halt den Mund und tu, was dein Vater dir sagt!“
Karlmax atmete erleichtert auf – er hatte sie!
„In Ordnung, ich gehe dann jetzt erst mal alleine da rein und rede mit
ihm – ihr wartet solange hier draußen!“
Er traf auf keinen Widerstand mehr und machte sich daran, die Höhle zu
betreten, als er sich wieder fragte, ob die Konfrontation mit Rita vielleicht
doch dem vorzuziehen war, was ihm nun bevorstand…

Die
paar Meter vom Höhleneingang zur Haupthalle überlegte Karlmax verzweifelt,
wie er die Konversation mit seinem „Freund“ denn beginnen sollte,
ohne dessen Launen gleich zum Opfer zu fallen.
„Mensch, Kalessan, lange nicht gesehen! Wie geht’s, wie steht’s?“
Nein…
„Hi Kal, alte Schuppe!“

Nein…
„Hallo Kalessan, ich wollte nur mal wieder bei dir vorbeischauen!“
Nein…
„Fischers Fritz fischt frische Fische!“
Nein… obwohl das Kalessan zunächst vielleicht verwirren und Karlmax mehr
Zeit geben könnte…

Als er die Höhle betrat und Kalessan erblickte, fiel ihm dann eine passende
Begrüßung ein:
„Bevor du einen Laut machst – versuche bitte so zu sprechen, dass
meine Trommelfelle nicht gleich platzen, ja?“
Der ihm gegenüber liegende alte, rote Drache schnaubte verächtlich.
Faul zusammengerollt lag er auf dem Boden seiner Höhle, welcher von alten
Rüstungsteilen, Knochen und kleinen, gelben Pfützen bedeckt war.

Seine Gestalt würden einige als „imposant“, andere als „majestätisch“,
die meisten jedoch nur als „beängstigend groß“ beschreiben,
wobei die Betonung sehr stark auf „beängstigend“ liegen würde.
Doch auch dies taten nur wenige – alle anderen beschrieben ihn als „AAAAAHHHHHH!“
und liefen vor ihm weg, griffen ihn an oder fielen tot um, was allerdings keinen
Unterschied machte, da eh alles auf dasselbe Ergebnis hinauskam…

Aufgrund der vielen verdächtig gelben Pfützen könnte man nun
vermuten, dass der Höhle ein gar grässlicher Gestank anhaftete. Doch
wenn man es schaffte, seinen Blick mal von dem riesigen, roten Besitzer jener
Hallen abzuwenden, fielen einem recht bald ein paar große Tannenbäume
auf, die von der Decke hingen. Beanspruchte man nun noch sein Riechorgan, so
konnte man feststellen, dass der Höhle ein stechend-harziger Nadelwaldgeruch
anhaftete, der dem Gestank von Verwesung und Exkrementen in der Nase fast keinen
Platz mehr ließ.
„Wer bist du, dass du mir Befehle erteilst, Wicht?“, meldete sich
der Drache nun mit einer Stimme zu Wort, die zwar nicht seiner vollen Lautstärke
entsprach, in den Ohren eines nicht-tauben Menschen aber immer noch ziemlich
schmerzte, „Und vor allem: Was duzt du mich?“

Karlmax rutschte das Herz fast in die Hose – nicht nur von der Lautstärke.
Wenn der Drache ihn nicht erkennen sollte, sah es, gelinde gesagt, schlecht
um ihn aus.
„Erkennt ihr mich denn nicht wieder, Kalessan? Ich bin es, Karlmax!“
Er grinste ihn nervös an. Der Drache starrte verächtlich zurück,
schmatzte dann kurz und sagte:
„Ach so, du… Du warst doch gerade erst hier!“

„Das war vor neun Jahren!“
„Sag‘ ich doch…“
„Neun Jahre sind für einen Menschen eine halbe Ewigkeit!“
Kalessan zog das draconische Ambivalent einer Augenbraue hoch und erwiderte:
„Na dann hast du ja noch ein paar Ewigkeiten zu leben, freu dich. Und
jetzt: Verpiss dich!“

Karlmax schluckte und riss sich zusammen. Wozu war er denn hergekommen, wenn
er genau wusste, was ihn erwarten würde?
Moment mal, er hatte keine Ahnung gehabt, was ihn erwarten würde…
Also half nur eines: Das Vorgehen nach dem „Augen zu und durch!“-Prinzip,
mit der Hoffnung, es möge schnell vorbei gehen – was auch immer dieses
Es sein möge…

„Tut mir leid, aber ich bin nicht zum Spaß hergekommen, oder weil
ich euch mal wieder sehen wollte. Ehrlich gesagt möchte ich euch um einen
kleinen Gefallen bitten!“
Kalessans Miene gefror.
Leute, die ihn umbringen wollten – okay!
Leute, die sein Gold stehlen wollten – okay!

Leute, die ihm Opfer darbrachten – okay!
Leute, die ihm die neuste Ausgabe von „Mord ist Sport“ lieferten
– okay, das alles konnte man essen!
Leute, die ihn um einen kleinen Gefallen baten – und dann auch noch Leute,
die er kannte und denen er etwas schuldig war… wie peinlich!

„So so, du bittest mich also um einen ‚kleinen Gefallen‘.
Und was bitteschön verleitet dich zu der Annahme, dass ich dir diesen ‚kleinen
Gefallen‘ auch erfülle und dich nicht einfach umbringe?“, fragte
er, indem er sich mit seinem massiven Kopf dem kleinen Menschen bedrohlich näherte.
Karlmax nahm allen seinen Mut zusammen, holte tief Luft und sagte mit der festesten
Stimme, die er aufbringen konnte:
„Ihr hattet mir vor neun Jahren gesagt, dass ihr mir noch etwas schuldig
wäret. Ich bin nun gekommen, um diese Schuld bei euch einzulösen!“

Soweit sich Karlmax erinnern konnte, hatte Kalessan ein recht ausgeprägtes
Ehrgefühl, und die Hilfestellung, die er ihm beim Retten seiner Magie und
seiner Existenzform als Drache damals geleistet hatte, war nicht gerade gering
gewesen.
Der Drache schien sich zu erinnern:
„Ach ja, dieser kleine, dunkle Fleck in meinem Leben… ich hatte gehofft,
dass du dieses Versprechen vergessen würdest oder zumindest vorher stirbst,
bevor du es einlösen konntest.“, er seufzte tief, „Also schön,
was willst du? Soll ich dir in irgendeinem dein Heimatland bedrohenden Krieg
helfen? Macht euch ein Kollege von mir zu schaffen? Soll ich deinen Leibwächter
spielen?“

„Ehrlich gesagt ist meine Bitte nicht ganz so… umständlich…“
„Oh, du bist knapp bei Kasse… na gut, wie viel brauchst du? Meine Zinssätze
sind für dich natürlich extra günstig…“
„Es geht auch nicht um Geld, mehr um… Betreuung.“, erwiderte Karlmax.
„Oh, ich darf dir irgendein wichtiges Artefakt bewachen? Na, zum Bewachen
sind wir Drachen ja noch gerade gut genug, nicht wahr?“, sprach Kalessan
sarkastisch weiter.

„Nein, es geht auch nicht um ein Artefakt, sondern… um meinen Sohn.“
„Ach so, dein Sohn… BITTE, WAS?“
„Esistnichtlange, wirklich! Nur ein paar Wochen, bis ich und meine Frau
wieder zurück sind, mehr verlange ich nicht.“
„VERLANGST du? Du VERLANGST von mir, dass ich den Kinderhüter für
so einen kleines, widerliches Menschenbalg spiele!?“, zischte Kalessan
hitzig, den Hals gebogen wie eine Schlange, die kurz vor dem Zustoßen
ist.

Karlmax war auf dem besten Weg, den Pfützen auf dem Boden eine weitere
hinzuzufügen.
„Dir ist wohl nicht bewusst, dass ihr Menschen auf meinem Speiseplan ganz
oben steht? Da kommt mir so ein kleiner Wurm, den ich nicht antasten darf, hier
drin nicht gerade gelegen!“, fuhr der aufgebrachte Drache fort.
„Nun, das wäre ein weiteres Problem… Solange der Kleine hier ist,
wäre ich euch auch sehr verbunden, wenn ihr diese… Eigenarten ein wenig
zurückschrauben und woanders ausleben könntet. Nur ein paar Wochen?“,
fügte Karlmax kleinlaut hinzu.

„Das ist ganz toll, wirklich. Kannst du dir wirklich nicht etwas anderes
einfallen lassen, um diese kleine Rechnung zwischen uns zu begleichen? Ich könnte
dir doch Geld geben, meinetwegen auch ohne Zinsen, damit kannst du dir einen,
quatsch, ein Dutzend Babysitter leisten!“
„Das geht nicht, dazu ist es zu spät! Ihr seid meine letzte Hoffnung,
den Jungen irgendwie unterzubringen, denn mitnehmen kann ich ihn auf keinen
Fall! Wie gesagt, es wäre nur für kurze Zeit… und wisst ihr was,
sobald ich ihn dann wieder abgeholt habe, werde ich euch nie wieder belästigen,
das verspreche ich euch! Eure Schuld bei mir ist damit beglichen, und ich werde
euch nie wieder behelligen. Dieser dunkle Fleck in eurem Leben wird praktisch
nie existiert haben!“
Karlmax kam der Verzweiflung nahe. Der Drache schien ihm gegenüber zwar
nicht mehr wirklich aggressiv eingestellt zu sein, dennoch war es seine letzte
Chance, den Jungen loszuwerden.
Kalessan dachte nach – und kam zu einem Entschluss:

„Nur ein paar Wochen?“
„Nur ein paar Wochen!“
„Ich sehe dich danach nie mehr wieder?“
„Nie wieder!“
Der große Drache seufzte erneut:
„Na schön, ich mache es… ein wenig Abwechslung kann hier drinnen
wohl nicht schaden… Also, was muss ich tun?“

Karlmax atmete auf – das war geschafft!
„Nun, ihr müsst vor allem für Essen, Trinken, für eine
Schlafstatt und eventuell auch für Kleidung sorgen.“
„Kleider, das sind diese Dinger, die immer zwischen den Zähnen hängen
bleiben!?“, erkundigte sich Kalessan grinsend.

Karlmax versuchte, ihn zu ignorieren:
„Ihr müsst ihn einfach nur ein bisschen beschäftigen. Er kann
recht anstrengend sein, aber ich bin mir sicher, dass ihr die nötige…
Autorität habt, um damit fertig zu werden.“
„Darauf kannst du zählen, das stimmt. Nun gut, genug geredet, jetzt
kannst du mir diesen kleinen Wurm auch endlich vorstellen und abzischen, damit
ich meinen Spaß mit ihm haben kann!“
Karlmax fand das gar nicht komisch.

„Ich finde das überhaupt nicht komisch, Kalessan. Bitte vermasselt
es nicht! Betrachtet es als… andersartige Herausforderung, wenn ihr wollt,
aber ich möchte meinen Jungen in ein paar Wochen in einem Stück zurück
haben, und zwar genau so, wie ich ihn euch übergebe. Denkt ihr wirklich,
dass ihr dieser Aufgabe gewachsen seid?“
„Die Aufgabe, der ich nicht gewachsen bin, muss erst noch gefunden werden,
Kleiner. Stellst du uns jetzt endlich mal einander vor?“, erwiderte der
Drache ungeduldig.
„Nun, da ist noch ein kleines Problem: Meine Frau weiß noch nicht,
dass ihr ein Drache seid, und… mir wäre es auch lieber, wenn sie es jetzt
noch nicht erfährt… Wenn ihr also mit herauskommen könntet und euch
vorher…“

Er ruderte mit den Armen, unfähig, sein Anliegen auszusprechen. Kalessan
verstand ihn auch so:
„Du weißt, was du da verlangst?“
Karlmax nickte nervös.
„Du weißt, dass ich mich seit dieser letzten Geschichte nicht mehr
verwandelt habe?“
„Ich… kann es mir denken… aber wie groß ist wohl die Wahrscheinlichkeit,
dass irgendein wahnsinniger Magier jetzt gleich vorbeikommt und euch erneut
eure Magie erneut stiehlt? Ha ha?“

Der Drache seufzte:
„Nein, du hast wahrscheinlich Recht… warum mache ich das alles bloß?“
Karlmax hatte ziemliches Glück, dass Kalessan diesen Gedanken nicht weiter
verfolgte. Ansonsten wäre der Drache wahrscheinlich darauf gekommen, dass
er das alles wirklich gar nicht machen müsse, hätte ihn und seine
Familie auf der Stelle umgebracht und sich den ganzen Ärger erspart. Der
Drache wusste, dass er mit seinen Gedankengängen dort herauskommen würde
und verfolgte sie auch Karlmax zuliebe absichtlich nicht weiter, sondern verwandelte
sich einmal mehr in den über zwei Meter großen Hünen in roter
Robe, der sein menschliches Erscheinungsbild war.

„Zufrieden?“, fragte Kalessan lakonisch.
„Ihr habt keine Ahnung, wie dankbar ich euch für das bin, was ihr
hier tut!“
„Ach komm, spar dir den Mist!“
Karlmax atmete erneut erleichtert auf. Der Rest sollte ja jetzt ein Kinderspiel
sein.

Draußen
warteten eine entnervte Ehefrau mit in die Seiten gestemmten Armen sowie ein
lautstark quengelnder Junge auf ihn – die Reihe an stressigen bis lebensgefährlichen
Situationen schien also zunächst doch noch kein Ende zu haben.

„Du hast dir ja ganz schön viel Zeit gelassen, mein Lieber. Ich bin
hier mit dem Jungen fast wahnsinnig geworden.“ – Warum „fast“?,
dachte sich Karlmax angesichts der Schärfe ihrer Stimme. – „Und
was war das für ein lautes Gebrüll, das da aus der Höhle kam?
Ich wäre dir beinahe nachgegangen, wenn da drinnen nicht alles so schmutzig
wäre und so schrecklich stinken würde!“

Karlmax drehte sich erschrocken um, doch Kalessan schien nicht beleidigt, sondern
eher belustigt, wie er es immer war, wenn Menschen mit ihm umsprangen wie mit
einem… Menschen.
„Ähm, Schatz – das ist Kalessan, er wird die nächsten
Wochen auf unseren Sohn aufpassen. Kalessan, meine Frau Rita, mein Sohn Ninnel.“
Verblüfft beobachtete er, wie Kalessan seine Hand ausstreckte, um sie Rita
zu geben. Beide Parteien schienen von dem überaus heftigen Händedruck
ihres Gegenübers ziemlich überrascht und konnten sich anscheinend
nur mit Mühe zurückhalten, keinen plötzlichen Schmerzenslaut
auszustoßen.

„Bin erfreut.“, presste Kalessan hervor und begann, Karlmax‘
Frau abfällig-interessiert (oder auch interessiert-abfällig) von oben
bis unten zu mustern.
„Ebenfalls. Ihr seid also dieser ominöse Kalessan. Wisst ihr denn
überhaupt, wie man mit Kindern umgeht?“, fragte Rita in bemüht
freundlichem Tonfall.
„Hätte mich euer Mann sonst vorgeschlagen?“, entgegnete der
Drache.

„Also habt ihr schon einmal mit Kindern gearbeitet? Oder hattet ihr selbst
einmal eine Familie?“
„Äh, Rita, wir müssen jetzt schnell gehen, der Kutscher wartet
nicht mehr lange auf uns!“, rief Karlmax hastig dazwischen, der das Thema
von Kalessans Familie nun als allerletztes angesprochen haben wollte.
„Aber Schatz, ich möchte schließlich ein wenig über den
Mann erfahren, dem ich meinen Sohn über die nächsten Wochen anvertraue.“
„Ja genau! Ich könnte euch alle ja noch schnell zum Essen einladen
und wir besprechen die ganze Angelegenheit!“, bestätigte Kalessan
mit einem sadistischen Grinsen in Karlmax‘ Richtung.

„NEIN!“, rief Karlmax, lauter, als er eigentlich gewollt hatte,
was eine dieser kurzen, peinlichen Stillen zur Folge hatte.
Mit gesenkter Stimme fuhr er fort:
„Wir haben nicht mehr viel Zeit, wir müssen schnell zurück,
Schatz. Bitte vertrau mir in dieser Angelegenheit einfach – ich vertraue
ihm ja auch.“, sagte er mit einem ebenso vielsagenden Blick auf den grinsenden
Drachen.
„Nun gut Ninnel, wir lassen dich jetzt ein paar Wochen mit Onkel Kalessan
hier alleine. Er wird in dieser Zeit deine Familie für dich sein, also
benimm dich!“, und mit leisem Tonfall fügte er dann hinzu:

„Es ist zu deinem eigenen Besten!“
Rita gab zu Karlmax‘ Erleichterung klein bei und verabschiedete sich ebenfalls
von ihrem Sohn mit den üblichen Ratschlägen immer brav zu sein, dem
netten Herrn doch keinen Ärger zu machen und sich vor dem Essen immer die
Hände zu waschen.
An Kalessan gerichtet sagte sie dann noch:
„Dass ihr mir ja gut auf meinen Sohn aufpasst, und dass ihm auch ja nichts
passiert, versteht ihr? Ich kann zu einer wilden Bestie werden, wenn meinem
kleinen Ninnel etwas zustößt!“

Kalessan beugte sich leicht vor und erwiderte:
„Ich doch auch, meine Liebe…“
Karlmax entschied sich, dass es wirklich an der Zeit war, nun zu gehen, nahm
seine Frau mit sanfter Gewalt beiseite, verabschiedete sich noch mal von seinem
Sohn und richtete sich noch ein letztes Mal an den Drachen:
„Ihr wisst, was ihr zu tun habt?“
Kalessan nickte.
„Dann auf bald! Und… vielen Dank nochmals!“

Der Drache winkte lächelnd ab, was Karlmax jedoch nicht unbedingt beruhigte.
Dennoch verließ er mit seiner Frau nahezu fluchtartig das Geschehen.
Auf dem Weg zur Kutsche fiel ihm ein, was er mit Rita nun während der Abwesenheit
seines Sohnes ebenfalls etwas… ausgiebiger betreiben konnte und lächelte
glücklich – schon bei Sally war Rita wirklich nicht schlecht gewesen…

Für
Kalessan ging das ganze ein klein bisschen zu schnell. Auf einmal stand er alleine
vor seiner Höhle, zusammen mit einem kleinen, ihm völlig unbekannten
Menschenbengel, der ihn mit großen Augen nichtssagend anstarrte. Schlimmer
noch, er musste sich jetzt persönlich um dieses Ding kümmern… nicht
morgen, nicht später, nicht nachher, sondern jetzt, gleich, sofort! Na
toll…

„Komm mit rein!“, sagte er. Auf dem Weg in seine Heimstätte
würde ihm schon einfallen, wie er mit dieser Situation fertig werden sollte.
Er lief ein paar Meter, blieb dann stehen und drehte sich noch mal um –
der Junge hatte sich nicht vom Fleck bewegt und starrte ihn weiterhin durchdringend
an. Das konnte ja sogar ihm fast unangenehm werden…
„Was ist, bist du taubstumm oder so?“
Der Junge – Ninnel hieß er, richtig – schüttelte den
Kopf.

„Bist du vielleicht nur stumm?“
Er schüttelte den Kopf erneut.
„Und was ist dann dein Problem?“
„Meine Mama hat gesagt, ich darf nicht mit Fremden mitgehen.“
„Bitte, mir soll es nur Recht sein!“, mit diesen Worten drehte Kalessan
sich um und betrat seine Höhle. In seinem Hauptwohnraum angekommen, lehnte
er sich lässig an die Wand und wartete auf den Jungen, der ihm ja nun jeden
Moment hinterherkommen müsste.

Währenddessen blieb Ninnel draußen stehen und beobachtete zunächst
die Umgebung der Höhle, ohne sich dabei auch nur einen Millimeter zu rühren.
Nachdem er mit seiner Beobachtung fertig war, entschied er sich dazu, abzuwarten,
was denn als nächstes passieren würde. Er wartete ungefähr eine
halbe Stunde, dann stürmte ein wütender, roter Hüne aus der Höhle,
packte ihn am Kragen und schleifte ihn in sein Heim. Ninnel grinste stumm in
sich hinein.
Als Kalessan ihn, in seiner Höhle angekommen, an der Gurgel hochhob, grinste
er nur noch breiter.

„Jetzt hör mir mal zu, du Wurm! Solange du bei mir bist, wirst du
tun, was ich dir sage, nicht das, was deine werte Mutter dir irgendwann mal
gesagt hat – denn sie ist nicht hier, um dich zu beschützen, und
anscheinend soll ich diese Aufgabe übernehmen. Aber ich habe nicht die
geringste Lust, auf so ein kleines Menschlein aufzupassen, das mir keinen Respekt
zollt!“
Dass dem Jungen die Luftzufuhr abgeschnitten war, tat seinem Grinsen anscheinend
keinen Abbruch. Kalessan ließ ihn hinunter.
„Wenn du das noch mal machst, sage ich es meiner Mutter und die macht
dich dann zur Schnecke!“, sagte Ninnel mit einer für das eben Erlebte
nahezu unnatürlichen Ruhe.

„Und ich mache sie zu meinem Frühstück, sollte sie es versuchen.
Nur, weil ich deinem Vater was schuldig bin, heißt das nicht, dass ich
mir von ihm oder seinen Verwandten alles gefallen lassen muss! Hör also
gefälligst auf, mich zu duzen und zoll mir den Respekt, der mir gebührt!“
Ninnel fing wieder an, fies zu grinsen und brach daraufhin in folgenden Singsang
aus:
„Dududu duDu duDu duDudeldiDU, DU DU DU DU DU, dudeldudelDUdudu.“
Kalessan konnte sich nicht mehr daran erinnern, dass ihn je jemand offener und
vor allem sorgloser als jetzt verspottet hatte, was natürlich hauptsächlich
an seiner momentanen, weit weniger eindrucksvollen Gestalt lag.

„…Dududu, DuduDUdududu…“
Es reichte – jetzt kam die Zeit, um Eindruck zu schinden. Kalessan leitete
die Verwandlung ein und begann, zu wachsen und sich zu verändern.
„Dududu, dududu… dududu… «
Er wuchs und wuchs und wuchs und wuchs…
„Dudu… dudu… du…“

…und wuchs und wuchs und wuchs und wuchs…
„Du… du…“
…und wuchs, bis schließlich nicht mehr Onkel Kalessan, der Zwei-Meter-Mann,
sondern Kalessan der Fünfzig-Meter-Drache, die Höhle ausfüllte.
„…du… du?“
Kalessan beugte seinen massiven Schädel hinunter und brachte ihn kurz vor
dem kleinen Menschenjungen zum Verharren.

„Na, was sagst du jetzt, Winzling?“, brachte er leise, aber bedrohlich
hervor.
Ninnel zögerte kurz und sah ihn weiterhin ausdruckslos an. Dann sagte er:
„Du bist hässlich und du stinkst!“

Ausatmen!
Drachen können zu einigen der gefährlichsten Wesen der gesamten Welt
heranwachsen. Kalessan ist alt und sein persönlicher Gefährlichkeitsgrad
darf aufgrund seines Temperaments noch potenziert werden. Damit überholt
er sogar die drei schrecklichen Furien Alexzstrzuszszuszia, Chmlech’krach!clochchmchmrn
und Karl-Heinz, die vor allem wegen ihrer schrecklichen Namen und ihrer Angewohnheit,
sich nur mit vollem Namen anreden zu lassen, gefürchtet werden. Bei letzterer
streitet man übrigens noch um ihr Geschlecht – natürlich nur
in ihrer Abwesenheit.

Und ausatmen!
Ein Wesen wie Kalessan zu reizen ist also sehr sehr dumm.
Kalessan war sich dessen vollkommen bewusst, weswegen er, teilweise um sich
selbst zu beruhigen, diese Kreatur vor ihm einfach nur als „bemitleidenswert
dumm“ abtat und sich einredete, dass es doch eine viel größere
Bösartigkeit wäre, sie in diesem Zustand vollkommenster Dummheit weiterhin
existieren zu lassen, anstatt sie von ihrem Leiden zu erlösen.
Und wieder ausatmen!

„Na, haben wir uns langsam an diesen ‚Gestank‘ gewöhnt?“,
sagte er, bevor das groteske Pendel wieder zu ihm zurück schwang und er
es erneut mit einem kräftigen Hauch wieder in die andere Richtung pustete.
Ninnel hing kopfüber an einer langen Kette von einer der geruchsintensiven
Tannen in Kalessans Höhle und pendelte, vom Atem des Drachen angetrieben,
nun schon seit einiger Zeit immer hin und her.
„Ich erzähle meiner Mama davon!“, sagte er.

„Ach, und was will deine Mama gegen einen ausgewachsenen Drachen wie mich
ausrichten? Mir im Hals stecken bleiben?“
Überraschenderweise fand Ninnel darauf keine Antwort.
Mit einer Klaue brachte Kalessan das Ninnel-Pendel zum Anhalten und funkelte
den Jungen mit seinen gelb glühenden Augen an.
„Wir werden diese kleine Prozedur ab jetzt immer dann durchführen,
wenn du dich nicht benimmst, klar?“
Ninnel nickte.

„Und wenn du deiner Mutter oder deinem Vater davon erzählst, dann
werde ich sie hier auch aufhängen – das willst du doch nicht, oder?“
Ninnel schüttelte den Kopf.
„Gut, also wenn ich dich jetzt runterlasse, wirst du dich dann benehmen
und deine Beleidigungen zurücknehmen?“, fragte der Drache ihn mit
schiefgelegtem Kopf.
„Ja.“

Kalessan berührte die Kette kurz, welche mit einem leisen Klicken aufsprang.
Ninnel setzte er auf dem Boden vor sich ab und starrte ihn forschend an.
„Na… ich höre?“
Der durch Kalessans Prozedur sichtlich grün angelaufene Junge schaute ihn
trotzig an, sagte dann aber mit gesenktem Blick:
„Tutmirleid…“
Kalessan knurrte kurz, gab sich aber mit der Antwort zufrieden… mehr durfte
man von diesem Balg wohl nicht erwarten.

Dieser sich von seiner kleinen Folter offenbar sehr schnell erholende Balg sprach
ihn jedoch erneut an:
„Ich hab‘ Hunger!“
Faszinierend, wie viel Suizidpotential diesem Jungen anhaftete – jener
Satz erinnerte Kalessan nämlich just an seine eigenen, aufgrund dieses
in Griffweite liegenden, kleinen Snacks selber wieder erwachten Hungergefühle.
Zum Glück mochte der Drache Herausforderungen – als gefährlichstes
Wesen der Welt hat man nicht mehr viele. So galt es, die eigene Selbstbeherrschung
stärker sein zu lassen als Ninnels Eigenschaft, sich in ungeahnte Gefahrensituationen
zu bringen.

Nur fiel Kalessan erst jetzt auf, was für ein Problem die Nahrungsbeschaffung
für das Kind sein würde. Die örtliche Fauna packt nämlich
schneller die Koffer als man „Blaubeerpfannkuchen“ sagen kann, wenn
sich ein Wesen wie Kalessan in der Nähe einnistet und zum Beeren pflücken
und Brot backen sowie zum Einfach-in-die-nächste-Stadt-gehen-und-etwas-kaufen
war der Drache zu stolz.
Somit blieb nur das einzige Nahrungsmittel übrig, das dumm genug war, angesichts
der Präsenz des Drachen nicht zu fliehen.

Das einzige Nahrungsmittel, von dem Kalessan ganz genau wusste, wo er es finden
und einfach bekommen könnte.
Das einzige Nahrungsmittel, das Kalessan auch auf sehr schmackhafte Art und
Weise zubereiten konnte.
Und das war nun mal…

„Was
ist denn das?“, fragte Ninnel, als er das von Kalessan einige Zeit später
zubereitete Gericht sah. Es handelte sich um einen großen, sehr dunkelbraunen
bzw. bereits schwarz verkohlten, unförmigen Fleischklumpen, dessen Zubereitung
darin bestand, dass es auf dem Blatt einer großen, grünen Pflanze
lag. Man beachte, wie das Attribut „schmackhaft“ von Spezies zu
Spezies vollkommen unterschiedlich interpretiert wird.

„Ist doch egal, wovon das stammt. Das ist Fleisch, das ist nahrhaft, das
ist gesund – also iss!“, erwiderte der sich momentan in seiner menschlichen
Gestalt befindliche Kalessan.
„Das da sieht aber aus wie eine Hand!“, zeigte Ninnel auf ein aus
der Masse herausragendes Fleischstück.
„Ähm… da spielt dir deine Phantasie wohl einen Streich… du hast
doch sicherlich Hunger? Also iss endlich!“
Der leichte Anflug von Panik in Kalessans Stimme war sicherlich auch nur ein
Streich von Ninnels Phantasie…

„Aber an der Hand steckt noch ein Ring dran!“
Kalessan erlebte das faszinierende, menschliche Gefühl eines spontanen
Schweißausbruchs, als er näher hinsah und das glänzende Stück
Metall entdeckte, das auf einem der kleinen Auswüchse des Fleischklumpens
steckte.
Blitzschnell nahm er den Ring und brach dabei das Stückchen Fleisch, das
einem menschlichen Finger wirklich gar nicht mal so unähnlich war, ab.

Mit den Worten „Das ist gar kein Ring, sondern ein… ähm… ein
Stück Fett!“ steckte er ihn sich in den Mund und kaute darauf herum
– für einen Drachen in Menschengestalt ist das gar nicht mal so schwer,
da seine natürliche Kraft sich auf andere Erscheinungsformen seiner Wahl
überträgt. Bei einem Amok laufenden Drachen in Gestalt eines süßen
Kätzchens kann das schon mal ganz witzige bzw. blutige Ergebnisse haben,
was jedoch eine Episode seines Lebens ist, die Kalessan nicht gerne erwähnt
haben will. Für einen Drachen ist es jedenfalls ungefähr so anstrengend
einen soliden Metallgegenstand zu kauen, wie für einen Menschen eine Walnuss
mit Schale zu essen… man verzichtet also lieber darauf.

„Hmmm… lecker!“, würgte der Drache hervor und schluckte den
Ring hinunter. Leider hatte er ihn noch nicht auf eine für die Speiseröhre
seiner menschlichen Form akkurate Größe zurechtgekaut, weswegen ihm
das Metallstück auch wortwörtlich im Halse stecken blieb. Für
ein Wesen, das einen ganzen Ritter inklusive Rüstung, Pferd, Lanze und
allem Zubehör (wenn vorhanden also inklusive Knappen) schon mal im Stück
verschluckt eine entsprechend peinliche Situation. So taumelte Kalessan also
hustend und würgend durch die Pfützen seiner Höhle, schaffte
es dann irgendwie, seinen Hals zu befreien und das stark verformte Metallstück
wieder auszuspeien. Das laute *pling*, das ertönte, als der ehemalige Ring
auf dem Boden aufschlug, verhallte peinlich im Raum. Kalessan sah Ninnel erschöpft
von der Seite an.

Der Kommentar des Jungen zu der Situation war:
„Ich esse kein Fleisch!“
Über diesen Satz vergaß Kalessan sogar das Erschöpftsein und
starrte den Jungen ungläubig an.
„Du willst mir nicht wirklich erzählen, dass du einer von diesen…
wie hießen sie noch mal… Vegetierenden bist!?“

Ninnel nickte.
„Das soll also heißen, dass ich diesen schönen Braten hier
vollkommen umsonst getö… gefangen und zubereitet habe und jetzt noch
mal losziehen darf, um dir… Beeren oder… Brot oder so ein Zeug zu besorgen!?“,
fragte der Drache mit mühsam unterdrückter Wut in der Stimme.
„Ich mag auch Kartoffeln!“, sagte Ninnel fröhlich grinsend.

Kalessan erkannte, dass er um einen Einkauf in der nächstgelegenen Stadt
mit zugehöriger Beratung wohl nicht herumkommen würde – doch
man kannte ihn in dieser Gegend und wusste genau, was für eine Kreatur
er war, was wohl zu einer weiteren für ihn entsprechend peinlichen Situation
führen würde.
Nun war der Moment gekommen, an dem sich Kalessan ernsthaft fragte, warum er
sich überhaupt die Mühe machte. Warum er diesen kleinen Winzling nicht
einfach umbrachte und auffraß, wie er es mit so vielen vorher schon getan
hatte. Und warum er seine Eltern nicht auch gleich beseitigte. Moralische Probleme
sollte es ihm aufgrund seiner ethischen Einstellung gegenüber der Menschheit
doch eigentlich nicht bereiten!?

War es die offene Schuld gegenüber Karlmax, der ihm schließlich mehrfach
das Leben gerettet hatte?
War es die Herausforderung, einmal Selbstbeherrschung und auch Verzichten unter
Extrembedingungen zu üben?
Oder hatte ihm die Jahrtausende währende Einsamkeit und der Hass ganzer
Völker gegen seine Person doch mehr zugesetzt, als er eigentlich wahrhaben
wollte?
Eine genaue Antwort wusste er nicht – am Ende stand nur die Entscheidung:

„Ach, verdammt, na gut!“

Eine
noch so unangenehme Aufgabe kann erträglich werden, wenn man sie richtig
angeht. Um also vegetarische Nahrungsmittel herbeizuschaffen, von denen er keine
Ahnung hatte, stattete er der größten Stadt innerhalb seines Reviers
einen Besuch ab und forderte bei einer schnell organisierten öffentlichen
Kundgebung ein Opfer der Bevölkerung in Form von Lebensmitteln, welches
ihm fortan wöchentlich in seine Höhle gebracht werden solle, zahlbar
mit Abschließen jener Kundgebung.
Kalessan hatte die menschliche Bevölkerung in seiner Umgebung schon oft
in Abständen von ein paar menschlichen Generationen zu kleinen und großen
Tributen aufgefordert. Zu weit trieb er es dabei jedoch nie, da es doch sehr
unpraktisch sein kann, wenn einem das letzte verbleibende Nahrungsmittel einfach
in Scharen wegläuft und man mit einer insgesamt eher ärmlichen bis
nicht vorhandenen Tierwelt in der nächsten Umgebung zurückgelassen
wird.

Menschen lassen sich jedenfalls nicht lange bitten, wenn ein roter Drache auf
ihrem Marktplatz landet und ihnen Forderungen unterbreitet – seien sie
noch so seltsam und enthielten Dinge wie „vegetierende Lebensmittel“…
Kurze Zeit später flog Kalessan mit mehreren großen Behältern
voller Getränke und dieser Lebensmittel, die Menschen so gerne aßen,
ein wenig stolz auf sich, weil er diese prekäre Situation so clever gelöst
hatte, zurück zu seiner Höhle im Wald.

Ein wenig verwundert darüber, dass Ninnel sich immer noch darin aufhielt
(heimlich hatte er ja doch gehofft, dass der kleine Quälgeist von selbst
in den Wald laufen und von Kalessans Wolfshorde oder, besser noch, seinem alten
Gehilfen, gefressen werden würde), präsentierte er dem Jungen die
Lebensmittel, die dieser zu Kalessans noch größerer Verwunderung
annahm und sogar aß, was aus der Sicht des Drachen durchaus als eine Verbesserung
der Lage angesehen werden durfte.
Jedoch waren anscheinend noch längst nicht alle Bedürfnisse des kleinen
Menschen als abgehakt zu betrachten. Über das eine wird weder in der Literatur
noch in den Medien der unseren Welt gerne gesprochen, die gesamte Problematik
dieses Bedürfnisses sei jedoch mit Ninnels Satz „Ich muss mal Pipi!“
und dem Antwortsatz von Kalessan „Du musst mal was?“ zumindest
einmal angeschnitten. Zusammenfassend sei berichtet, dass jene Situation auch
die Sätze „Ich muss mal groß!“ und „Kannst du mir
mal abwischen?“ beinhaltete, aber das gehört im Detail nun wirklich
nicht hierher. Man sollte meinen, dass dies der ohnehin schon angeschlagenen
Psyche Kalessans den Rest geben müsse – doch ganz im Gegenteil, der
Drache fand es eher interessant, dieses Grundbedürfnis des menschlichen
Körpers näher zu beobachten, was ausnahmsweise mal Ninnel unangenehm
war.

Das Interesse für menschlichen Stoffwechsel lässt sich am besten erklären,
wenn man im Gegensatz dazu den eines Drachen mal näher betrachtet. Drachen
können einen ungeheuer hohen Anteil der Nahrung, die sie aufnehmen, auch
wirklich in Energie umsetzen – der geringe Prozentsatz an biologischem
Abfall, der beim Verdauungsprozess übrig bleibt, wird über periphere
Organe der Haut ausgeschieden, was jetzt natürlich höchstens für
einen Biologen von Interesse sein und von diesem wahrscheinlich auch noch aufs
schärfste wissenschaftlich zerpflückt werden dürfte. Dieser außergewöhnliche
Metabolismus des Drachen soll jedenfalls so stark sein, dass er es ihnen ermöglicht,
sogar Edelsteine zu schlucken und zu verdauen. Jeder Drache, der das einmal
ausprobierte, merkte jedoch, dass diese Behauptung nur zu 50 % wahr ist. Er
konnte den Stein schlucken und wurde nicht mal mehr zwingend krank, wiederholte
diese Tat jedoch nicht wieder – probieren Sie doch mal, einen 40karätigen
Edelstein auszuschwitzen!

Um auf menschliche Bedürfnisse zurück zu kommen – eines der
für Kalessan vielleicht angenehmsten stand noch offen. Und auf dieses war
er indirekt sogar vorbereitet…
Es äußerte sich in einem ausgedehnten Gähnen von Ninnel, einhergehend
mit der Frage:
„Wo soll ich denn schlafen, Onkel Kalessan?“

„Nenn mich nicht Onkel!“, zischte der Drache zurück, bewegte
sich aber gleichzeitig in die hinteren Bereiche seiner Höhle – möglichst
weit weg von diesem kleinen Etwas, das die Frechheit besaß, ihn „Onkel“
zu nennen, während der Rest der Menschheit noch nicht mal mehr mit einem
„durchlauchtigste Hochwürden“ durchkam – und in Richtung
seiner persönlichen Schatzkammer.

Wie bei Drachen nun mal üblich hatte auch Kalessan im Laufe seines langen
Lebens eine beachtliche Sammlung an Kostbarkeiten und Schätzen zusammengetragen.
Er war von seinen Reichtümern nicht ganz so besessen wie sein mehr oder
weniger verhasster Kollege Smahug, es reichte ihm also, sich lediglich ein paar
Stunden täglich an dem reinen Schein und dem süßen Klang des
Goldes zu ergötzen. In seiner Sammlung befand sich jedoch bereits ein mehrere
Jahrhunderte altes, rustikales Himmelbett +3, welches nahezu ausschließlich
aus Gold und Edelsteinen zu bestehen schien, dessen Vorhänge aus Seide
und dessen Decke aus Samt gemacht war.
Das Bett hatte er von einem Herrscher namens Futsch XIII. entwendet, der es
anscheinend sehr lustig gefunden hatte, Kalessan mit einer ganzen Armee anzugreifen.
Nicht mehr sehr lustig fand er später, sein ganzes Reich in Flammen zu
sehen und letztendlich Bekanntschaft mit dem Drachen selbst, beziehungsweise
mit seinem Verdauungssystem zu schließen. Kalessan erfuhr an Ort und Stelle,
dass Futsch XIII. aufgrund ernsthafter Schlafstörungen das gesamte Vermögen
seiner Ländereien für die Anfertigung dieses speziellen Bettes ausgegeben
hatte, was ihn angeblich wieder in Ruhe schlafen ließ. Dies erklärte
auch die vollkommene Abwesenheit jeglicher sonstigen Wertgegenstände auf
der Burg des Regenten, den Angriff seiner Armee auf Kalessan und dessen Reichtümer
sowie die militärische Stärke jener Armee, bestehend aus zehn invaliden
Greisen, die Futsch XIII. nur noch aus Loyalität zu dessen Vater dienten,
welcher sich übrigens aus Scham über seinen eigenen Sohn selbst das
Leben genommen hatte.

Das Bett war jedenfalls der einzige Gegenstand von Wert, den Kalessan hätte
mitnehmen können, was er letztendlich dann auch getan hatte. Ninnel würde
sehr bequem schlafen können.
Die Vorstellung, dass der Junge inmitten seiner Reichtümer schlafen würde,
behagte Kalessan jedoch nicht so recht, daher blieb ihm wohl oder übel
nichts anderes übrig, als den Jungen mit ihm zusammen in seiner Hauptwohnhöhle
schlafen zu lassen. In seiner menschlichen Gestalt brachte er das Bett in die
große Höhle zurück.

Ninnel beobachtete Kalessan, als dieser das zu seiner momentanen Größe
überproportional riesige, funkelnde Etwas an Bett hinter sich her schleifte
und bekam handtellergroße Augen.
„Oah, ist das etwa mein Bett?“
Sofort, als das Bett an Ort und Stelle – nämlich in der dunkelsten
Ecke der Höhle, genau gegenüber zu der, wo Kalessan selbst immer schlief
– platziert war, sprang Ninnel auf die Matratze und hüpfte fröhlich
auf und ab, was von einem stetig lauter werdenden Quietschen der bereits etwas
rustikaleren Federn begleitet wurde.

Mit Entsetzen beobachtete der Drache, wie sein schönes Bett langsam in
Grund und Boden gehüpft wurde. Schnelle Maßnahmen mussten ergriffen
werden:
„Wenn du dieses Bett kaputt machst… dann erzähle ich das deiner
Mutter!“
Das Quietschen verstoppte abrupt. Kalessan machte anscheinend ernsthafte Fortschritte
in der Kontrolle dieses kleinen Quälgeists. Die Gelegenheit nutzte er aus:
„Und jetzt leg dich sofort hin und schlaf!“

Tatsächlich verkroch sich Ninnel auch schon unter der Samtbettdecke.
Doch gerade als Kalessan sich umdrehte und zu seiner eigenen Schlafstätte
gehen wollte, ertönte es hinter ihm:
„Erzählst du mir noch eine Gute-Nacht-Geschichte?“
„Eine was?“
„Eine Geschichte! Ansonsten kann ich immer so schlecht einschlafen.“

„Du willst eine langweilige Geschichte hören, von der du einschläfst?“,
fragte der Drache ungläubig.
„Nein, einfach nur eine Geschichte… bitte!“, fügte der kleine
Junge mit Rehäuglein hinzu.
Drachen sind gute Geschichtenerzähler, und Kalessan machte da keine Ausnahme.
Also ließ er sich nicht mehr lange bitten, setzte sich auf die Ecke vom
Bett, die am weitesten von Ninnels Kopf entfernt war und begann seine Geschichte,
die ihm für diesen Anlass angemessen erschien:

„Es
war einmal ein kleiner, roter Drache. Der konnte nicht verstehen, warum seine
Brüder und Schwestern, seine Eltern, ja seine ganze Familie immer so gemein
zu den Menschen war. Seine Verwandten sagten nur immer:
‚Von den Menschen halte dich fern, sie sind gemein und bösartig und
möchten uns alle umbringen!‘
Doch der kleine Drache konnte das nicht verstehen. Deswegen hatte er auch keine
Freunde unter den anderen Drachen und sie lachten ihn immer aus, wenn er bei
ihnen mitspielen wollte.
‚Du kannst ja noch nicht mal Feuer speien!‘, riefen sie.
Also beschloss der kleine Drache eines Tages, in die Welt hinaus zu ziehen und
sich selbst Freunde zu suchen. Er kam in einen Wald und in diesem Wald traf
er auf den Hasen. Der kleine Drache fragte den Hasen:

‚Möchtest du mein Freund sein?‘
Doch der Hase antwortete nur:
‚Ich, dein Freund? Was hätte ich von einer Freundschaft mit dir?
Du bist doch viel zu groß, um in meinen kleinen Bau zu passen und ich
habe keine Flügel, um dich in deiner Höhle in den Bergen zu besuchen
– nein danke!‘
Und der Hase verschwand wieder in seinem Bau und kam nicht mehr hinaus.

Da wanderte der kleine Drache weiter und traf auf den Fuchs:
‚Fuchs, möchtest du mein Freund sein?‘
‚Ich, dein Freund? Warum sollte ich dein Freund werden wollen? Du bist
ein Geschöpf der Lüfte und ich lebe am Boden. So groß wie du
bist, würdest du mich hier im Wald auch nur beim Jagen behindern. Geh weg,
ich brauche keinen Freund wie dich!‘
Der kleine Drache lief weiter durch den Wald und traf auf den alten Bären.

‚Bär, willst du vielleicht mein Freund werden?‘
‚Ach, junger Drache, meine Knochen sind schon so alt und müde, ich
mache es wohl nicht mehr lange. Außerdem beginnt jetzt bald der Winter
und ich werde mich in meine Höhle zum Winterschlaf zurückziehen. Und
in diese kleine Höhle passt du nie im Leben rein!‘
Da war der kleine Drache sehr traurig, und er ließ sich auf einer Lichtung
nieder und weinte gar bitterlich. Da kamen auf einmal aus dem Wald seltsame
Gestalten. Sie hatten weder Fell noch Schuppen, sondern nur komische, bunte
Leiber und rosa Köpfe mit kleinen Haarbüscheln darauf.

‚Das müssen Menschen sein!‘, dachte sich der kleine Drache.
Die Menschen umkreisten ihn und sahen ihn komisch an, da fragte sie der kleine
Drache:
‚Hallo, ihr Menschen! Wollt ihr meine Freunde sein?‘
Einer der Menschen hatte einen kurzen, glänzend silbernen Stab dabei. Mit
diesem Stab piekte er den kleinen Drachen in die Seite.
Der kleine Drache verspürte auf einmal einen heftigen Schmerz, und als
er sich umdrehte, floss dunkles, rotes Blut aus einer Wunde an seiner Seite.

Da wurde der kleine Drache sehr böse, er nahm den Menschen der ihn gepiekt
hatte und riss ihn in zwei Teile, sodass das Blut zu allen Seiten wegspritzte.
Auf einmal zogen die anderen Menschen auch alle silberne, glänzende Stäbe
und begannen, auf den kleinen Drachen loszugehen.
Da wurde der kleine Drache noch viel wütender, denn er hatte den Menschen
ja gar nichts getan. Also schnellte sein Kopf vor und biss dem nächst besten
Menschen in den Oberkörper, nahm ihn hoch und schüttelte ihn solange,
bis sein blutiger Unterleib abriss und weggeschleudert wurde. Angefacht durch
den Geschmack des Blutes, hieb er mit seinen scharfen Krallen nach den kleinen
Kreaturen links und rechts von ihm, und immer, wenn er sie traf, ertönte
ein matschiges Geräusch, und die Körper der kleinen Menschen wurden
zerfetzt.

Nach kurzer Zeit war der kleine Drache von entstellten, menschlichen Körperteilen
umgeben und von seinen scharfen Klauen und spitzen Fängen tropfte rotes
Blut. Gerade zerquetschte der kleine Drache einen weiteren Menschen auf dem
blutgetränkten Boden, als die letzte der komischen, kleinen Kreaturen sich
umdrehte, um zu fliehen.
Da nahm der kleine Drache all seine Kraft zusammen und spie eine blaue Stichflamme,
die den Menschen in seinen eigenen Körpersäften langsam kochte.
Der kleine Drache war sehr stolz auf sich und wollte seine neu entdeckte Kraft
sofort ausprobieren. Er breitete seine Flügel aus und hob ab.
Schon bald entdeckte er aus der Luft eine Ansammlung von komischen Holzgebilden,
die oben mit Stroh bedeckt waren. Überall um sie herum wuselten die kleinen
Kreaturen, die man Menschen nannte. Das war genau das, wonach er gesucht hatte!

Der kleine Drache landete mitten zwischen den Holzdingern und setzte einige
von ihnen mit einem mächtigen Feuerstrahl sofort in Brand. Das machte den
kleinen Drachen unglaublich stolz – endlich hatte er etwas gefunden, womit
er spielen konnte!
Die Menschen versuchten natürlich sofort allesamt zu fliehen… doch sie
würden meinem Zorn niemals entkommen!
Ich spie Feuerwelle um Feuerwelle, und diese miesen, erbärmlichen Kreaturen
vergingen allesamt in dem Flammenmeer, das ich entfachte. Oh, ich hatte Spaß
daran, zuzusehen, wie ganze Familien umkamen, wie sie bei lebendigem Leibe verbrannten
und wie sich mir einige verzweifelte Menschen mit ihren kleinen Werkzeugen entgegenstellten,
nur um von mir zerfetzt zu werden…

Und dann war da dieser kleine Junge, der mich einfach nur anstarrte und sich
kein bisschen rührte. Er starrte mich sogar immer noch an, rührte
sich nicht und sagte kein Wort, als ich ihn aufnahm und dann langsam…“

Drachen
sind zwar sehr gute Geschichtenerzähler, aber wahnsinnig schlechte Pädagogen,
zumindest nach menschlichen Maßstäben.
Denn auf einmal erreichten die Worte, die Kalessan aussprach, auch den mitdenkenden
Teil seines Gehirns, und ihm wurde bewusst, was er da eigentlich redete.
Schockiert wagte der Drache einen Blick in Ninnels Richtung, doch der kleine
Junge war mit einem friedlichen Lächeln auf dem Gesicht eingeschlafen.

Es hätte auch eine von Schrecken verzerrte Grimasse sein können –
Kalessan hatte noch so seine Probleme mit dem Deuten menschlicher Gesichtsausdrücke…

Am
nächsten Morgen wachte Kalessan benommen und mit knurrendem Magen auf.
Der Drache war niemals gerne über einen längeren Zeitraum hungrig
und machte sich auch sofort auf die Suche nach etwas Essbarem. Seltsamerweise
wurde er noch in seiner Wohnhöhle fündig. Geistesabwesend steckte
er sich den kleinen Leckerbissen in sein Maul und lutschte darauf herum, sich
darüber wundernd, da er seine Nahrungsmittel doch sonst immer nur frisch
bezog und nie einlagerte. Da ertönten mit einem Mal die Alarmglocken der
Erkenntnis in Kalessans Kopf und der Drache spie sein Beinahe-Frühstück
schleunigst in seine Pranke, bevor es sich der vernünftigere Teil seines
Gehirns anders überlegte.

Triefend vor draconischem Speichel saß Ninnel in Kalessans Hand und sah
den Drachen vorwurfsvoll an.
„Erzähl mir nicht, dass dein Mund nicht stinkt!“
„Ähm…“
„Wolltest du mich gerade wirklich auffressen?“
„Ähm… nein!“, suchte Kalessan fieberhaft nach einer Ausrede
für seine morgendlichen Anlaufschwierigkeiten, „Ich wollte… dich
nur waschen! Wir Drachen reinigen uns so, verstehst du?“

Ninnels Gesichtsausdruck sagte selbst Kalessan, dass er schon über eine
normale Wäsche nicht sehr erfreut gewesen wäre.
„Ihr fresst euch gegenseitig auf, oder wascht ihr euch wirklich so?“,
fragte der Junge.
„Habe ich dich aufgefressen?“
Ninnel überlegte kurz:

„Nun… nein?“
„Also habe ich dich gewaschen, siehst du!“
„Ich fühl mich aber gar nicht sauber!“
„Halt den Mund!“, entgegnete der Drache und setzte Ninnel wieder
auf den Boden seiner Höhle, um sich Gedanken darüber zu machen, wo
er jetzt etwas zu Essen herbekommen könnte, ohne den Jungen zur Lösung
dieses Problems verwenden zu müssen. Einige Sekunden lang herrschte Stille,
bis Ninnel das Schweigen unterbrach:

„Du, Onkel Kalessan?“
„Ja?“, antwortete der Drache entnervt.
„Das war eine schöne Geschichte gestern Abend!“
„Halt den… oh… danke!“, sagte Kalessan, sichtlich überrascht.
„Warst du das in der Geschichte?“

Der Drache fuhr zusammen und giftete den Jungen an:
„Wie weit hast du mitgehört?“
Ninnel zuckte mit den Schultern.
Kalessan schnaubte, drehte sich von dem Kind weg und hielt es für besser,
dessen Frage nicht zu beantworten, als schon die nächste kam:
„Du, Onkel Kalessan?“

„Ja?“
„Meine Kleider sind ganz nass, ich brauche neue!“
Der Drache stöhnte auf. Wer hatte denn schon mal davon gehört, dass
einem roten Drachen statt Jungfrauen zusätzlich zu vegetarischen Nahrungsmitteln
sogar noch Kleider als Opfergaben dargebracht wurden? Er beschloss, wieder auf
jene guten, alten Methoden zurückzugreifen, wenn er die ganze Sache hier
hinter sich gebracht hatte – es galt, einen Ruf zu wahren!
Wenigstens musste er beim Besorgen von Kleidung und Nahrungsmitteln nicht mit
diesem Quälgeist zusammen sein…

Als
die folgenden Tage vergingen, pendelte sich eine gewisse Form der Beziehung
zwischen Kalessan und Ninnel ein, die am ehesten mit der Beziehung zwischen
Haustier und Herrchen zu vergleichen ist. Leider konnten sich beide Parteien
nicht darauf einigen, welcher von ihnen denn nun das Haustier sei.
Kalessan entdeckte, dass Ninnel durchaus zu ertragen war, wenn der Drache ihm
Geschichten erzählte. Und ein Wesen, das schon mehrere Millennien auf dem
Buckel hat, kann so einiges an Geschichten erzählen, wobei Kalessan jedoch
darauf achtete, nicht mehr allzu persönlich in seinen Ausführungen
zu werden und wichtige Details über seine Rasse und sein Leben wohlweislich
vorzuenthalten.
Ninnel wurde einigermaßen ruhig gehalten, sein Nachschub an Versorgungsmitteln
und Kleidung war gesichert und Kalessan begann, ein Interesse an dem Jungen
zu entwickeln, das immerhin dem eines Insektenforschers gegenüber einer
Zecke gleicht, die sich an seinem Körper festgesaugt hat.
Es war eigentlich ein Zustand, der in dieser Form hätte beibehalten werden
können, hätten sich nicht die Ereignisse der zweiten Woche auf einmal
überschlagen…

Kalessans
Geruchsinn und Gehör hatten ihm schon einige Zeit vorher die folgende Begegnung
angekündigt, und normalerweise war er ein wenig Unterhaltung dieser Art
nicht abgeneigt, dennoch hätte er es in diesen paar Wochen lieber vorgezogen,
eine derartige Begegnung zu vermeiden. Sie wurde eingeleitet mit den Worten:
„A-HA, übles Echsenmonster, euer letztes Stündlein geschlagen.
Flehet um Gnade, und ich verspreche euch, bei meiner Ehre, dass ich es schnell
machen werde!“
„Och nö, einer von denen!“, dachte sich Kalessan und nahm sich
den Drachentöter mal näher unter die Lupe. Wie zu erwarten war, trug
er eine blendend strahlende und aufpolierte Ritterrüstung, die in goldenen
Farben leuchtete und einen gleichfarbigen Helm, dessen Visier momentan hochgeklappt
war und ein babypopoglattes Gesicht mit kantig geschnittenen Zügen offenbarte.
Die Berufung des Drachentöters wurde noch von seiner langen Lanze sowie
seinem Schild, auf dem ein Drache in einem durchgestrichenen, roten Kreis abgebildet
war, unterstützt.

Das Pferd, auf dem er saß, stand offensichtlich unter Drogen – ansonsten
hätten auch keine 10 Pferde es in Kalessans Höhle bekommen, was ja
sowieso schon ein Widerspruch in sich ist. Auf der anderen Seite würde
ein unter Drogen stehendes Pferd dem Ritter wenig Nutzen im Kampf sein, es musste
sich also um ein ausgebildetes, erfahrenes Tier handeln, dessen Angstschweiß
Kalessan nichtsdestotrotz lieblich duftend in die Nase stieg – wer konnte
es dem armen Tier verübeln? Ein Reittier verrät häufig eine Menge
über seinen Reiter – bei jenem Ritter und seinem Ross handelte es
sich also um ein eingespieltes, mit Drachen erfahrenes Team, was somit ein wenig
vorsichtiger zu behandeln war als der ganze restliche Heldenschund.

Kalessan fand, dass es an der Zeit war, etwas zu sagen:
„Oh, bitte nicht heute, könnten wir dieses Treffen nicht ein wenig
verschieben? Seht ihr denn nicht, dass ich gerade damit beschäftigt bin,
dem Kleinen hier eine Geschichte zu erzählen?“
Ninnel winkte dem Ritter grinsend zu. Dessen Augen weiteten sich vor Schrecken.
„Ihr habt einen kleinen Jungen entführt? Ihr garstiges Monster, dafür
werdet ihr noch heute in der Hölle schmoren! Seid unbesorgt, kleiner Junge,
ich werde euch aus den Klauen dieses Drachen befreien!“

„Wollt ihr mal wissen, wie oft ich diesen Satz in genau demselben Wortlaut
in meinem Leben schon gehört habe?“, erwiderte Kalessan, „Genau
164mal, diese Begegnung hier mitgerechnet. Und genauso viele kleine Jungen wurden
nicht aus meinen Klauen befreit, also, ihr dürft euch jetzt entfernen
– heute ist euer Glückstag!“
„Faule Reden von gespaltenen Zungen! Ihr könnt mich mit eurer Prahlerei
nicht ängstigen! Denn sehet: die Anti-Drachenlanze – sie hat noch
jedem eurer Rasse, der sich mir in den Weg gestellt hat, den Garaus gemacht!
Außerdem bin ich in meinem Auftrag nicht alleine: Mein Gott Helmchen ist
mit mir, er wird mich in diesem Kampf beschützen!“

„Boah, ein Kampf – wirst du gegen den Mann da kämpfen, Onkel
Kalessan?“, rief Ninnel freudig aus.
„Halt du dich da raus, Junge! Hört mal, Ritter, ich will keinen Ärger
vor dem Kleinen hier. Also, wer hat euch angeheuert und wie hoch ist seine Bezahlung?
Ich zahle euch das Doppelte!“, brachte Kalessan mühsam hervor, mit
dem Hintergedanken, später von Karlmax das Dreifache zurück zu verlangen.
„Ihr könnt das schmutzige Geld aus eurem Hort behalten, Drache, ich
will es nicht! Ich arbeite für die Ehre, für Helmchen und momentan
für die liebreizende Lady Syrop, die euren Kopf verlangt hat!“

Kalessan seufzte – diese Konfrontation war also nur auf eine Art und Weise
zu lösen. Den Namen Syrop musste er sich wohl mal merken. Ein Exempel zu
statuieren würde sicherlich eine spaßige Aufgabe werden. Momentan
erinnerte er sich jedoch an Karlmax‘ Bitte, seinen Sohn mit allzu schrecklichen
Gewaltdarstellungen zu verschonen und wandte sich an den Jungen:
„Pass auf, wir spielen mit diesem Herren hier jetzt mal eine Runde Verstecken,
ja? Du drehst dich gleich um und zählst laut bis… 48, dann darfst du
den Ritter in dieser Höhle suchen gehen. Aber du darfst dich kein einziges
Mal vorher umdrehen, egal was du von uns beiden hören solltest, ansonsten
ist das ganze Spiel verdorben! Verstanden?“
Ninnel nickte aufgeregt.

Dann sprach Kalessan erneut zum Ritter:
„In Ordnung Ritter, wir beide sind bereit, es kann losgehen! Und im Übrigen
werdet ihr nach näherer Untersuchung feststellen können, dass meine
Zunge entgegen aller öffentlichen Vorstellungen nicht gespalten
ist.“
Damit nickte er Ninnel zu, der sich umdrehte, die Augen zuhielt und mit dem
Zählen begann:

„1…“
Gleichzeitig war der Kampfschrei des Ritters sowie das Wiehern seines Pferdes
und lautes Hufgetrappel zu hören, dann das mächtige Rauschen eines
großen, sich schnell bewegenden Körpers, das Splittern von Holz,
ein kurzes „BUH!“ von einer tiefen, machtvollen Stimme, das erneute,
diesmal von Angst erfüllte Aufwiehern des Pferdes, ein dumpfer Aufprall,
sich rasch entfernendes Hufgetrappel.
„Meine Lanze! Mein Pferd!“

„20…“
„Na wartet – sehet: das Anti-Drachenschwert!“
„24…“
Das Geräusch schabenden Metalls, Fußgetrappel, von scharfen Gegenständen
durchschnittene Luft, das Bewegen des großen Körpers, das Stöhnen
und die Rufe des Ritters, der Aufprall von Metall auf einen anderen, harten
Körper.

„Aber das Schwert… warum… warum wirkt es nicht?“
„37…“
Die blitzartige Bewegung einer großen Masse, ein kurzes *klong*, ein Aufstöhnen
des Ritters, das lange Schliddern eines metallischen Gegenstands auf dem Boden.
„Nein, nicht auch noch mein Schwert!“
„43…“

Das kurze, unangenehme Geräusch von spitzen Gegenständen auf glatter
Metalloberfläche, ein erneuter, panischer Aufschrei des Ritters.
„45…“
Ein dumpfes Grollen, das Geräusch von etwas sehr großem, sich
öffnendem
.

„46…“
„Nein, bitte, tut das n…“
Die Stimme des Ritters wurde gedämpft.
„47…“
*GLUCK*
„48… ICH KOMME!“

Ninnel machte die Augen auf und drehte sich um. In der Höhle stand Kalessan,
als ob nichts geschehen wäre und sah ihn nervös-freundlich an. Der
Junge begann, die Höhle nach dem Ritter zu durchsuchen. Es dauerte allerdings
nicht lange, bis er bemerkte, dass es in Kalessans Wohnraum keinerlei Nischen
und überhaupt jegliche Art von Versteck gab, außer vielleicht unter
Ninnels Bett, aber dort lag der Ritter auch nicht.
„Hat er sich vielleicht in deiner Schatzkammer versteckt?“
„Ähm… nein!“
„Und ist er vielleicht nach draußen gegangen?“

„Nein!“
Ninnel sah enttäuscht aus.
„Dann weiß ich auch nicht, wo er ist – kannst du mir nicht
einen Tipp geben? Bittebittebitte!“
„Na gut, ähm… ich habe… ihn weggezaubert, du kannst ihn gar nicht
finden! War ein kleiner, fieser Scherz von mir, haha.“, sagte Kalessan.

Der Junge machte sofort große Augen.
„Boah, du hast ihn echt weggezaubert? An einen anderen Ort?“
„Ähm… in gewisser Weise, ja…“
„Kannst du mich auch mal wegzaubern? Bittebittebitte, Onkel Kalessan!“
„Das würde ich liebend gerne machen, aber ich fürchte, deine
Eltern hätten etwas dagegen.“

Der Drache hasste es, wenn Ninnel mit seinen großen, flehenden Augen ihn
so bittend anstarrte, gerade so als ob es ihm gefallen würde, das Schicksal
jenes Ritters zu teilen… dass er die gleiche Blutgruppe wie sein Vater hatte,
machte es für Kalessan auch nicht einfacher.
„Kannst du dann den Ritter wieder herholen, ich will noch mal Verstecken
spielen, diesmal aber ohne Wegzaubern!“
„Ähm… ich fürchte, dieser Ritter ist jetzt leider zu beschäftigt,
um noch mit dir spielen zu können, tut mir leid.“, sagte Kalessan
und rülpste laut und voluminös.

Das Kind setzte einen entrüsteten Gesichtsausdruck auf:
„Meine Mama hat gesagt, das gehört sich nicht!“
Der Drache zog eine Augenbraue hoch:
„Pah, das ist mal wieder typisch für eure Spezies, nur aus Höflichkeitsgründen
ganz normale Körperfunktionen zu unterdrücken – wenn du so etwas
unterdrückst, dann verleugnest du dich selbst, Kleiner!“

Er traf auf zwei große Abgründe der Verständnislosigkeit in
Form von Ninnels Augen.
„Und wo ist das Pferd von dem Ritter?“, wechselte der Junge schnell
wieder das Thema.
Kalessan dachte an sein privates Wolfsrudel im nahe liegenden Wald, das mittlerweile
ziemlich ausgehungert sein dürfte.
„Auch weggezaubert.“

„Och menno, das ist doof, keiner will mit mir spielen!“, entgegnete
Ninnel enttäuscht und trat einen kleinen Stein auf dem Boden weg. Sein
Blick hellte sich jedoch sofort auf, als der Stein beim Aufprall ein kleines
*klonk* von sich gab und er das Schwert des Ritters in der Höhle liegen
sah. Sofort rannte er hin, hob die Waffe unter Aufbietung aller seiner Kräfte
auf und richtete sie auf Kalessans Brust.
„Ha HA, sieh mal, ich bin ein gefährlicher Drachentöter!“,
rief er freudig aus.
Kalessan verdrehte die Augen.
„Führ mich nicht in Versuchung, dich doch noch wegzuzaubern, ja?“

„Hä?“
„Gib mir einfach die Waffe, jemand wie du sollte nicht mit so etwas herumspielen.“,
seufzte der Drache und nahm Ninnel das Schwert weg, was dieser mit einem beleidigt-enttäuschten
Blick quittierte. Glücklicherweise wusste er es besser, als jetzt mit einem
großen Heul- und Schreikrampf anzufangen. Stattdessen fragte er:
„Kannst du mir vielleicht beibringen, wie man mit einem Schwert kämpft?“
„Ich könnte es vielleicht, aber ich würde es selbst dann nicht
tun, wenn ich die Erlaubnis von deinem Vater hätte. Denn wie du siehst,
bin ich ein großer, Furcht einflößender Drache und habe nicht
die allergeringste Lust, noch so einen Möchtegern-Drachentöter heranzuzüchten,
der nach meinem Blut lechzt und nach dem Kampf mit mir eh nur winselnd und ängstlich
am Boden kriecht.“

Ninnel reckte trotzig das Kinn in die Höhe.
„Ich werde mal Drachentöter, wenn ich groß bin – dann
musst du vor mir Angst haben und mir gehorchen und vor mir auf dem Boden kriechen!
Dann kann ich machen, was ich will. Und dann habe ich ein eigenes Schwert!“
Kalessan hatte schon befürchtet, dass er so etwas sagen würde.

„Meinetwegen. Wenn du mal groß bist und das hier immer noch nicht
verdaut haben solltest – ich warte auf dich! Für heute gibt es jedenfalls
keine Geschichten mehr – du kannst ja mal darüber nachdenken, wie
wichtig es wirklich für dich ist, ein Drachentöter zu werden!“
Mit diesen Worten wendete er sich von dem Kind ab, legte die Klinge zu den Aberhunderten
anderer Anti-Drachenschwerter in seiner Schatzkammer und versiegelte den Raum
wieder.
Ninnel würde heute unausstehlich werden…

Ein
jeder kennt diese Tage, an denen einem hintereinander nur grauenhafte Dinge
passieren und man sich so vorkommt, als ob ein riesengroßer Hammer der
Negativität einen langsam und Stück für Stück in die Wand
der vollkommenen Verzweiflung nageln würde. Kurzum, es scheint so, als
hätten sich sämtliche Götter gegen einen verschworen.
Kalessan kannte die Götter… mit einigen von ihnen traf er sich sogar
mehr oder weniger regelmäßig zu einem kleinen Plausch. Ihnen schob
er also nicht die Schuld in die Schuhe für einen dieser Tage, der in diesem
Fall schon mit einem besonders miesen Traum begann:

Ein alter Mann saß inmitten von zwei Dutzend schreienden Kindern und lächelte
sie an, während sie fröhlich kreischten und in die Hände klatschten.
„Oh bitte, erzähle uns noch eine Geschichte!“
„Ja, erzähl uns noch eine Geschichte!“

„Oh ja, bittebittebitte!“, tönte es von allen Seiten her.
Der alte Mann lachte laut auf und strahlte die Kinder ringsum nur noch freundlicher
grinsend an.
„Aber natürlich, ihr kleinen Racker. Also, passt auf: Es war einmal
ein kleiner, roter Drache…“
Die Kinder unterbrachen ihn im Chor:
„Die Geschichte, wie du von den Menschen grundlos angegriffen wurdest
und ihr Dorf vernichtet hast, kennen wir aber schon!“

„Genau, erzähl lieber noch mal die Geschichte, wie die Menschen deine
Partnerin und alle deine Jungen umgebracht haben!“
„Ja, genau! Bitte, Onkel Kalessan!“
„Ja, bitte, Onkel Kalessan!“
Onkel Kalessan…
Onkel Kalessan…
Kalessan…

„Onkel
Kalessan?“
Der Drache schreckte hoch. Die zwei Dutzend Kinder verschmolzen zu einem einzigen,
das direkt vor Kalessans Schnauze stand.
„Wasch?“, murmelte der Drache, vom alleinigen Anblick des Quälgeistes
schon vollkommen entnervt.
„Du hattest einen Albtraum und warst sehr laut.“, sagte Ninnel,
der anscheinend ebenfalls unfreiwillig geweckt wurde und noch seinen ihm viel
zu großen, anscheinend sündhaft teuren Schlafanzug trug, den Kalessan
als „Geschenk“ aus einer der umliegenden Städte erhalten hatte.

„Oh… Habe ich irgendwas verdächtiges gesagt, wovon du nichts erfahren
solltest?“
„Nein, du hast mich nur geweckt.“, erwiderte der Junge vorwurfsvoll.
„Na dann ist ja alles in Ordnung.“, entgegnete Kalessan und gähnte
herzhaft.
Ninnel hielt sich die Nase zu und starrte in den Schlund seines Aufpassers.
„Du hast da lauter Stofffetzen zwischen den Zähnen!“

Kalessan schloss seine Kiefer hastig.
„Oh… ähm… wo kommen die denn her?“
So langsam hatte der Drache es satt, seine Vorlieben für fleischliche Genüsse
vor dem Jungen geheim zu halten.
„Hast du etwa einen Menschen aufgefressen?“
„JA, DAS HABE ICH!“

So, jetzt war es raus… eine ehrliche Frage, eine ehrliche Antwort… da konnte
er genauso gut weitermachen:
„Ich habe schon hunderte Menschen gefressen, ach was, tausende, sogar
so kleine Grünschnäbel wie dich – und ich habe dabei nicht mal
mehr mit der Wimper gezuckt, sondern genossen, wie sie geschrieen und gebettelt
und gezappelt haben und wie ihre Knochen zwischen meinen Zähnen knackten.
Ich mag den Geschmack ihres Fleisches, ihres Blutes und ihre kleinen unbehaarten
Körper, die einem nicht so schwer im Magen liegen wie das ganze andere
Gewusel auf diesem verdammten Planeten. Na, wirst du nun winselnd auf dem Boden
kriechen, weil du jetzt weißt, dass ich ein übler, gewalttätiger
Menschenfresser bin?“
„Kommt drauf an: Wirst du mich jetzt auch fressen?“

„So sehr ich deine kriecherische Rasse und vor allem anderen dich
verachte – nein! Ich habe deinem Vater etwas versprochen und ziehe das
jetzt auch durch.“
„Na dann ist ja alles in Ordnung!“, erwiderte Ninnel fröhlich
und löste seinerseits fast einen Schockzustand bei Kalessan aus.
„Was soll das heißen… ich habe dir gerade eröffnet, dass
ich schon unzählige Menschen umgebracht habe und du hast immer noch keine
Angst vor mir?“

„Nun, von irgendwas musst du ja leben… außerdem hast du gerade
auch gesagt, dass du mich nicht fressen wirst, warum sollte ich also Angst haben?“
Weil ich dich auf hunderte andere Arten umbringen könnte!, dachte
sich der Drache, sprach diesen Gedanken aber nicht laut aus, sondern starrte
nur verblüfft auf den kleinen Jungen, der sich unbesorgt von ihm abwandte
und mit anderen Dingen beschäftigte.
Dies war wohl die berühmte Unbeschwertheit eines Kleinkindes…
Wäre die Welt doch nur so simpel!

Nun, anscheinend würde sich der Drache in seinen Eigenarten jetzt doch
nicht so drastisch zurückhalten müssen, wie er es die ganze zurück
liegende Zeit zu Ninnels Anwesenheit in seiner Behausung getan hatte… es sah
so aus, als würde der folgende Tag doch gar nicht so schlecht werden.
Doch wie schön wäre das gewesen…

Die
seltsamsten Ereignisketten werden manchmal durch die unpassensten Sätze
begonnen. In diesem Fall lautete der Satz: „Lieferung für Kalessan!“

Dies war zunächst nicht verwunderlich, da an jenem unheilvollen Tag genau
eine Woche vergangen war, seitdem der Drache auch Doofdorf, eine weitere Siedlung
in seiner Umgebung, freundlich dazu gebeten hatte, ihm wöchentlich Opfergaben
zu bringen. So viel Freundlichkeit kann kein Dorf widerstehen, von daher kam
die Lieferung der verlangten Nahrungsmittel auch äußerst rechtzeitig.
„Stellt das Zeug einfach irgendwo hier hin, meidet dabei die Pfützen
und haut dann wieder ab, ja?“
Kalessan sah sich die beiden Herren, die die bunt geschmückten Körbe
voll vegetierender Nahrungsmittel mitbrachten, genau an. Normalerweise wurde
diese Aufgabe von unbeliebten, dreckigen und vor allem entbehrlichen Dorftrotteln
erledigt, diese beiden schienen jedoch recht kräftig zu sein. Außerdem
hatten sie beide exakt die gleiche, uniformähnliche Kleidung an, auf die
groß die Buchstaben „LL“ aufgestickt waren. Kalessan ging
im Kopf schnell alle bekannten Wappen von Rittern und Drachentötern durch
und untersuchte die Menschen auf Anzeichen von alten Drachentötertricks.
Als er nicht fündig wurde, fragte er nach:

„Wofür steht das ‚LL‘ auf eurer Kleidung?“
„Wat? Oh, dat steht für ‚Lennys Lieferungen‘, Zustelldienst
alla ersta Jüte, zu Diensten!“
„Oh toll, freut mich… ihr dürft euch dann jetzt verpissen!“
„Eenen Moment noch, Meesta, wat solln wa’n mit der Jungfroo da machn?“,
erkundigte sich der Zusteller.

Erst jetzt bemerkte Kalessan die an einen Holzpfahl gefesselte Frau, die von
einem dritten Zusteller auf einem kleinen, rollbaren Gefährt herein geschoben
wurde. Angesichts des offensichtlichen Alters der Frau von über 50 Jahren
hätte die Bezeichnung Jungfrau jedoch unzutreffender nicht sein
können.
„Was soll das werden, ich habe gar keine Jungfrau bestellt. Und schon
gar nicht so eine alte Schrulle wie die da!“, empörte sich Kalessan
bei dem obersten Zusteller.
„Hey, das habe ich gehört, Schätzchen!“, rief die Jungfrau
aus.

„Ick hab ooch nur meene Anweisungen, weeste, und ick wees ooch nich, wat
ick mit so ner alten Schraube anfangen soll. Also, wohin mit dem Teil?“
Kalessan hatte absolut keine Lust, sich jetzt mit einem derartig grauenhaften
Akzent weiterhin auseinanderzusetzen und entgegnete:
„Na gut, na gut, stellt sie da drüben ab.“
Der Zusteller tat, wie ihm geheißen ward. Damit war anscheinend schon
alles in der Höhle abgeliefert, was die drei Herren dabei hatten. Dennoch
schienen sie noch nicht zu beabsichtigen, Kalessans Behausung zu verlassen.
„Jut, dat macht dann Eensfuffzich Bearbeitungsjebühr biddesehr.“,
ließ sich der oberste Zusteller vernehmen.

„Bitte, was?“
„Na, wir machen unsre Arbeit ja ooch nich umsonst, wa?“
„Ja toll, aber von mir werdet ihr kein Geld bekommen, also haut ab!“,
giftete Kalessan die Menschen an.
„Was wollen die Männer da von dir?“, fragte der anscheinend
gerade erneut aus seinem Bett gekrochene Ninnel.
„Gar nichts wollen die. Gar nichts bekommen die!“

„Jetz hör mal zu, Meesta, so wie ick det sehe, is dat hier ne bereits
bezahlte Nachnahmebestellung, in der aber noch nich die Bearbeitungsjebühr
für unser Unternehmen enthalten war, und ick werd diese Höhle hier
nich verlassen, bis ick die ausjezahlt bekommen hab, klar? Wennde willst, kannste
det Finanzielle ja jerne mit den Absendan rejeln, ick will jetz jedenfall meen
Jeld habn!“
„Sag mal, ist dir eigentlich klar, was du hier vor dir hast und mit wem
du so unverfroren sprichst?“, zischte der Drache.
„Du kannst mir natürlich jerne drohen, aber ick sach dir, mit den
Jewerkschaften willste dir ooch nich anlejen! Und vor dem Kleenen da willste
uns doch sicherlich nüscht antun, nich oder?“
„Ha, jetzt hat er dich aber dran bekommen, Schätzchen!“, warf
die Jungfrau ein.

„Du da drüben hältst mal brav die Klappe, ja?“
Eine Stimme ertönte:
„A-HA, übles Echsenmonster, so habe ich euch doch noch gefunden.
Nun hat euer letztes Stündlein geschlagen!“
Oh nein!, dachte sich Kalessan, als der dazu passende Ritter, der ein
Zwilling zu dem letzten Eindringling hätte sein können, seine Höhle
betrat.

„Und was muss ich da sehen! Ihr schändliches Untier haltet eine holde…
Jungfrau?… ähm… gefangen und dazu noch… drei Lieferanten von ‚Lennys
Lieferungen’…?“
„Oh, schau mal, Onkel Kalessan, noch ein Ritter zum Webzaubern!“,
rief Ninnel freudig aus.
Der Drachentöter keuchte, schien aber angesichts dieser wirklichen Greueltat
seine Fassung wieder zu gewinnen:
„Ihr habt einen kleinen Jungen entführt? Ihr garstiges Monster, dafür
werdet ihr noch heute in der Hölle schmoren! Seid unbesorgt, kleiner Junge,
ich werde euch aus den Klauen dieses Drachen befreien!“

„165…“, dachte sich der Drache.
„Die edle Lady Syrop hat also richtig daran getan, mich mit dieser Aufgabe
zu betreuen!“
„Wer zur Hölle ist diese Lady Syrop eigentlich?“, unterbrach
Kalessan den Drachentöter verwirrt.
„Das tut jetzt nichts zur Sache, ihr solltet nur ihren Namen wissen, bevor
ich euch umbringe!“
„Ey, aber erst will ick meen Jeld haben, damit dat klar is, ja?“

Ein weiterer Mensch betrat die Höhle:
„Boah, ein Drache!“
Der Kleidung nach zu urteilen, schien es sich um einen jungen Mann aus einer
anderen Dimension zu handeln – ganz genau das, was Kalessan jetzt noch
brauchte!
„Wow, ein Drache wird mich auf meine Weltenrettermission schicken, das
ist ja so cool!“
„Aber ich war zuerst da, Fremder aus einer anderen Dimension, von daher
werde ich ihn umbringen, bevor er euch auf so eine unheilige Mission schicken
kann!“, erwiderte der Drachentöter.

„Und was soll ich dann hier?“, fragte der Reisende.
„Hey, ich habe meine besten Kleider extra für diesen Anlass angezogen,
und ich bin nicht einfach nur zum Spaß hierher gekommen!“, rief
die Jungfrau dazwischen, deren Kleidung sich bei genauerem Betrachten als bemerkenswert
schäbig entpuppte.
„Jenau, und wat is dann mit meenem Jeld, wie soll ick dat dann bitte bekommen?“
„Ja, und was ist mit meinem Geld?“, erkundigte sich die
nächste Gestalt, die die Höhle betrat und sich als der alte Angestellte
aus Kalessans Wald entpuppte, der offensichtlich sein Gehalt einfordern wollte.

Kalessans Augen zuckten nervös von einem Menschen dieser kleinen Ansammlung
in seiner Höhle zum anderen – sein rechtes Augenlid begann, unkontrolliert
zu zittern.
„Oh, ihr seid doch der alte Mann, der mich hier hereingeschickt hat!“,
sagte der transdimensional Reisende zum Alten.
„Hmja, ich sehe schon, der Drache hatte anscheinend noch keine Möglichkeit,
sich mit euch zu… beschäftigen… nun, sieht so aus, als müsste
er mir zuerst meine Bezahlung geben, ansonsten geschieht hier gar nichts!“,
gab dieser zurück.

„Oh, er bezahlt euch dafür, dass ihr Leute zu ihm schickt? Warum
denn?“
„Ähm… vergesst es!“
„Du, Onkel Kalessan, was wollen die denn alle hier?“
Kalessans linkes Augenlid begann nun ebenfalls zu zucken.
„Kommen wir jetzt langsam mal voran? Ich habe heute noch zwei Duelle zu
bestreiten und eine bösartige Räuberbande auszulöschen, mein
Terminkalender lässt keinen Platz für Verspätungen!“, machte
sich der Ritter lautstark kund.

„Und wir ham heute ooch noch die eene oder andre Lieferung zu machen,
näch?“
„Ich werde langsam steif an diesem ollen Pfahl hier!“
„Ich kann es kaum erwarten, diese Welt vor dem Bösen zu retten!“
„Und ich kann es kaum erwarten, endlich mal wieder meine wohlverdiente
Bezahlung zu bekommen!“
„Du, Onkel Kalessan, ich habe Hunger!“

Alle Blicke richteten sich erwartungsvoll auf den Drachen, dessen ganzer Kopf
nun sichtbar vibrierte.
Kalessans Ausbruch traf sie schnell, hart und vor allem unerwartet.

In
einem Ausbruch verzweifelter Gutmütigkeit zahlte er den Alten und die Lieferanten
aus, vereinbarte einen neuen Termin mit dem Drachentöter
(„Und was ist, wenn ihr eure Gefangenen in diesem Zeitraum umbringt? Das
kann ich nicht zulassen!“
„Aber dann fällt eure Rache doch nur umso schrecklicher aus, nicht
wahr?“

„Oh ja – also wagt es nicht, Echse!“)
und schickte den Fremden aus der anderen Dimension auf eine Reise. Doch diesmal
war es ausnahmsweise nicht die Reise in Kalessans Magen, sondern wirklich in
einen anderen Teil des Kontinents:
„Also passt auf, ihr nehmt diesen Brief hier und übergebt ihm einem
anderen Vertreter meiner Art namens Morkulebus dem Schwarzen. Ihr findet ihn
in den finsteren Sümpfen des Schwarzen Todes.“
„Boah, das hört sich voll cool an! Und was muss ich dann machen?“

„Morkulebus wird wissen, was mit euch zu tun ist – nur dürft
ihr diese wichtige Botschaft niemals verlieren und niemand außer Morkulebus
darf sie lesen, nicht einmal ihr selbst!“
„Aha, und wo sind diese finsteren Sümpfe des Schwarzen Todes?“,
fragte der Reisende.
„Ähm… das herauszufinden ist Bestandteil deiner gefahrvollen Reise.
Ich kann dir nur die Tür zeigen, hindurchgehen musst du selbst –
sie ist da drüben, und jetzt hau ab!“, fuhr Kalessan ihn mit den
letzten Worten an.

Der Fremde ließ sich ein letztes „Cool!“ vernehmen, packte
den Brief stolz in seine Hosentasche und machte sich frohen Gemüts auf
seine gefahrvolle Reise in die finsteren Sümpfe des Schwarzen Todes.
Den Großteil der ungewollten Besucher war Kalessan damit los. So blieb
nur noch eine Person übrig:
„Finde ich ja ganz toll, wie du die alle abgewimmelt hast, Schätzchen.
Kannst du dich jetzt vielleicht auch mal um mich kümmern, ist nicht gerade
sehr angenehm, wenn man so lange auf seinen Tod warten muss.“, sagte die
Jungfrau mit ihrer heiseren, rauchigen Stimme.

„Oh, wirst du sie jetzt fressen, Kalessan?“
„Sei ruhig, Ninnel! Und du da kannst mir nicht wirklich verklickern, dass
du noch eine Jungfrau bist.“, richtete sich der Drache an die immer noch
an ihren Holzpfahl angebundene, angebliche Jungfrau.
„Bin noch so frisch wie am ersten Tag, Schätzchen. Rein und unversehrt,
zart und schmackhaft.“
„Deine Opferbereitschaft ist wirklich hinreißend. Du hast nicht
zufällig sämtliche Taschen mit Kalk vollgestopft, der sich in meinem
Magen ausdehnen und mich verrecken lassen sollen?“

„Ähm… nein?“, antwortete die sichtlich überraschte und
nun nicht mehr ganz so selbstbewusste Jungfrau.
„Erstens habe ich schon bessere Lügner gesehen, zweitens stinkst
du überall nach dem Zeug und drittens funktioniert es sowieso nicht. Außerdem
hätte ich dich eh nicht gefressen, mit diesem Quälgeist in meiner
Nähe…“
„Och, warum denn Kalessan – ich will sehen, wie du sie frisst! Och
bitte, mir zuliebe!“, bettelte Ninnel lautstark.

„Danke für deine Unterstützung, Kleiner!“, entgegnete
die Jungfrau säuerlich.
„Ich sagte, dass du den Mund halten sollst, Winzling!“, brauste
Kalessan auf, der den Stress von vorhin anscheinend noch nicht ganz verarbeitet
hatte.
„Ich will das jetzt aber sehen! Ich will, ich will, ichwillichwillichwill…“
„Wenn du nicht sofort ruhig bist, dann setzt es was, Kleiner!“,
knurrte der Drache drohend.

„Ichwillichwillichwillichwillichwill…“
Einer von Kalessans Nervensträngen riss innerlich mit einem lauten Knall.

Der Drache schlug zu.
Der Junge war still.
„Na endlich ist Ruhe!“, sagte Kalessan, der sich wieder der Jungfrau
zuwandte, welche schockiert auf den Jungen starrte.

„Wie… wie konntet ihr nur?“
„Manchmal muss man halt harte Maßnahmen ergreifen, wenn man seinen
Willen durchsetzen will… Schätzchen!“, fügte der Drache in
spottendem Tonfall hinzu.
„Aber… aber er war doch noch ein kleines Kind!“
„Ja, und jetzt gibt er endlich Ruhe!“
Weil ihr ihn enthauptet habt!

Kalessan sah Ninnel an. Der ungewöhnlich schlaffe Körper des Jungen,
eine sich ausbreitende, rote Pfütze und nicht zuletzt der mehrere Meter
entfernt liegende Kopf des Kindes, welcher noch immer eine sehr erwartungsvolle
„Ichwill…“-Miene trug, sprachen nicht gerade für Kalessans
Unschuld.
Menschen umbringen war ja normalerweise schön und gut, doch diesmal empfand
er an seiner Tat keine Freude, vielmehr drängte sich ihm die nagende Erkenntnis
auf, dass er für diesen Mord ernsthafte Konsequenzen würde tragen
müssen.

In einer fließenden Kette aus Gedanken wanderten seine Gefühle von
Erschrockenheit über Zufriedenheit, Scham, schlechtes Gewissen und Verzweiflung
bis hin zu dem letztendlich grausamsten Gefühl, bei einer eigentlich simplen
Aufgabe vollkommen versagt zu haben. Die meisten dieser Gefühle hatte er
seit langer Zeit nicht mehr empfunden, und schon gar nicht aufgrund eines Menschen,
den er im Grunde genauso sehr wie jeden anderen, wenn nicht sogar noch mehr,
verachtete – zumindest versuchte er, sich das einzureden.
Während Kalessan jenen Gedanken nachhegte, scheute sich die Jungfrau nicht,
ihn mit den derbsten Ausdrücken zu bekreischen, die sie in ihrem längeren
Leben selbst als Jungfrau bereits aufschnappen konnte. Irgendwann zwischen den
„Mistkerlen“, „kaltblütigen Bastarden“ und „Turnbeutelvergessern“
wurde es auch dem erschrockenen Drachen zu bunt:

„Kannst du auch mal deine verdammte Klappe halten!?“, schrie er.
Die erzeugten Schallwellen alleine reichten bereits aus, um die Jungfrau vor
Schmerzen aufkreischen zu lassen. Fortan hing sie wimmernd an ihrem Pfahl. Eine
Beschimpfung fügte sie den ganzen „Kindermördern“ und
„seelenlosen Monstren“ jedoch noch leise hinzu:
„Ihr seid schlimmer als der schrecklichste Dämon der Hölle!“

*pling*
Versagen hatte Kalessan als Möglichkeit bei allen seinen Handlungen schon
immer ausgeschlossen. Und auch jetzt war nicht der Zeitpunkt gekommen, dies
wieder als Option hinzuzufügen.
Der Drache verwandelte sich, lief in seine Schatzkammer und durchwühlte
sämtliche Truhen und Ansammlungen von Schätzen, die er dort vorfand,
bis er alle Utensilien beisammen hatte, die er benötigen würde. Er
lief zurück in seine Wohnhöhle und zeichnete mit schwarzer Kreide
sorgfältig die erforderlichen Symbole auf eine Stelle des Bodens, die noch
nicht vollgeblutet oder -gepinkelt worden war. Danach stellte er die Kerzen
an den entsprechenden Stellen auf und zündete sie mit der Berührung
eines Fingers an. Schließlich wischte er, um den Vorbereitungen den letzten
Schliff zu geben, eine Ecke des großen Drudenfußes, den er gemalt
hatte, weg. Die Jungfrau beobachtete ihn hasserfüllt und fing wieder an
zu kreischen:

„Was wollt ihr da machen? Schwarze Magie? Eure Hexerei wird die Seele
dieses armen Jungen auch nicht wieder zurück bringen, nur seine seelenlose
Hülle, ihr grausames Stück Sch…“
„HALT den Mund und sei still. Ich kann seine Seele vielleicht nicht zurück
bringen, aber ich kenne jemanden, der das kann. Und ich warne dich, sag jetzt
ja kein Wort – und wenn, dann sprich nur in der Weise wie ich es tun werde,
denn er hat so seine Eigenheiten und ist momentan ziemlich schlecht gelaunt.
Es hat irgendwas mit der… ’neuen Rechtschreibung‘ oder so zu tun,
die ihm ziemlich zu schaffen macht. Wenn dir deine Seele also lieb ist, dann
wirst du ruhig bleiben, denn ich kann dir sonst auch nicht weiter helfen! Ganz
davon abgesehen, dass ich das überhaupt nicht will…“
In der Hoffnung, das Richtige zu tun, wendete sich Kalessan von der nun ruhigen
Jungfrau ab und begann mit der Beschwörung seines „alten Bekannten“.
Blitz, Donner, Nebel, ein großer, schwarzer Pudel und eine gewaltige lyrische
Veränderung kündeten die Ankunft des Herren der Unterwelt an…

MEFISTOFELES
tritt, indem der Nebel fällt, aus dem Pentagramm hervor:
Wozu der Lärm? Was steht dem Herrn zu Diensten?
KALESSAN:
Da du, o Herr, dich einmal wieder nahst

Und fragst, wie alles sich bei uns befinde,
Und du mich sonst gewöhnlich gerne sahst,
So siehst du mich auch unter dem Gesinde.
Verzeih, ich kann nicht hohe Worte machen,
Und wenn mich auch der ganze Kreis verhöhnt;

Mein Pathos brächte dich gewiss zum Lachen,
Hättst du dir nicht das Lachen abgewöhnt.
MEFISTOFELES:
Hört auf mit diesem Redeschwall
Und sagt mir lieber, alter Freund

Warum ihr mich mit einem mal
Zu euch bestellt in dieser Stund!
Ihr wisst wie ich beschäftigt bin
Drum nennt schnell den verqueren Sinn
Von diesem Anruf – sprechet rasch!

KALESSAN:
Eure Reime sind heut ziemlich lasch…
MEFISTOFELES:
Wer bist du, dass du mich hier tadelst?
KALESSAN:
Nur der, den du mit Freundschaft adelst.

Doch sag: Kennst du den Faust?
MEFISTOFELES:
                                            Den
Doktor? Diesen Wicht?
KALESSAN:
Oh, nein, den Faust, den mein‘ ich nicht!

Der Karlmax ist’s!
MEFISTOFELES:
                        Ach
der, was ist mit dem?
KALESSAN:
Fürwahr! er diente mir auf gar besondre Weise.

Und ist nun grad auf einer großen Reise.
Ihm treibt die Gärung in die Ferne.
Er ist sich seiner Tollheit halb bewusst;
Vom Himmel fordert er die schönsten Sterne
Und von der Erde jede höchste Lust,

Und alle Näh und alle Ferne
Befriedigt nicht die tiefbewegte Brust.
MEFISTOFELES:
Nun kommt zur Sache!
KALESSAN:
Sein Sohn ist’s, der mein Herz bewegt.

Verzweiflung die sich in mir regt,
Denn tot ist er, durch meine Hand
Starb er, sein Körper liegt dort noch
Doch in mir hab ich anerkannt
Dass sein Tod wie ein großes Loch

In meinem Herzen ist,
Das schnell zu füllen ich gedenke
Indem ich neues Leben schenke.
Habe nun, ach! Philosophie,
Juristerei und Medizin,
Und leider auch Nekromantie!

Durchaus studiert, mit heißem Bemühn.
Da steh ich nun, ich armer Tor!
Und bin so klug als wie zuvor;
Denn Leben schenken kann ich nicht,
Nicht mal mehr diesem kleinen Wicht.

Drum eurer Hilfe ich bedarf
Wo ich als Freund stets redlich, brav
Die Seelen der durch mich Gefallnen
In euer Reich, die Hölle, schickte.
Eure Hilfe, die ich brauch

Um ihm zu geben Lebenshauch.
Lange Rede, kurzer Sinn
Woran ich interessiert nun bin
Ist, was ihr zu dem Vorschlag meint.
MEFISTOFELES:
Ich bin der Geist, der stets verneint!

Und das mit Recht; denn alles, was entsteht,
Ist wert, dass es zugrunde geht;
Drum besser wär’s, dass nichts entstünde.
So ist denn alles, was ihr Sünde,
Zerstörung, kurz, das Böse nennt,

Mein eigentliches Element.
Nun frag ich dich: was ist der Grund
Weswegen ich zu dieser Stund
Den Bengel soll ins Leben rufen
Ich Teufel mit den Pferdehufen?
Doch die Seelen vieler Toter

Gelangten nur durch euch
Mein lieber Roter
Schnell und häufig in mein Reich
Fürwahr!
Drum sei mein‘ einzige Bedingung

Mit der die Seel des Jungen ich errette:
Ein andre Seele, rein und jung
Die ich denn statt des Kindes gerne hätte.
KALESSAN auf die Jungfrau zeigend:
Nehmt diese dort!

JUNGFRAU:
                         Wen – mich?
KALESSAN:
Nun seid jetzt still!
Denn eure Seele ist’s, die dieser Teufel gerne will.

MEFISTOFELES:
Schön ist sie nicht, das ist wohl wahr
Doch innen ist sie rein und klar –
Ich nehme sie!
JUNGFRAU:

                    Er will mich!
KALESSAN:
Und der Junge soll leben!
JUNGFRAU:
Zu Hilf! Ich glaub ich muss mich übergeben!

MEFISTOFELES:
Komm! komm! Ich lasse dich mit ihr im Stich.
JUNGFRAU:
So irgendjemand! Rette mich!
Ihr Götter! Ihr heiligen Scharen,
Lagert euch umher, mich zu bewahren!

Kalessan! Mir graut’s vor dir.
MEFISTOFELES:
Sie ist gerichtet!
KALESSAN:
                       Er gerettet!
MEFISTOFELES zur Jungfrau:

                                        Her zu mir!
Verschwindet mit der Jungfrau.
STIMME DER JUNGFRAU von innen, verhallend:
Kalessan! DU AR…!

Normalität
kehrte wieder ein. Kalessan sah sich wieder dazu in der Lage, in normalen Sätzen
zu denken. Sein Blick fiel auf Ninnel, der auf dem Boden lag, als wäre
nichts geschehen. Keine große Blutlache und kein abgetrennter Kopf sprachen
mehr für die begangene Untat.

Ninnel öffnete die Augen sah den Drachen an wie jemand, der gerade am Steuer
in Sekundenschlaf gefallen ist und sich jetzt wundert, dass sein Auto an einem
Baum klebt. Der Junge rappelte sich auf und sah sich um. Dann fragte er:
„Hast du die Jungfrau jetzt aufgefressen?“
„Ähm… ja!“, antwortete der Drache, verwirrt über die
Frage.
„Och menno, ich wollte doch zugucken!“

Entweder
war es von Mefistofeles beabsichtigt gewesen oder Kalessan hatte den menschlichen
Verdrängungsmechanismus katastrophal unterschätzt. Jedenfalls hatte
Ninnel keine Erinnerung mehr an seinen eigenen Tod, geschweige denn die Zeit
danach. Woran er allerdings noch perfekte Erinnerungen zu haben schien, waren
die Minuten kurz vor Kalessans kleinem Ausrutscher. Da der Drache laut eigenen
Aussagen die Jungfrau nach Ninnels Bitten doch noch verspeist hatte, war die
logische Schlussfolgerung des Jungen gewesen, dass er den Drachen doch nur intensiv
nerven müsse, um seinen eigenen Willen durchsetzen zu können.

Kalessan auf der anderen Seite fasste das Kind fortan nur noch mit Samthandschuhen
an und behandelte es wie ein gesprungenes, rohes Ei. Kurzum: jegliche Art der
Kontrolle, die Kalessan über Ninnel in den letzten Wochen gewonnen hatte,
wurde durch diesen verhängnisvollen Tag zerstört.
Ninnel konnte somit machen, was er wollte und Kalessans Nerven lagen blank.
Die Demütigungen, die ihm der Junge in den folgenden Tagen zufügte,
übertrafen beinahe das Gefühl des Versagens, dass der Drache nach
Ninnels Tod empfunden hatte. Doch es waren nun schon einige Wochen verstrichen
und ein Ende dieser schwarzen Tage war in Sicht.
Kalessan sah ein Licht am Ende des Tunnels.
Es entpuppte sich als ein Güterzug.

Da
Kalessan gerade auf dem Rücken lag, machte Ninnel sich einen Spaß
daraus, auf seinem Unterleib auf und ab zu hüpfen. Dies machte dem Drachen,
dem nicht einmal ernsthafte Schwerthiebe an dieser Stelle wirklich etwas anhaben
konnten, rein physisch nichts aus. Dennoch spürte er jeden Hüpfer,
als würde die Faust eines Gottes unablässig auf ihn einprügeln.
„Wenn du weitermachst, erzähl ich das deiner Mutter!“, sagte
er, doch es half nichts.
„Na und?“, antwortete das Kind und machte fröhlich weiter.

Kalessan richtete sich auf und bellte in bedrohlichem Tonfall:
„Wenn du nicht sofort aufhörst, werde ich dich fressen!“
Dies bewirkte, dass Ninnel zumindest ein paar Sekunden aufhörte, bis er
schließlich „Nein, wirst du nicht.“ sagte und einfach weitermachte.
Auf der einen Seite wirkte da die folgende Erscheinung fast erlösend, doch
Kalessan hatte sich bereits damit abgefunden, dass jeder Eindringling wirklich
nur im allerersten Moment eine willkommene Abwechslung darstellte.

„Ähm… Herr… Herr Kalessan?“, ertönte eine fiepsige
Stimme, die Ninnel dazu veranlasste, mit seinem Gehopse aufzuhören und
Kalessan, in die entsprechende Richtung zu sehen.
Ein kleines Wesen mit Augenbrauen, die Finanzminister aller Welten vor Neid
erblassen lassen würden, mit einer Nase, die vom Gurkentisch des nächst
besten Gemüsehändlers geklaut zu sein schien, mit Ohren, die es wahrscheinlich
zum Segelfliegen benutzte und Augen, die größer waren als die von
Spezies, die mehrere Kilometer tief unter der Erde leben, war zunächst
mal sein Gesicht eine absolute Katastrophe. Das Wesen war zudem vier Fuß
groß, hatte eine kränklich-braune Hautfarbe, eine ranzige Tunika
um den Leib gebunden und war so potthässlich, dass jedes Krebsgeschwür
demgegenüber einen Schönheitswettbewerb gewinnen könnte.

Kalessan kannte dieses Wesen nur zu gut – es handelte sich um Deppy, den
persönlichen Hauswürger von Smahug. Würger hießen diese
Wesen, weil dies die erste Reaktion sehr treffend umschrieb, die man beim Kontakt
mit ihnen hatte.
„Bitte, Deppy, sage mir nicht, dass ich das tun soll, was ich jetzt denke,
das könnte böse Folgen für dich haben!“, knurrte Kalessan
und unterdrückte den Würgereiz.

Ninnel schien angesichts dieser Erscheinung zwischen Interesse und Abscheu sehr
hin- und her gerissen… wenigstens hielt er die Klappe.
„Aber Meister hat mir gesagen tut, ich sollen euch sagen tun machen!“
– Hatte ich schon erwähnt, dass die Grammatik der Würger ebenfalls
zum Kotzen ist? – „Meister Smahug hat gesagt gemacht, dass ich machen
sollen tun machen muss, dass…“
„SAG es nicht, Deppy, ich warne dich!“
„Aber dann muss armes Deppy sich wieder selbst machen foltern tun, macht
armes Deppy keinen Spaß, nichts nein.“

„Das ist doch nichts im Gegensatz zu dem, was ich dir antun könnte…“,
drohte der Drache.
„Oh, ihr sein nie nicht nett zu nettes Deppy, Deppy machen tun tut nur
seine Aufgabe erfüllen machen. ‚Deppy machen gehen ganz brav zu Herr
Kalessan!‘, sagen Meister Smahug, ‚Und machen sagen Herr Kalessan,
dass sofort kommen er machen tun soll, jetzt gleich, weil wichtiges Treffen
sein tut auf dem Berg und…'“
Seinen Satz sollte er nie fertig sprechen, da er in einem Feuerstrahl aus Kalessans
Maul verglühte.

Eine mehrere Sekunden lange Stille entstand, bis sich Ninnel dazu durchringen
konnte, als erster wieder etwas zu sagen:
„Danke… aber musstest du es gleich umbringen?“
Der Drache schnaubte:
„Würger kann man nicht umbringen, das ist ja das Brutale an diesen
Mistkerlen. Der kehrt jetzt zu seinem Herrn zurück und nimmt erneut diese
widerwärtige Gestalt an. Dagegen bist selbst du eine Schönheit.“
„Und was wollte er von dir?“

„Nichts gutes…“
Smahug hatte also eine Versammlung einberufen.
Kalessan hasste diese Versammlungen! Die anderen neun Drachenarten verhielten
sich auf diesen Treffen immer wie die letzten Idioten, führten kindische
Debatten aus und verhielten sich generell nicht so, wie es wahre Drachen –
Drachen wie Kalessan – tun sollten. Lediglich Morkulebus war ähnlicher
Auffassung und daher noch das von Kalessan am meisten respektierte Mitglied,
wenn er sich auch aus der Sicht des roten Drachen zu passiv verhielt.
Schlimmer als das Verhalten der Drachen bei jenen Treffen waren jedoch die Anlässe,
aus denen Smahug, der Oberhaupt des Rates, sie einberief. Erst beim letzten
Mal hatte er den gesamten Rat beinahe in sein Verderben geführt, was zu
Kalessans Bekanntschaft mit Karlmax und letztendlich auch zur momentanen Misere
des roten Drachen geführt hatte.

Doch wenn man wie Kalessan ältestes Exemplar der eigenen Spezies war, konnte
man sich vor diesen Versammlungen leider nicht drücken, wollte man seine
Position und damit ein ernsthaftes Mitspracherecht bei den Entscheidungen über
die Geschicke der Welt, zu denen es auch ab und an kam, nicht riskieren.
Von ihm wurde nun erwartet, dass er sich sofort auf den Weg machte, um an der
Versammlung teilzunehmen. Ninnel konnte er natürlich nicht in seiner Höhle
lassen. Wer wusste schon, wie viele Ritter – möglichst noch Getreue
dieser ominösen Lady Syrop – sich noch auf den Weg zu Kalessans Höhle
machten und den Jungen dann mitnahmen.

Kalessans Optionen waren also nicht sehr zahlreich – auch wenn er es hasste,
den Jungen in die Geheimnisse des Drachenvolkes einzuweihen und, was noch schlimmer
war, ihn mit dem peinlichen Auftreten seiner Artgenossen konfrontieren zu müssen.
„Was wollte er denn nun genau?“, unterbrach Ninnel Kalessans Gedankengänge.
„Er hat eine Versammlung einberufen, zu der ich gehen muss. Sieht so aus,
als müsstest du mich begleiten…“
„Oh toll, dann darf ich endlich mit dir fliegen?“

So sehr Kalessan versucht hatte dies zu vermeiden, diesmal hieß die Antwort
wohl oder übel:
„Ja…“
Ninnel klatschte freudig erregt in die Hände und bedrängte den Drachen,
sogleich loszufliegen. Seufzend begann dieser mit den Vorbereitungen, nur damit
dieses elende Gequengel endlich aufhören würde.

Währenddessen
war ein junger Mann aus einer fremden Dimension damit beschäftigt, die
finsteren Sümpfe des Schwarzen Todes zu finden, was sich als nicht besonders
einfach herausstellen sollte.

Viele Wochen lang zog er alleine durch die Dörfer und Wälder, doch
keiner schien den richtigen Weg zu wissen, und böse Menschen hatten die
Hinweisschilder umgedreht oder mit obszönen Zeichnungen unleserlich gemacht.
Die Wälder waren auch nicht ungefährlich, denn überall streunten
gefährliche, wilde Tiere umher. Der Mann aus der fremden Dimension sorgte
sich aber nicht darum, denn schließlich war er ja auserwählt, diese
Welt zu retten, deswegen konnte ihm natürlich nichts passieren. Eine große
Anzahl von Zufällen, namentlich zwei Wölfe, die sich im Streit um
ihn als Beute selbst zerfleischten, ein Bär, der kurz vor seinem Angriff
unglücklich stolperte und sich an einem Baum das Genick brach und ein Löwe,
der sich gerade auf den Reisenden stürzen wollte, dem dann aber einfiel,
dass es im Wald gar keine Löwen gab, worauf er in einer Rauchwolke verpuffte,
sorgten dann auch wunderbarerweise dafür, dass ihm tatsächlich nichts
passierte.

Einmal stieß der Reisende sogar auf eine Räuberbande, die ihn freundlich
umzingelte. Diese Räuber entpuppten sich jedoch als hinterhältige
Versicherungsvertreter, worauf selbst der Mann aus der fremden Dimension schleunigst
die Flucht ergriff.
Schließlich kam er in eine weitere kleine Stadt und traf dort endlich
auf einen Menschen, der den Weg in die finsteren Sümpfe des Schwarzen Todes
zu kennen schien. Es handelte sich um einen seltsamen, kleinen Kerl in einer
knallbunten, ledrigen Rüstung, die aus so vielen Einzelteilen bestand,
dass die gesamte Konstruktion bei der geringsten Bewegung hin und her wackelte.
Am Bauch war offenbar eine Klappe, die man beliebig öffnen und schließen
konnte. Die Klinge seines Schwertes wies eine leichte Kurve auf und schien die
gesamte Biographie seines Besitzers zu erzählen, so vollgekritzelt mit
fremdartigen Schriftzeichen wie sie war.

„Und du weißt, wo es zu den finsteren Sümpfen des Schwarzen
Todes geht?“, fragte der Reisende den Krieger.
„Ja, Nagersacki wissen wo ihr finden finstere Sümpfe, hai!“
„Wo?“
„Was?“

„Häh?“
„Nein – hai!“, sagte der Krieger nochmals.
„Ach so… kannst du mich dort hinführen?“
„Warum sollte Nagersacki das tun? Wo ist die Ehre darin, fragt er den
Fremden.“

„Die Ehre?“, erkundigte sich der Fremde verwirrt.
„Nagersacki kämpfen nur für die Ehre. Wenn Ehre von Nagersacki
verletzt, Nagersacki bringen sich selbst um mit Kike-Riki!“
Nagersackie öffnete demonstrativ die Klappe an seiner Rüstung und
zeigte dem Fremden seinen nackten Bauch.
„Sag mal, was genau bist du eigentlich?“

"Nagersacki sein ehrenhafter Sauriam!", antwortete der Krieger mit
stolzgeschwellter Brust.
"Ich dachte, die Saurier wären alle ausgestorben!?“
"Wenn alle ausgestorben, warum stehen Nagersacki jetzt vor euch?"
„Verstehe… Meinst du, das es ehrenvoll wäre, wenn du mir bei der
Rettung der Welt hilfst?“
„Rettung der Welt? Ist große Ehre für Nagersacki! Es wird mir
Freude sein, den Fremden zu begleiten und ehrenhaft zu sterben, hai!“

„Wo?“
„Was?“
„Ach, vergiss es…“

Es
war ein wahrhaft trauriger Punkt erreicht, wenn Kalessan nun schon selbst beim
Fliegen keine Privatsphäre mehr hatte. Wenigstens hatte er Ninnel so stark
in alle möglichen warm haltenden Kleidungsstücke verschnürt,
dass dieser zwar noch atmen, aber keinen artikulierten Laut mehr hervorbringen
konnte. Dass er ihn fest an seine Brust gepresst hielt, tat sein übriges,
um ihn wenigstens den ganzen Flug über still und warm zu halten. Auf Kalessans
Rücken hätte sich der Junge bei den ganzen Stacheln und Zacken die
dort waren nur irgendwann selbst aufgespießt, auch wenn der Drache diesen
Gedanken mittlerweile mit ungeahnter Genugtuung verfolgte.

Zum Versammlungsort war es ein halber Tag Flugzeit von Kalessans Behausung aus.
Den Großteil der Zeit verbrachte der Drache damit, sich besonders blutige
Todesarten für Ninnel auszudenken, ansonsten fragte er sich, was Smahug
wohl zu der Einberufung eines Treffens hätte bewegen können.
Wahrscheinlich wollte er ihnen mal wieder einen neuen Ring in Drachengröße
präsentieren, den Generationen tüchtiger Zwerge in Jahrhunderte langer
Feinarbeit geschmiedet hatten. Oder ein wahnsinniger Mensch hatte mal wieder
eine todbringende Maschine erfunden, die die Sonne in die Luft sprengen würde,
wenn ihm nicht die Weltherrschaft zugesprochen würde.
Kalessan wusste nicht, was davon er mehr verachtete.

Er wusste ebenfalls nicht, dass er bei seinem Flug sehr aufmerksam beobachtet
wurde.
Als er am Versammlungsort ankam, einer konzentrischen Ansammlung von Felsplateaus
hoch in den Bergen, die vor langer Zeit genauso gut von Drachen- wie von Götter-
oder Zufallshand hätte geschaffen worden sein können, waren alle anderen
neun Mitglieder des Rates bereits anwesend.
Kalessan kreiste einmal über der Runde, die in den Farben Gold, Silber,
Bronze, Kupfer, Messing, Grün, Schwarz, Blau und Weiß leuchtete,
landete und mischte der Farbpalette einen aggressiven, roten Ton hinzu.
Die anderen Drachen waren sehr erstaunt, als sie ihn kommen sahen – normalerweise
erschien er immer erst ein oder zwei Tage später als angekündigt war.

„Oh, der werte Kalessan beehrt unsere illustre Runde ausnahmsweise einmal
pünktlich. Gute Vorsätze fürs neue Jahrhundert stehen aber erst
in ein paar Jahren an, mein bester!“, spöttelte Smahug, der Älteste
der Runde.
„Deine dämlichen Bemerkungen kannst du dir sonstwo hin stecken! Sag
mir lieber, was so überaus wichtig war, damit ich mich hierher quälen
musste, die letzten Male hat es nur Unglück gebracht.“, kam die gefauchte
Antwort von Kalessan, der gerade auf seinem Plateau Platz genommen hatte.

„Oh, ich sehe, bei deinen Manieren hat sich wenig geändert… und
wie oft habe ich dir schon gesagt, dass du dir keinen Proviant zu den Treffen
mitnehmen sollst?“, merkte der goldene Drache an, als Kalessan das dicke
Ninnel-Bündel ablud, welches sich in der fremdartigen Runde neugierig umsah.
„Und dann auch noch ein Kind!“, fuhr er kopfschüttelnd fort,
„Dann friss es wenigstens gleich, damit wir das hinter uns haben!“
„So sehr es mich anwidert das zu sagen, aber dieses Kind wird nicht gefressen.
Ich habe schon zu viel deswegen durchgemacht.“
„Oh, Kalessan nimmt sich eines Menschenjungen an? Das kann einem ja fast
Angst machen!“, kam der gehässige Kommentar von Droca, dem Kupferdrachen.
Droca glich seinem benachbarten Bronzedrachen, Neidhöcker, wie ein Ei dem
anderen und war nur deswegen als er selbst zu identifizieren, weil er ein großes
Schild um den langen Hals trug, auf dem in großen, gut lesbaren Buchstaben
sein Name stand. Neidhöcker trug ein ähnliches Schild, nur dass auf
diesem sein eigener Name zu lesen war.

„Wenigstens brauche ich nicht mehrere Millennien, um mir eine Methode
auszudenken, mit der man mich einwandfrei identifizieren kann!“, entgegnete
der rote Drache, worauf Droca beschämt den Blick abwendete.
„Wer ist das überhaupt, dass du dich plötzlich mit Menschen
abgibst?“, kam eine weitere Frage von Adorelon, dem Silberdrachen.
„Dies ist Ninnel, Karlmax‘ Sohn!“, sagte Kalessan und versuchte,
wenigstens ein bisschen feierlich zu klingen, erntete aber lediglich verständnislose
Blicke.

„Wessen Sohn?“
„Ihr erinnert euch doch hoffentlich? Männlicher Mensch, viele Haare
im Gesicht, rettete alle unsere Existenzen…“
„Nein!“
„Nein!“
„Nein?“
„Nein!“

„Nein!“
„Thric!“
„Nein!“
„Nein!“
„Ja… Moment, nein, doch nicht!“
„Dann weiß ich nicht, was peinlicher ist – dass ich mir als
einziger in der Runde den Namen eines speziellen Menschen behalten konnte oder
dass ihr alle den Namen dieses Menschen vergessen konntet, der euch alles bewahrt
hat, was euch teuer war.“, brauste Kalessan auf.

„Habe ich irgendwas nicht mitbekommen? Woher der plötzliche Seitenwechsel,
Kalessan?“, fragte ihn Tjamat, der blaue Drache, der gerade mit einer
überdimensionierten Nagelfeile seine Krallen schönte.
„Oh, du meinst den Menschen in dieser Saurudalf-Angelegenheit, nicht wahr?“,
merkte Droca an, „Von dem habe ich noch öfters gehört, der ist
jetzt ein berühmter Theoretiker geworden oder so, hat großen Erfolg,
zieht durch die Lande, gibt Vorlesungen undsoweiter – in meinen Augen
ist unsere Schuld an diesen Menschen bezahlt.“

Die anderen Drachen stimmten dem kollektiv zu.
„Dann habe ich in den letzten Wochen anscheinend die Schuld von uns allen
zusammen bezahlt.“, antwortete Kalessan mit einem düsteren Blick
auf Ninnel, der gerade einen Stein über den Rand vom Plateau des roten
Drachen fallen ließ, um zu hören, wie tief der Abgrund darunter sei.
„Und jetzt erzählt ihr mir besser, warum ich mit diesem Balg überhaupt
herkommen musste – und lasst es bitte einen guten Grund sein, denn ich
bin zu fertig mit den Nerven, um irgendeine idiotische Begründung für
diese Zusammenkunft akzeptieren zu können!“

Kalessans letztes Fünkchen Hoffnung verschwand, als alle anderen Drachen
auf einmal reges Interesse an Steinen, Wolken und intensiver Krallenmaniküre
zeigten.
Smahug räusperte sich kurz und sagte dann:
„Nuntja, ähm, weißt du, der Grund für dieses Treffen ist…
wie soll ich es sagen, also es ist so… ähm… unsere liebe Schneeweißchen
hier…“, er deutete auf die weiße Drachin, die sich konsequent
weigerte, auch nur ein Wort in der allgemeinen Sprache zu sprechen, „…nun,
sie hat doch morgen ihren 2000. Geburtstag und da wollten wir eine kleine…
Feier veranstalten… hast du meinen Hauswürger etwa nicht aussprechen
lassen?“

Aus dem Tal dröhnte das donnernde Echo einer Steinlawine hinauf, die durch
Ninnels Steinwurf ausgelöst worden war.
Sie setzte sich in Kalessans Kopf in Form einer Lawine aus Wut fort.
Er brüllte laut auf, so laut, dass es selbst den restlichen Drachen in
den Ohren schmerzte, und schlug mit der geballten Faust auf den Felsboden seines

Plateaus.
Kalessans Schrei und das kleine Beben von seinem Schlag reichten aus, um Ninnel
über den Rand der Klippe, an der er sich immer noch aufhielt, auf einen
tiefen, tödlichen Fall zu schicken.

Kalessan und die anderen Drachen bemerkten es nicht.
Aufmerksame Augen beobachteten – und reagierten.
Der rote Drache tobte.
Die restlichen neun Mitglieder des Rates waren schon so einiges an Wutausbrüchen
gewohnt, die Kalessan angesichts ihm weniger wichtig erscheinenden Themen der
Versammlung losgelassen hatte, aber dies übertraf alles vorher dagewesene.
Wochenlang aufgestaute Wut entlud sich in unartikuliertem, lautem Gebrüll
und zahlreichen Gewalttaten gegenüber dem Felsen, auf dem der rote Drache
saß. Früher hatte er wenigstens noch den Anstand gehabt, ihnen einzeln
Beleidigungen zuzuschreien. Hätte ihn diesmal nicht ein letzter Funken
Vernunft davon abgehalten, er hätte sich wahrscheinlich auf Smahug gestürzt
und versucht, ihn umzubringen.

So dauerte es auch mehrere Minuten, bis er sich wieder beruhigt hatte und auf
dem großen Felsplateau nichts mehr außer der rauschende Wind zu
hören war.
Die restlichen Drachen des Rates kauerten sich alle eingeschüchert auf
ihren Plätzen zusammen und wagten es nicht, einen Laut zu machen, der die
Aufmerksamkeit Kalessans auf sie ziehen könnte.
Smahug erholte sich als erster:
„Bist du jetzt fertig, Kalessan? Gut, dein Mensch ist nämlich verschwunden.
Zufrieden?“

Kalessans wahnsinniger Blick klärte sich ein wenig auf, als er sich auf
seinem Plateau umsah und bemerkte, dass Ninnel tatsächlich verschwunden
war. Er warf einen Blick über die Felskante und suchte den Felsboden weit
unter sich nach dem Jungen ab, aber da war nichts. Der Drache wandte sich wieder
Smahug zu:
„Na und? Dann ist er endlich tot, und ich habe versagt. Es ist mir egal!
Und weißt du, was mir noch egal ist? Diese Versammlung hier! Wir sollten
die Welt regieren, und was machen wir stattdessen? Wir feiern Geburtstage, suchen
nach deinen Schätzen und legen uns mit mickrigen Magiern an. Wann haben
wir für diese Welt in letzter Zeit wirklich etwas wichtiges getan? Nichts!
Und dann sind wir sogar noch zu arrogant, um eine gute Tat anzuerkennen, die
mal jemand für uns tut. In dieser Hinsicht habe ich in den letzten Wochen
mehr im Namen dieses Rates getan als wir alle zusammen in den letzten acht Jahren.
Ich habe jemandem gezeigt, dass mir das, was er für mich getan hat, nicht
scheißegal war. Ja, es war ein Mensch. Ja, ich habe dabei gelitten, und
ja, ich habe versagt. Das beweist mir nur, wie inkompetent diese gesamte Versammlung
hier ist – darum sollte mir mein Versagen wohl doch nicht so egal sein…“

„Versagen wobei, Onkel Kalessan?“, ertönte eine leise Stimme
über dem Rauschen des Windes.
Kalessan dreht sich um.
„Oh, Scheiße!“
Ninnel war offensichtlich am Leben. Die Tatsache, dass er sich in den Klauen
eines fremden, roten Drachen befand, ließ jedoch nicht dafür sprechen,
dass es noch lange so bleiben würde.

Gemessen an Kalessan war dieser Drache gerade mal halb so groß, aber immer
noch groß genug, um bei den meisten Menschen ernsthafte Blasenschwäche
zu bewirken. Weitaus eindrucksvoller als seine Größe war jedoch sein
Blick. So ein Blick ließ nur auf einen Verstand hinter diesen Augen schließen,
der vollkommen wahnsinnig und zu allem bereit war, dabei noch einen extremen
Hang zum Sadismus hatte, jedoch alle Handlungen mit kalter Berechnung durchführen
konnte. Kalessan hatte in seinen besseren Tagen auch nicht anders ausgesehen…
Er erholte sich von daher von diesem Anblick daher als erster.
„Wer bist du?“, fragte er.

„Oh, wir sind wohl ein ganz stürmischer, nicht wahr?“, sagte
der Drache, der nach dessen Stimme zu urteilen unmissverständlich weiblich
war und fügte dem bedrohlichen Blick ein ähnlich schockierendes Lächeln
mit spöttischem Unterton hinzu, während er mit heftigen, schweren
Flügelschlägen versuchte, einigermaßen seine Höhe zu halten.
„Ist euch eigentlich klar, dass jedem Drachen, der unaufgefordert diese
Versammlung besucht, die Todesstrafe droht?“, schaltete sich nun Smahug
an die Drachin gewandt ein.

Diese riss ihren Blick von Kalessan los und funkelte den Vorstand des Rates
an:
„Natürlich ist mir das klar – nur frage ich mich, warum das
ganze? Damit wir anderen Drachen nicht herausbekommen, dass ihr nur Geburtstagspartys
feiert und Nichtigkeiten besprecht, anstatt die Welt zu beherrschen? Eine hervorragende
Begründung, wirklich!“
Die Stimme der Drachin troff vor Hohn und ließ Smahug sichtbar zusammenzucken.
Sie blickte sich in der Runde um:
„Oh, ihr seid wirklich ein wahrer Haufen von Herrschern: verfressen, fett,
herrschsüchtig, faul, arrogant und zu nichts nutze!“

Ihr Blick kam zu Kalessan zurück.
„Was ist mit dir? Du scheinst ähnlicher Meinung zu sein…“
„Gib mir den Jungen zurück und nenn mir deinen Namen!“, bellte
er.
Die Drachin sah Ninnel kurz an, der die gesamte Szenerie mit anscheinend sehr
großem Interesse verfolgt hatte und seinen Blick kontinuierlich von Drache
zu Drache wandern ließ, um auch ja nichts zu verpassen.

„Dir scheint dieser Junge ja sehr viel zu bedeuten… wenn das so ist,
dann komm doch und hol ihn dir!“, antwortete die rote Drachin lachend,
drehte ab und begann, auf der nächst besten Luftströmung davon zu
fliegen.
Smahug war außer sich:
„Das… das… das ist ein Skandal! Das ist mir vorher noch nie untergekommen.
Selbst ihr roten Drachen wisst, dass diese Versammlung für euch untersagt
ist!“
„Ich wusste doch, dass ich hier nie erwünscht war…“, antwortete
Kalessan abfällig.

„Du weißt genau, was ich damit gemeint habe. Dieser Verstoß
muss geahndet werden! Dem Gesetz muss Folge getragen werden! Sie wird die Konsequenzen
für diese Untat tragen müssen! Kalessan, da sie Mitglied deiner Rasse
ist, wirst du das Urteil an ihr vollstrecken!“
„Du meinst sie umbringen?“
„Ganz genau!“, Smahugs Stimme überschlug sich, „Ich befehle
es dir!“

Die folgende Stille hätte kein Friedhof besser hinzaubern können.
Als Kalessan das nächste Mal sprach, war seine Stimme leise und zischend:
„Du befiehlst mir gar nichts mehr, Smahug! Diese Zeiten sind vorbei. Ich
werde diese Drachin verfolgen und töten – weil sie mich herausgefordert
hat. Und wenn ich sie umbringe, dann wird das mein letzter Dienst für diesen
Rat gewesen sein.“
Er drehte sich um und breitete seine Flügel aus.

„Du kannst nicht austreten!“, brüllte Smahug ihn an.
„Dann halte mich auf!“, entgegnete der rote Drache, stieß
sich ab und flog der Drachin hinterher, die ihn so frech herausgefordert hatte.
Schneeweißchen murmelte etwas auf Draconisch, das ungefähr mit „Wirklich,
ein schöner Geburtstag!“ übersetzt werden konnte.

Mit
Nagersacki unterwegs zu sein, erwies sich für den Fremden aus einer anderen
Welt als an sich schon sehr schwere Aufgabe, da man sehr aufpassen musste, die
Ehre dieses Kriegers nicht zu verletzen. Einmal hatte sich ein Vogel direkt
über Nagersackis Kopf erleichtert, und nachdem der Krieger sich nicht dazu
in der Lage sah, das Tier deswegen zu einem fairen Kampf zu stellen, hatte der
Reisende seine Liebe Mühe, den Sauriam davon abzuhalten, sich selbst das
Schwert in seine Bauchklappe zu rammen.
Nichtsdestotrotz führte ihn Nagersacki in ein Gelände, das zumindest
schon mal die Bezeichnung „finsterer Sumpf“ verdient hatte.
„Sag mal, Nagersacki, warum heißen die finsteren Sümpfe des
Schwarzen Todes eigentlich so?“, erkundigte sich der Fremde.

„Nun, sie sehr finster seien…“
„Und weiter?“
„‚Schwarzer Tod‘, so wird genannt Drache, der lebt in Sumpf.
Seien kein netter Zeitgenosse, ha ha!“, erklärte Nagersacki.
„Oh, genau zu dem möchte ich aber.“
„Ihr wollen den Schwarzen Tod umbringen? Das werden ein wahrhaft guuuter
Kampf!“

„Ich will ihn eigentlich nicht umbringen, vielmehr… mit ihm reden!“
Der Fremde achtete darauf, nicht zu viele Details über seinen geheimen
Auftrag und vor allem über die Schriftrolle mit der wichtigen Nachricht
zu preiszugeben – man wusste nie, wem man trauen konnte, dazu hatte er
schon zu viele Bücher gelesen.
„Oh… darf Nagersacki ihn umbringen, nachdem ihr geredet habt?“,
fragte der Krieger hoffnungsvoll.
„Nein!“

„Oh bitte, nur ein bisschen!“
„Nein, und es bleibt dabei!“
Der Reisende hoffte stark, dass er den Sauriam nicht zu sehr in seiner Ehre
verletzt hatte, ansonsten würde dieser Streit noch viel heftigere Ausmaße
annehmen. Der Krieger beschränkte sich jedoch darauf, lautstark zu schmollen
und etwas in seiner eigenen, zwitschernden Sprache zu murmeln.
Die beiden setzten ihre Reise durch den immer finsterer und sumpfiger werdenden
finsteren Sumpf in verdrossenem Schweigen fort. Obwohl es eigentlich ein heller
Tag sein sollte, war der Himmel düster und dem Sumpf hing eine niederdrückende
Stimmung an. Dies lag vor allem an der Vegetation, beziehungsweise den sogenannten
Gruselbäumen. Diese haben eine sehr bizarre, gekrümmte Form mit vielen
gezackten Ästen und Auswüchsen, die jeden phantasievollen Verstand
geradezu dazu auffordern, sie für gefährliche Monster oder ausgestreckte
Klauen zu halten. Diese spezielle Baumart wächst besonders inmitten von
dunklen Wäldern und Sümpfen. Aufgrund ihrer die Atmosphäre steigernde
Wirkung wird sie gerne von bösen Herrschern und Kreaturen an diesen ihren
Heimstätten importiert und verdrängt schnell sämtliche Restvegetation,
die andere Farben außer grau, schwarz und braun aufweist. Alle anderen
Pflanzen bleiben seltsamerweise unangetastet…

Die unheimliche Wirkung des Sumpfes ließ auch das Gemüt des Reisenden
nicht ganz unangetastet. Er war sich zwar immer noch sicher, dass ihm als Weltenretter
nichts passieren konnte, dennoch hoffte er, dass er den Drachen bald finden
würde, damit er schnell aus diesem Sumpf heraus kommen und die Welt retten
könnte.
Nagersacki bedeutete ihm plötzlich, stehen zu bleiben und sah sich aufmerksam
um.
„Es sehr ruhig geworden ist. Kein gutes Zeichen sein.“
Dies wurde darin bestätigt, dass aus den Schatten der Gruselbäume
um ihnen herum auf einmal drei schreckliche Kreaturen auftauchten und sie umzingelten.
Es handelte sich um hoch gewachsene, bucklige Humanoide mit entstellten Gesichtern.
Sie hatten lange, rübenartige Nasen, zahnlose Höhlen als Münder,
das Kinn von jedem von ihnen war mehrere Zentimeter lang und sie waren überall
von pulsierenden Warzen entstellt. Sogar einige der Warzen hatten Warzen und
aus ihnen wuchsen lange, dünne Haare, die wahrscheinlich keine noch so
scharfe Gartenschere hätte durchschneiden können.

Nagersacki zögerte nicht lange, zog sein langes Schwert, stieß einen
hochfrequenten Kampfschrei aus und stürmte auf die nächst beste der
drei Kreaturen zu. Diese wich ihm mühelos aus und stellte ihm ein Bein.
Nagersacki hatte nicht genug Zeit, um zu reagieren, stolperte und legte sich
der Länge nach hin. Leider hielt er dabei sein Schwert so ungünstig,
dass er es sich dabei selbst in den Bauch rammte. Am Boden liegend sah er noch
einmal zu dem Reisenden hoch und sagte:
„Es ist vollbracht.“
Dann hauchte er seinen Lebensatem aus.

Was für ein oberpeinlicher Schlusssatz!, dachten sich alle Anwesenden.
Die drei Kreaturen schlossen nun ihren Kreis um den einsamen Reisenden, der
heftig zu zittern begann und sich nun doch schon seinem Ende nahe wähnte.
Eine letzte Frage wollte er ihnen jedoch noch stellen:
„Werwerwer seid ihr?“
Sie kreischten laut auf, was anscheinend ihre Art war, zu lachen. Danach antworteten
sie im Chor:
„Wir sind die drei schrecklichen Furien!“

„Ich bin Alexzstrzuszszuszia!“, schrie die eine, und der Reisende
begann noch heftiger zu zittern.
„Mein Name ist Chmlech’krach!clochchmchmrn!“, kreischte die
zweite Furie, und der Reisende begann qualvoll zu wimmern.
Dann stellte sich die dritte vor:
„Und ich heiße…“
Als die Furie ihren Namen genannt hatte, tönten die Schreie des Reisenden
laut und gellend, aber ungehört durch den finsteren Sumpf.

Die
Drachin zu verfolgen, war für Kalessan wahrlich kein Zuckerschlecken, da
diese sich als äußerst flink entpuppte und den größeren
Drachen in relativ kurzer Zeit abgehängt hatte.
Kalessan musste ab und an sogar auf die Hilfe von Menschen am Boden zurückgreifen:
„Ist hier ein roter Drache vorüber geflogen?“
Der Blick des von ihm angesprochenen Bauern machte ihm klar, dass es momentan
nur einen einzigen Drachen in seinem Universum gab. Seine Selbsterhaltungstriebe
brachten ihn jedoch zumindest so weit, den Arm unter wildem Zittern in die entsprechende
Richtung auszustrecken.

Kalessan flog los und brachte ihn nicht um – sogar dazu war er zu wütend.
Nach etlichen Stunden des Folgens von Spuren in der Luft und Hinweisen vom Boden
fand er die Höhle, die den Geruch jener fremden Drachin trug, am Rand einer
kleinen Gebirgskette. Er zwängte sich durch den für ihn viel zu kleinen
Durchgang und kam alsbald in den Hauptraum der Behausung der fremden Drachin.
Diese erwartete ihn bereits entspannt auf dem Boden liegend und zufrieden grinsend.
Über ihr baumelte ein überdimensionierter Vogelkäfig, in dem
Ninnel hockte und Kalessan ebenfalls fröhlich grinsend zuwinkte.
„Hast ja ziemlich lange gebraucht, mein Bester – mit diesem Quälgeist
hätte ich es wohl auch kaum länger ausgehalten…“, gurrte die
rote Drachin, stand auf und stupste den Käfig kurz an, worauf Ninnel wild
hin und hergeschleudert wurde.

„Hör mal zu: Ich bin momentan ziemlich stinkig – was stressige
Situationen betrifft, was andere Drachen betrifft und vor allem was
diesen Jungen dort betrifft. Der Rat hat mich beauftragt, dich wegen deines
Verstoßes gegen unser Gesetz zu töten, aber darauf habe ich jetzt
ehrlich gesagt keine Lust. Aus diesem Verein bin ich draußen. Wenn du
mir den Jungen also jetzt gibst und dich dann nie wieder blicken lässt,
bin ich bereit, dich am Leben zu lassen.“
Die gefährliche Ruhe von Kalessans Tonfall hätte selbst einige der
älteren Mitglieder im Drachenrat verschreckt, doch diese viel kleinere
Drachin lachte nur und legte den Kopf schief.

„Dir liegt wirklich viel an diesem kleinen Bengel, nicht wahr? Ich frage
mich, was an ihm so besonders ist…“
„Das geht dich nichts an! Und jetzt rück ihn raus, das ist meine
letzte Warnung!“, grollte Kalessan und nahm einen noch bedrohlicheren
Tonfall an, wenn das überhaupt möglich war.
„Tut mir leid, aber ich habe ihn nicht entführt, um ihn dir dann
einfach wieder zurückzugeben…“
„Und was willst du dann?“

Die Augen der Drachin verengten sich zu kleinen Schlitzen, und sie zischte:
„Ich will kämpfen!“
Kalessan lachte auf:
„Pah! Wie alt bist du eigentlich?“
„Man fragt eine Lady nicht nach ihrem Alter, aber schön: 500 Jahre…“

„Noch völlig grün hinter den Ohren… Du denkst doch nicht wirklich,
dass du auch nur den Hauch einer Chance hast!? Was könnte wohl der Grund
sein, dass du dein Leben so vorzeitig beenden willst?“
„Das wirst du noch früh genug sehen – na, was ist?“,
fauchte die Drachin und machte herausfordernde Gesten.
Kalessans Miene gefror.
„Du meinst es ernst, hm? … Nun gut, wie willst du es austragen?“

„Luftkampf. Kein Feuer, keine Magie – nur Geschick und Stärke!“
„Entweder du bist verdammt gut für dein Alter, oder du bist vollkommen
wahnsinnig.“, schnaubte Kalessan.
„Vielleicht bin ich ja beides – wollen wir jetzt endlich anfangen?“
Eine aufgeregte Kinderstimme mischte sich ein:

„Oh toll, ihr werdet gegeneinander kämpfen! Darf ich zusehen? Bittebittebitte!“
„Halt die Klappe!“, brüllten Kalessan und die Drachin gleichzeitig,
worauf Ninnel Ruhe gab.

Wenige
Minuten später umkreisten sich die beiden Drachen über den Bergen.
Der Himmel hatte sich im Laufe des Tages zugezogen, und die Wolken hingen dicht,
grau und tief über der Landschaft.

„Ich gebe zu, ich bin ein wenig beeindruckt von deinem Mut… oder von
deiner Dummheit.“, sagte Kalessan.
„Oh, du wirst noch viel beeindruckter sein, glaube mir!“
„Und du willst das wirklich?“, fragte Kalessan die fremde Drachin,
immer noch zweifelnd.
Diese ignorierte ihn.
„Bist du bereit?“, fragte sie.

„Bereit, wenn du es bist.“, antwortete Kalessan, aber noch während
er sprach, hatte sich die Drachin aufgeschwungen und war in den Wolken verschwunden.
Also wird gespielt…, dachte sich der ältere Drache und folgte
ihr in die dichte Wolkendecke.
Kalessan hatte in seinem Leben schon viele Luftkämpfe mit anderen Drachen
ausgetragen und wusste nur zu gut, dass das Antreten gegen einen älteren,
stärkeren und erfahreneren Gegner ein böses Ende haben konnte. Wenn
man die Wettersituation als Vorteil im Kampf richtig ausnutzte, konnte man auch
einen stärkeren Gegner leicht bezwingen. Doch auch Kalessan wusste um den
Vorteil von Wolken und Überraschungsangriffen. Leider hatte es nun schon
seit geraumer Zeit niemand mehr gewagt, ihn herauszufordern, weswegen er ein
wenig aus der Übung war und den ersten Angriff zu spät kommen sah.

Er drehte schnell ab, und die junge Drachin stürzte an ihm vorbei, jedoch
konnte sie ihm ihre Klauen einmal über die Seite ziehen und ließ
ein paar nicht sehr tiefe, aber dennoch spürbare Striemen zurück.
Danach war sie wieder außer Sichtweite.
Oh, diese Drachin hat ja richtig Schneid!, dachte sich Kalessan und
flog aufwärts, um in höheren Luftschichten aus der Wolkendecke auszubrechen.
So langsam regte sich in ihm wieder die alte Kampfeslust, und er begann, seine
alten Taktiken anzuwenden. Über den Wolken kreiste er und behielt die Schatten
unter sich wachsam nach der geringsten Bewegung im Auge, ohne dabei die restliche
Umgebung außer Acht zu lassen.

Da! Unten wirbelten die Wolken leicht auseinander, als ob sich etwas großes
darin bewegen würde. Er legte die Flügel an und begann einen lautlosen
Sturzflug auf das Bewegungsmuster zu, durchbrach die Wolkendecke und konnte
die junge Drachin sehen, wie sie, ihn nicht bemerkend, aufmerksam die Wolken
unter sich absuchte.
Schade, es war sehr kurz mit dir, aber angenehm!, dachte sich Kalessan
und streckte seine Klauen aus, um die kleinere Drachin in der Luft zu zerreißen.
Den Bruchteil einer Sekunde bevor er auf sie auftraf, drehte sie sich auf einmal
blitzartig um ihre Achse und wirbelte zur Seite, sodass Kalessan sie knapp verfehlte.
Dabei gelang es ihr, in die empfindliche, bereits von Narben durchsäte
Flügelmembran des älteren Drachen zu beißen. Dadurch war sie
jedoch kurz in Reichweite von Kalessan, der jetzt seinerseits die Gelegenheit
nutzte, sich geschickt in der Luft drehte und ihr eine Klaue in den Hals rammte.
Die Drachin löste sich von ihm und brüllte auf, jedoch klang es mehr
wie ein lustvolles Stöhnen als ein Schmerzensschrei. Danach verschwand
sie wieder in den Wolken.

Kalessan verfluchte sich selbst, dass er auf diese Falle hereingefallen war.
Er hatte diese junge Drachin anscheinend gewaltig unterschätzt. Aber man
wird nicht so alt, wenn man nicht aus seinen Fehlern lernt…
Er durchbrach erneut die Wolkendecke auf der oberen Seite. In einiger Entfernung
flog seine Gegnerin – auch sie hatte ihn entdeckt und flog direkt auf
ihn zu. Ein paar Hundert Meter bevor sie aufeinander prallten, tauchte sie in
die Wolken ab. Doch diesen Trick kannte Kalessan. Als er hinter sich das Rauschen
hörte, drehte er sich blitzartig um und entblößte seine Fänge.
Die Drachin, die von unten aus den Wolken hervor kam, einen halben Looping flog,
um sich dann von oben überraschend auf ihren Gegner stürzen zu können,
hatte nicht erwartet, direkt in die Klauen ihres Feindes zu fallen. Die beiden
Kämpfer verkeilten sich kurz ineinander und versuchten, während des
freien Falls dem Gegner die Flügel so zu beschädigen, dass dieser
nicht mehr fliegen und am Boden zerschellen würde. Beide zogen sich schwere
Wunden zu, bevor sie sich voneinander trennten und wieder in den Wolken verschwanden.

Kalessan hatte mehrere tiefe Kratzer an seiner Unterseite und einige Bisswunden
am Hals davongetragen, seiner Gegnerin aber dafür ein paar Risse in der
linken Flügelmembran und eine tiefe Verletzung am Hinterbein beigebracht.
Doch für ihr Alter war dieses junge Ding erstaunlich erfahren im Kampf.
Kalessan hatte schon wesentlich älteren Drachen gegenüber gestanden,
die sich ungeschickter angestellt hatten und nicht so lange durchhielten wie
diese Drachin. Wirklich schade, dass er sie würde umbringen müssen…
Der Kampf tobte noch über eine Stunde lang, und Kalessan musste feststellen,
dass er zwar wesentlich stärker als sein junges Gegenüber war, jedoch
bei weitem nicht mehr so agil und schnell. Sein hohes Alter mochte ihm zwar
mehr Erfahrung und ausgeklügeltere Kampftaktiken beigebracht haben, doch
diese waren im Laufe der Jahre so weit eingestaubt, dass er in der jungen Drachin
einen nahezu ebenbürtigen Gegner hatte.

Die Schlacht hätte noch viel länger dauern können, doch Kalessan
deutete der Drachin bei einer günstigen Gelegenheit eine kurze Auszeit
an. Kurze Zeit später umkreisten sich die beiden wieder unter der Wolkendecke.
„Was ist, machst du etwa schon schlapp?“, bellte seine junge Gegnerin
mit einem teuflischen Grinsen im Gesicht, obwohl sie aus mehreren Wunden heftig
blutete.
„Ich gebe zu, ich bin wahrlich beeindruckt von deinen Fähigkeiten.
So einen guten Kampf hatte ich schon lange nicht mehr. Bevor wir weitermachen
möchte ich zumindest noch deinen Namen erfahren!“

„Lady Syrop, zu euren Diensten!“, sprach die Drachin und verneigte
sich spöttisch in der Luft vor ihrem Gegner.
„Syrop? DU hast all diese Drachentöter zu mir geschickt?“
Die junge Drachin lachte lauthals über die Kalessan offen ins Gesicht geschriebene
Verblüffung:
„Ja, das war ich. Da du noch am Leben bist, scheinen sie ihre Aufgabe
nicht sehr gut erfüllt zu haben…“

„Aber wozu? Ich habe dich vorher noch nie gesehen. Was habe ich dir getan?“
„Nun, gar nichts!“
„Und was willst du dann?“, fragte der ältere Drache, dessen
Verwunderung immer größer wurde.
„Was ich will? Aufmerksamkeit! Und die bekäme ich wohl kaum, wenn
ich junges Ding mal eben bei dir angeklopft hätte, nicht wahr?“

„Aufmerksamkeit? Das ist alles? Warum das?“
„Wenn du das bis jetzt noch nicht herausgefunden hast, dann können
wir diese Angelegenheit genauso gut beilegen, mein Liebster…“, antwortete
Syrop spöttisch.
Doch Kalessan hatte schon begriffen. Er war überrascht über die Vorgehensweise
der jungen Drachin, und er war noch viel mehr überrascht über den
Erfolg, den sie damit hatte. Doch es passte alles zusammen. Kalessan konnte
nicht umhin, sich selbst den Erfolg ihres Anliegens einzugestehen – nun
galt es, entsprechend zu reagieren.

„Dir ist klar, was du da willst?“, sagte er.
„Ja!“
„Dir ist außerdem klar, dass ich das schon seit einer Ewigkeit nicht
mehr getan habe?“
„Allerdings!“
„Dann lass es uns beenden!“

Syrop nickte zufrieden. Sie beide begannen, sich immer weiter in die Höhe
zu schrauben und dabei stetig einander zu umkreisen. Höher und höher
flogen sie, durch die Wolken hindurch und noch viel weiter, bis in obere Schichten,
wo die Luft schon sehr dünn war, sich dabei immer umkreisend, wie in einem
grotesken Tanz der Sonne entgegen.
Dort oben trennten sie sich dann voneinander und flogen auseinander, um sich
dann in angemessenem Abstand voneinander gegenüber zu positionieren und
ein paar Sekunden mit heftigen Flügelschlägen in der dünnen Luft
zu verharren.
„Bist du bereit dafür?“, fragte Kalessan die jüngere Drachin,
die vor Erschöpfung zitternd sich mühsam ihm gegenüber in der
Luft hielt, aber immer noch die Kraft hatte, keck zu antworten:

„Bist du es denn?“
Kalessan brüllte auf und warf sich vorwärts. Mit kräftigen Flügelschlägen
steuerte er auf sein Gegenüber zu. Syrop tat es ihm gleich, schrie auf
und brauste ebenfalls auf den viel größeren roten Drachen hin.
Die beiden näherten sich einander immer schneller und schneller. Keiner
drosselte seine Geschwindigkeit oder drehte gar ab, als sie auf Konfrontationskurs
gingen. Lediglich im letzten Moment glaubte Kalessan, eine Spur von Zweifel
in den Augen Syrops zu sehen, doch da war es bereits zu spät.

Die beiden Kolosse prallten in der Luft wuchtig aufeinander und beschrieben
eine bizarre Pirouette, als sie sich festhielten und umeinander drehten. Blitzartig
umwickelte der viel größere Kalessan Syrops Hals und Schwanz mit
den seinen, krallte sich an ihr fest, hielt ihre Flügel mit seinen Klauen
an den Seiten, sodass sie völlig umklammert war und legte seine eigenen
Schwingen an. In einer tödlichen Umarmung stürzten die beiden Drachen
sich immer noch drehend kopfüber den Wolken entgegen. Die gefangene Syrop
kreischte, riss Kalessans Unterleib mit ihren Klauen auf und biss sich in seinem
Hals fest, doch dieser hielt sie in seiner erbarmungslosen Umklammerung fest
und schien den Schmerz gar nicht zu spüren.
Immer und immer schneller werdend rauschten sie der Wolkendecke und damit dem
tödlichen Boden entgegen, unzertrennlich verbunden.
Und dann machte Kalessan etwas sehr unartiges…

Syrop brüllte auf.
In der Ekstase ihrer Vereinigung und ihres freien Falls stürzten die beiden
Drachen durch die Wolkendecke, immer weiter an Geschwindigkeit gewinnend.
Letztendlich durchbrachen sie auch die Wolken, und der Boden kam wie eine gigantische,
tödliche Fliegenklatsche rasend schnell auf sie zu.
Man könnte meinen, dass die beiden ewig in dieser Verbindung bis zu ihrem
Tod zu Boden hätten stürzen können, doch wenige Hundert Meter
über dem Wald, in den sie hineinzustürzen drohten, trennte sich Kalessan
von Syrop und breitete seine Schwingen weit aus, um den Sturzflug anzufangen.
Selbst unter Einsatz seiner Magie riss die ungeheure Wucht des plötzlichen
Luftwiderstandes ihm beinahe seine Flügel aus, und fast erschien es, dass
er doch noch als ein sehr großer, roter Fleck am Boden enden würde.
Doch kurz vor dem Aufprall bekam er noch seinen nötigen Aufwind und schwebte
in einer weiten Kurve wieder nach oben, wobei er einige Baumkronen mit seinen
Hinterklauen streifte. Danach vollzog er eine elegante Wendung in der Luft und
flog in Richtung Syrop.

Diese konnte den Sturzflug nicht so gut abfangen. Auch sie breitete ihre Schwingen
aus, ging in einen steilen Sinkflug und hoffte, kurz vor dem Aufprall abdrehen
zu können, doch der wenige Spielraum, den sie hatte, reichte nicht aus.
Die Drachin rauschte in die Baumkronen hinein, entwurzelte viele Bäume
und pflügte eine große Schneise in den Wald, als sie auf dem Boden
auftraf und mehrere Dutzend Meter weit rutschte, bevor sie zum Stillstand kam.
Kalessan zerdrückte noch viel mehr Bäume, als er neben der übel
zugerichteten Drachin landete, die sich beim Aufprall wahrscheinlich sämtliche
Knochen im Leib gebrochen hatte, aber immer noch am Leben war.
Die Bewunderung des älteren Drachen für sie kannte keine Grenzen,
als Syrop noch die Kraft fand, zu ihm aufzusehen und mit einem matten Lächeln
hervorzubringen:

„Das müssen wir unbedingt noch einmal machen!“

Wenige
Tage später…
Die Tournee war erfolgreich gewesen. Sämtliche von Karlmax Lesungen waren
ausverkauft, das Publikum jedes Mal sehr aufmerksam, gebannt von seinen Ausführungen
und der Applaus zum Ende jedes Auftritts immer wieder ohrenbetäubend. Karlmax
hatte zwar bei keiner der von ihm besuchten Städte das Gefühl, dass
die dortigen Menschen wirklich den Mut oder die Lust hatten, die von ihm vorgestellten
Thesen auch tatsächlich umzusetzen, aber das war er mittlerweile gewohnt.
Immerhin ließ sich damit ganz gut Geld verdienen.

Rita war ihm während seiner Tour wie immer eine großartige Unterstützung
gewesen, hatte Karlmax‘ ideologische Gegner immer wieder höflich
zurecht gewiesen (wobei „Mit verknoteten Armen und Beinen in einer dunklen
Gasse landen“ noch als höflich gewertet werden durfte) und ihm das
stressige Leben einer solchen Reise wesentlich einfacher gemacht.
Karlmax bereute es, die gute Beziehung, die sie in den letzten Wochen geführt
hatten, wieder ein wenig trüben zu müssen, als sie sich erneut der
Höhle von Kalessan näherten.

„Du Rita, ich fürchte, da gibt es etwas, was ich dir über diesen
Kalessan, der Ninnel betreut hat, erzählen muss…“, sprach er das
leidige Thema an.
„Er wird unseren Jungen doch auch gut behandelt haben!?“
„Ja, das hoffe ich… Nun, ich hätte es dir wahrscheinlich schon
früher sagen sollen, aber Kalessan ist nicht wirklich ein Mensch, sondern…
na ja, ein Drache. Bitte verzeih mir, dass ich dir das nicht schon früher
anvertraut habe, aber du hättest ihm unseren Jungen wohl kaum anvertraut,
wenn du das gewusst hättest…“

Schuldbewusst schaute Karlmax auf den Boden, während er auf Ritas Reaktion
wartete, darauf hoffend, nicht selbst mit verknoteten Armen und Beinen im Wald
zu landen.
„Ein Drache? Aber, das ist ja… perfekt!“, rief Rita aus, „Warum
hast du mir das nie erzählt? Einen besseren Beschützer für unser
Ninnilein als einen Drachen kann ich mir doch gar nicht vorstellen. Und wenn
er dann noch mit dir befreundet ist, wo liegt das Problem?“
„Nun, darin liegt das Problem! Ich war mir gar nicht mal sicher,
ob er Freunds genug war, diese Aufgabe überhaupt anzunehmen und durchzuführen…“,
antwortete Karlmax, der sich von Ritas überraschender Reaktion schnell
erholt hatte, „Ehrlich gesagt hoffe ich selbst, dass er unseren Jungen
gut behandelt hat.“

„Na und wenn nicht, dann bekommt er es eben mit mir zu tun, nicht wahr,
Schatz?“
Karlmax lächelte matt:
„Ja, Liebling…“
Zusammen betraten sie die Höhle.
Kalessan erwartete sie bereits, in der Mitte seiner Hauptwohnhöhle liegend.
Zu Karlmax‘ Erleichterung hatte er den Raum einer gründlichen Reinigung
unterzogen, denn sämtliche der stinkenden, gelben Pfützen waren mittlerweile
verschwunden. Der Raum sah recht ordentlich aus und roch auch so.

„Willkommen zurück!“, begrüßte sie der Drache mit
gemäßigter Stimme.
Rita machte große Augen.
„Ihr seid doch dieser Drache, der vor neun Jahren Rudis Stall zerstört
hat, oder irre ich mich?“
„Nein, keineswegs. Zu dieser Gelegenheit lernte ich auch… euren werten
Mann dort kennen.“

Kalessan lächelte Karlmax auf eine Weise an, die ihm überhaupt nicht
gefiel…
„Warum hast du mir eigentlich nie davon erzählt, dass du mit ihm
befreundet bist?“
Bei diesem Satz leuchteten Kalessans Augen gefährlich auf.
Karlmax wendete sich nur mühsam vom Anblick des Drachen ab und an seine
Frau:

„Hättest du mir geglaubt?“
„Ähm… nein, du hast Recht, Schatz.“, antwortete Rita lächelnd
und wendete sich ihrerseits wieder an den Drachen:
„Na gut, wo ist unser kleiner Junge denn?“
Kalessan begann auf eine Weise zu grinsen, die Karlmax kalte Schauer über
den Rücken laufen ließ. Dann deutete er nach oben.

Ninnel winkte ihnen aus einem an der Decke baumelnden, großen Vogelkäfig
fröhlich grinsend zu.
Ritas Lächeln gefror auf ihrem Gesicht.
„Warum hängt mein Sohn in einem Käfig von der Decke?“,
fragte sie tonlos.
„Oh, versteht mich nicht falsch, es ist nur zu seinem eigenen Schutz.
Ich mag vielleicht versprochen haben, dass ich eurem Sohn nichts antue, für
die liebe Syrop hier gilt das jedoch leider nicht…“, sagte Kalessan,
worauf sich hinter ihm etwas regte und der kleinere, aber immer noch imposante
Kopf der Drachin hinter seinem Rücken erschien.

„Holen sie diesen kleinen Quälgeist endlich ab?“, fragte sie,
während Kalessan den Käfig von seiner Kette löste, ihn auf den
Boden stellte und die Klappe öffnete.
Ninnel rannte sofort freudig kreischend auf seine Mutter zu und umarmte sie
stürmisch.
Karlmax sah sich immer noch sehr beansprucht darin, die gesamte Szenerie zu
begreifen.
Kalessan nahm ihm diese Bürde ab:

„Ich bin mir nicht sicher, ob ich dir danken oder dich verfluchen soll.
Einerseits hat dieser Winzling dort mir einige der stressigsten und peinlichsten
Wochen meines Lebens beschert, auf der anderen Seite hätte ich ohne ihn
diese nette, junge Dame hier“, er deutete kurz auf Syrop, „wahrscheinlich
nicht näher kennen gelernt. Ihm selbst geht es anscheinend recht gut, und
es ist ihm in meiner Gegenwart nichts schlimmes von… permanenter Dauer geschehen.
Nicht wahr, Ninnel?“
„Onkel Kalessan hat mich von einer Klippe geschubst, aber Tante Syrop
da drüben hat mich gerettet!“, rief der Junge fröhlich aus.
Rita und Karlmax starrten die beiden Drachen sprachlos an.
Kalessan grinste erneut.

„Ja, er hatte hier schon viel Spaß die letzten paar Wochen. Ich
bin mir sicher, dass er euch das noch alles erzählen wird. Euch beiden
schlage ich jetzt vor, dass ihr meine Höhle und meinen Wald sofort verlasst
und euch hier nicht mehr blicken lasst. Nächstes Mal bin ich für den
Jungen nämlich nicht mehr Beschützer, sondern Raubtier – alles
klar?“
Karlmax nickte – er hatte verstanden.

„Lass uns gehen, Rita!“, sagte er und entfernte sich langsam von
den beiden Drachen, während er seine Frau und seinen Sohn mit sich zog.
Ninnel winkte „Onkel Kalessan“ noch ein letztes Mal zu, dann verschwanden
die drei aus der Höhle.
Auf dem Heimweg erzählte Ninnel seinen geschockten Eltern alles über
weggezauberte Ritter, gefressene Jungfrauen, Kalessans Wäschen und viele,
bunte Drachen.

In der Höhle sahen sich die beiden Drachen an und atmeten erleichtert auf.
„Bin ich froh, dass dieser kleine Mistkerl endlich weg ist!“, sagte
Syrop, und lehnte sich an Kalessan an.
Der alte Drache seufzte:
„Glaube mir, du bist nicht halb so froh wie ich… nicht halb so froh…“
„War das denn wirklich nötig? Hättest du die drei nicht einfach
umbringen und die Sache vergessen können?“

Kalessan schüttelte den Kopf.
„Nein, dann hätte ich bei dieser Aufgabe doch noch im letzten Moment
versagt. Manchmal muss man halt etwas tun, was einem überhaupt nicht gefällt…
und wie gesagt, ohne diesen Quälgeist hätte ich dich wohl nicht kennen
gelernt, insofern hatte diese Sache ja doch etwas gutes.“
„Och, ich hätte mir schon etwas einfallen lassen, um deine Aufmerksamkeit
zu gewinnen, mein Lieber.“, schnurrte die junge Drachin.

„Was hättest du eigentlich getan, wenn einer dieser Drachentöter
es geschafft hätte, mich umzubringen?“
„Dann wärst du wohl kaum der würdige Partner für mich gewesen,
den ich mir gewünscht hatte.“
„Hm… Meinst du wirklich, dass Sex die Grundlage für eine gute Beziehung
sein kann?“, fragte Kalessan seine neue Partnerin.

„Wir sind Drachen, natürlich geht das… wie war es denn
bei deiner letzten Gefährtin?“
„Ich… weiß es nicht mehr… es ist schon so lange her… zu lange!“
„Und genau deswegen bin ich jetzt da.“, gurrte Syrop.
Kalessan lächelte.

„Aber mal was anderes: Wie sieht es eigentlich jetzt mit dir und dem Rat
aus?“, fragte sie.
„Erzähl mir nicht, dass du nur aus politischen Gründen eine
Beziehung mit mir eingegangen bist!“
„Vielleicht?“
Syrop grinste geheimnisvoll.
„Nun, ich habe gesagt, dass, wenn ich dich umbringe, dies mein letzter
Dienst für den Rat gewesen sein wird. Da ich dich nicht umgebracht habe
und dies in nächster Zeit auch nicht tun werde, heißt das wohl, dass
ich auch noch nicht ausgestiegen bin… Ich bin jedenfalls sehr gespannt, was
die sagen, wenn wir beide beim nächsten Treffen dort zusammen aufkreuzen.“,
sagte Kalessan.

„Und du meinst nicht, dass die etwas dagegen haben werden?“
„Natürlich! Sie werden sich mit allen Mitteln dagegen sträuben
– aber wer wird sich schon mit uns beiden anlegen wollen?“
Die beiden Drachen lachten lauthals auf, und irgendwo im Wald wunderte sich
ein einsamer Einsiedler, weil er diesen Laut noch nie aus der Höhle seines
Herren gehört hatte.
„Dabei fällt mir ein… ich habe ganz vergessen, Morki auf diesen
Dimensionsreisenden anzusprechen, den ich zu ihm geschickt habe. Was wohl aus
dem geworden ist?“

Dem
Fremden war es tatsächlich gelungen, sich aus den Klauen der schrecklichen
Furien zu befreien. Als er den Namen der letzten Furie vernommen hatte, musste
er vor Lachen laut aufschreien, denn einer der Freunde seiner Heimatwelt hatte
den gleichen, dämlichen Namen, was er persönlich recht lächerlich
fand. Dies war den Furien so peinlich gewesen, dass diese sich beschämt
ins Unterholz verkrochen.
So konnte der Reisende weiter ziehen, immer tiefer in die finsteren Sümpfe
des Schwarzen Todes hinein.
Hier, im Herzen des Sumpfes, war es noch dunkler als in seinen Ausläufern,
und der Fremde musste trotz seiner bereits an die Dunkelheit gewöhnten
Sicht sehr aufpassen, wohin er trat.
Es dauerte nicht mehr lange, bis er an seinem Zielort ankam. Die Bäume
lichteten sich zu einer großen Lichtung, die einen einigermaßen
festen Boden zu haben schien.

In ihrer Mitte lag der schwarze Drache. Er war kleiner als der große rote,
den der Fremde vorher getroffen hatte, aber immer noch unheimlich imposant.
Sein Blick war weniger aggressiv als der des roten Drachen, hatte aber eine
ebenso beunruhigende Intensität, die zusammen mit seinem düsteren
Aussehen und der finsteren Umgebung sehr beängstigend wirkte.
Als er sprach, dröhnte seine tiefe Stimme über die Lichtung hinweg:
„Da kommt man gerade nach Hause und bekommt schon Besuch. Was willst du,
Winzling?“
„Bist du Morkulebus, der Herr dieses Sumpfes?“

„Der bin ich – es gibt nicht gerade viele Drachen in diesem Sumpf,
Winzling!“
„Cool! Der große, rote Drache hat mir diese Botschaft gegeben, die
ich dir übergeben soll. Ich muss diese Welt retten, musst du wissen…“
Der schwarze Drache schien interessiert:
„Kalessan hat dir diese Nachricht mitgegeben? Zeig her!“
Der Reisende händigte dem Drachen die Botschaft aus und war dann sehr darauf
bedacht, wieder einen möglichst respektvollen Abstand zu ihm zu bekommen.

Morkulebus brach das Siegel der Botschaft und entrollte sie, so gut es mit seinen
großen Klauen eben ging. Dann überflog er den Inhalt der Schriftrolle
kurz und schnaubte.
„Was steht drin?“, fragte der Reisende gespannt.
Morkulebus funkelte ihn ausdruckslos an, grinste dann und winkte ihn zu sich,
um ihm die Botschaft zu geben.
Der Fremde war bis zum Äußersten gespannt. Endlich würde er
erfahren, was der große, rote Drache seinem schwarzen Kollegen mitgeteilt
hatte. Endlich würde er seine Bestimmung in dieser Welt mitgeteilt bekommen.

Er nahm die Schriftrolle von dem schwarzen Drachen entgegen und las sie sich
durch.
Die Mitteilung war recht kurz.
Sie lautete:

Von
Kalessan an Morki:
Guten Appetit!

Manchmal
sollte man nicht wirklich jeden Scheiß annehmen, der einem aufgetragen
wird…

Written by Der Doktor http://www.die-subkultur.net

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Drachenträne (Der Doktor)

Drachenträne

Sie kamen bei Nacht…

Sie stürmten ihr Haus…

Und sie nahmen sie mit…

Elyssa hatte gerade noch bei sich im Bett gelegen und friedlich geschlafen, als sich eine stinkende, dreckige Orkhand auf ihren Mund legte. Im nächsten Moment war sie geknebelt und ihr wurde ein Sack über den Kopf gestülpt. Dann wurde sie aus dem Bett gerissen und weggetragen. Sie zappelte mit den Beinen und versuchte den Knebel irgendwie los zu werden, doch alles war nutzlos. Sie konnte durch ihren Sack nur mehrere orkische Stimmen ausmachen, die sich in einer ihr unbekannten Sprache unterhielten, während sie durch die Nacht getragen wurde. Da es keinen Sinn hatte, weiter seine Kräfte damit zu vergeuden, sich zu wehren, dachte sie lieber über ihre Situation nach – denn sie wusste ziemlich genau, wer hinter ihrer Entführung steckte…

Es war nun ein halbes Jahr her, seitdem Saladrex gekommen war. Sie wusste noch genau, dass die Nacht vor seiner Ankunft eine bedrohliche Atmosphäre hatte. Die Hunde hatten verrückt gespielt und die ganze Nacht hindurch gebellt. Immer wenn sie zum Fenster ging, hatte sie ein Gefühl, als ob sie beobachtet werden würde. Und dann, am nächsten Morgen, stand er einfach so vor der Haustür: Ein schlanker, junger Mann, hoch gewachsen, mit kantigem Gesicht und braunem, kurzem Haar. Eigentlich war er ziemlich hübsch, doch in seinen Augen lag ein Funkeln und ständig umspielte ein angedeutetes Lächeln seine Lippen, was sie von Anfang an misstrauisch machte. Er hatte mit heller, aalglatter Stimme gesagt:

"Oh, äh, hier wohnt doch der Protektor dieses Landstrichs, Edmund Schneedolch, oder?"

"Euch auch einen guten Morgen! Ja, der wohnt hier."

Ihr Haus war das Einzige im Umkreis von 2 Meilen – der Mann konnte sich schlecht im Haus getäuscht haben.

"Wen soll ich melden?"

"Gut, mein Name ist Saladrex, ich möchte ihn sprechen!", war die relativ barsche Antwort.

Sie sah ihn erst einmal an und fragte sich, ob sie ihn ob seines rüden Verhaltens zurechtweisen sollte, ließ es aber dann und ging zu ihrem Vater in die Küche – der Mann war ihr irgendwie unheimlich…

"Vater? Da ist ein gewisser Saladrex vor unserem Haus. Er möchte dich sprechen."

Ihr Vater war nun schon in die Jahre gekommen, aber immer noch ein relativ kräftiger und stämmiger Kerl.

"Hm, Saladrex? Noch nie gehört, den Namen… Warte hier, ich werde mit ihm reden."

Edmund ging in Richtung Haustür. Danach konnte sie die beiden Männer miteinander reden hören – doch worüber sie genau sprachen, verstand sie nicht. Nach einer Weile kam ihr Vater mit einem Stirnrunzeln auf dem Gesicht zurück in die Küche.

"Und, was wollte er von dir?"

"Ein seltsamer Mensch… Er scheint hier neu zugezogen zu sein und wollte alles über die Ländereien und die Dörfer hier wissen. Besonders interessiert war er an meiner Position als Protektor. Er hat mich alles darüber gefragt: Was der Protektor zu tun hat, wann er gewählt wird, wie das mit den Steuern ist… Und dabei hat er mich dann die ganze Zeit ganz komisch angesehen. Irgendwie unheimlich, dieser Mann, findest du nicht?"

Sie nickte nur. Der Mann war ihr nicht unheimlich – sie hatte Angst vor ihm!

Ein paar Wochen später verschwanden dann die ersten Kinder aus Valyris, dem größten Dorf in der Umgebung. Besorgte Eltern kamen zu ihnen nach Hause und baten ihren Vater um Hilfe. Als Protektor war es schließlich seine Aufgabe, die Ländereien vor Räubern, Orks und sonstigen Übeln zu schützen. Trotz seines fortgeschrittenen Alters erledigte er seine Aufgabe immer noch auf eigene Faust und das nicht einmal schlecht. Er war nun schon seit 14 Jahren im Amt, da es noch nie ernsthafte Konkurrenten für diesen Posten gab. Das sollte sich in den nächsten Monaten jedoch ändern…

Ihr Vater zog also los, um die verschwundenen Kinder zu suchen, doch alles, was er herausfand, war, dass sie anscheinend von Orks verschleppt worden waren. Und obwohl er das gesamte Land zur Suche nach den Kindern mobilisierte, war das Versteck der Monster nicht auszumachen. Als man dann die Hoffnung schon fast aufgegeben hatte, kam Saladrex mit den verlorenen Kindern im Schlepptau nach Valyris. Und alle Kinder erzählten ungefähr dieselbe Geschichte: Dass sie von den Orks verschleppt und in ein geheimes Lager gebracht worden waren und dass sie in abgedunkelten Käfigen lange eingesperrt waren, bis sie schließlich eines Tages Kampfschreie im Lager der Orks hörten und sie dann von dem netten Saladrex gerettet wurden. Die Eltern der verlorenen Kinder waren natürlich allesamt überglücklich und bedankten sich viele Male bei Saladrex. Dies sollte sein erster Schlag gegen die Autorität ihres Vaters gewesen sein.

In den nächsten Wochen und Monaten gab es dann immer wieder Probleme mit Orks, Räubern, Monstern, Krankheiten und anderen Übeln, gegen die Elyssas Vater nichts, sondern anscheinend nur Saladrex etwas ausrichten konnte. So war es dann auch nicht verwunderlich, dass ihr Vater in der Gunst des Volkes immer mehr sank und Saladrex die folgenden Wahlen zum neuen Protektor haushoch gewann. Ihr Vater war besiegt. Doch, wie es so seine Art war, nahm er es auf die leichte Schulter und sagte: "Lass mal gut sein, Elyssa! Ich bin bereits alt und schwach – es wird Zeit, dass jemand anders diesen Job übernimmt." Sie dagegen nahm es überhaupt nicht auf die leichte Schulter. Saladrex hatte ihnen alles genommen: Geld, Arbeit, Freunde… Das einzige, was blieb war ihre Hoffnung, irgendwie neu anfangen zu können. Doch Saladrex schien noch nicht genug zu haben, wie ihre Entführung vermuten ließ – und sie war sich absolut sicher, dass Saladrex mit den Orks im Bunde stand.

"Wie lange wollt ihr mich denn noch hier im Nachthemd durch die Kälte tragen, ihr Drecksäcke? Und wäret ihr auch mal so freundlich, mir diese Kapuze ab zu nehmen?", fragte sie frierend. Die Orks gaben ihr keine Antwort. Entweder verstanden sie ihre Sprache nicht oder sie wollten ihr nicht antworten… Egal, es kam auf das Gleiche hinaus.

Nach einer kalten Ewigkeit, wie es ihr erschien, erzeugten die Schritte auf dem Boden plötzlich einen Hall. Sie hatten also irgendein großes Gebäude oder eine Höhle betreten. Es kam ihr auch vor, als wären sie durch eine unsichtbare Barriere geschritten und die kalte Luft der Nacht verwandelte sich in eine wohlige Wärme. Kurz darauf ging es eine Treppe hinunter, immer weiter abwärts. Elyssa fragte sich schon, ob dies die Treppe direkt in die Hölle sei, da ging es waagerecht weiter. Nach kurzer Zeit hielt der Ork, der sie trug, an. Die Kapuze wurde ihr abgenommen und sie wurde auf den Boden gestellt. Es war ein verdammt gutes Gefühl, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben und nicht die ganze Zeit auf einem schwankenden Orkrücken durch die Landschaft transportiert zu werden.

Sie stand nun in einer kleinen Zelle und die Orks machten sich gerade daran, den kleinen Raum zu verlassen und die vergitterte Tür, die ihn von dem Gang dahinter abtrennte, zu zu schließen. Bevor Elyssa etwas sagen konnte, waren sie außer Sicht. Na toll!, dachte sie sich und sah sich in ihrer Gefängniszelle um. Die einzige Einrichtung, die es hier gab, war eine kleine Pritsche und ein dreckiger, stinkender Nachttopf. Machen wir das Beste draus!

Sie legte sich hin – die Nacht war für sie schließlich sehr kurz gewesen – und schlief, trotz der mehr als ungemütlichen Pritsche, wieder ein. Sie wachte auf, als ein Ork ihre Zelle aufschloss. Sie kam schnell aus ihrem ungemütlichen Bett und stellte sich an die Wand. Der Ork betrachtete sie seltsam. Er hielt ein Tuch in der Hand – es war eine Augenbinde.

"Oh nein! Keine Augenbinden mehr! Hat Saladrex Angst, dass ich mich über seine lächerliche Gestalt lustig mache oder warum muss er mir unbedingt die Augen verbinden?", fragte sie trotzig.

"Saladrex hat befohlen und Befehl muss ausgeführt werden, ansonsten Saladrex böse. Nicht gut, wenn Saladrex böse sein, er dann schlimm Ding tun!", war die gebrochen gesprochene Antwort des Orks.

Sie hatte also Recht gehabt. Saladrex steckte hinter ihrer Entführung.

"Oh, was macht er denn Schlimmes? Läuft er rot an und schreit herum?", fragte sie schnippisch.

Der Ork lachte auf: "Haha! Guter Witz! Rot anlaufen! Haha!"

Elyssa verstand nicht, was daran so lustig war. Vielleicht laufen Orks nicht rot an?

Der Ork sprach weiter: "Nein, Meister hat befohlen! Du kriegen Augenbinde!"

Er kam auf sie zu und machte Anstalten, ihr die Augenbinde umzulegen, doch sie wehrte seinen Arm ab. Er schaute sie mit seinen Schweinsäuglein nur schief an – und schlug ihr dann ins Gesicht, so heftig, dass sie durch den Raum stolperte und auf ihre Pritsche fiel. Noch während sie benommen war, legte der Ork ihr schnell die Augenbinde um und zurrte sie fest. Dann zog er sie brutal hoch und zerrte sie aus ihrer Zelle hinaus und den Gang herunter. Nachdem sie um mehrere Kurven und durch mehrere Gänge oder Räume gegangen waren, sagte der Ork: "Achtung, Treppe!"

Dann nahm er sie dichter an seinen stinkenden Körper. Jeder Versuch, sich zu wehren, war vergeblich, der Griff des Orks war hart wie Stahl. Schritt für Schritt ging es also die Treppe hinunter. Die Stufen erschienen ihr unnatürlich groß und diese Treppe kam ihr fast genauso lang vor, wie die erste. Irgendwann müsste ich aber wirklich in der Hölle angekommen sein…

Aber auch diese Treppe hatte irgendwann ein Ende. Ihre Schritte erzeugten nun wieder einen Hall, sie befanden sich also in einer großen Halle. Eine Stimme ertönte: "Ah! Da ist die Kleine ja!"

Es war eindeutig Saladrex‘ Stimme. Sie klang jedoch irgendwie unwirklich und fern, wie in einem Traum. Dennoch hatte sie nichts von ihrer eigenen, ruhigen Schärfe eingebüßt.

"Sie ist verletzt!", sagte die Stimme.

Und der Ork neben ihr antwortete, noch während sie liefen: "Ich sie schlagen musste, Meister, sie nicht bereit, sich Augenbinde anlegen lassen und ihr befohlen hattet…"

"Ich weiß, welchen Befehl ich gegeben habe, und zwar, dass ihr unter keinen Umständen ein Leid zugefügt werden darf!", unterbrach ihn Saladrex wütend. Innerlich war sie schadenfroh. Jetzt hatte der rüde Ork ihn doch noch wütend gemacht! Ihr Peiniger ließ sie nun los.

"Aber nur wollten…", stammelte er.

Saladrex erwiderte nur: "Ich habe keinen Nutzen für Untergebene, die meine Befehle nicht befolgen!"

Irgend jemand holte tief und vor allem laut Luft. Dann gab es ein seltsames, rauschendes Geräusch, neben ihr ertönte der Schrei des Orks und ein Schwall extremer Hitze überkam sie. Elyssa schrie ebenfalls auf. So schnell, wie sie gekommen war, war die Hitze auch wieder weg.

"Entschuldige! Diese rohe und ungehobelte Behandlung ist nicht meine Absicht – jedenfalls noch nicht!", sagte die Stimme Saladrex‘ nun etwas freundlicher.

"Was…was soll das alles? Warum die Augenbinde? Warum überhaupt die ganze Folter für mich und meinen Vater, wir haben euch nichts getan!", sagte sie, langsam von Angst in Wut übergehend.

Saladrex lachte ein böses, kleines Lachen über ihre Eskapaden.

"Tut mir leid, Elyssa, aber das ist alles nötig! Jetzt gerade habe ich doch gefallen daran gefunden, deinen Vater ein wenig zu ärgern…", während er dies sagte, schien sich seine Stimme von einem Punkt rechts von ihr sich über ihren Kopf hinüber auf ihre linke Seite zu bewegen.

"Ihn ärgern? Ihr habt sein und damit auch mein ganzes Leben zerstört! Ihr findet das wohl witzig?", sie war völlig entrüstet.

"Irgendwie schon, ja! Aber er war natürlich auch mein Konkurrent – und nirgendwo steht geschrieben, dass man die Wahl zum Protektor nicht mit ein wenig…unkonventionellen Mitteln beeinflussen durfte…", seine Stimme wanderte nun um sie herum und schien immer woanders her zu kommen, was sie langsam zum Ausrasten brachte: "JETZT HÖRT AUF MIT DIESEN SPIELCHEN UND NEHMT MIR DIESE AUGENBINDE AB ODER ICH WERDE KEIN WORT MEHR MIT EUCH REDEN, KLAR?"

Ein seltsames Geräusch, eine Art Schnauben ertönte, dann wieder Saladrex‘ Stimme, diesmal wieder direkt vor ihr: "Nun gut, ich sehe schon, du meinst es ernst"

Die Augenbinde an ihrem Kopf knotete sich wie von selbst auf und fiel ab, so dass sie Saladrex erblickte.

Nun, Elyssa hatte in ihrem Leben noch nie zuvor einen Drachen gesehen, doch das gigantische Biest, dessen Schnauze sich nur wenige Zentimeter vor ihrem Gesicht befand und das sie mit großen, gelben Augen anstarrte, musste wohl einer sein.

Der Drache sagte: "Buh!", was seine Wirkung nicht verfehlte – Elyssa fiel in Ohnmacht.

Als sie wieder zu Bewusstsein kam, lag sie in einem Kreis aus roten Schuppen. Wie eine Mauer ragte der mit Stacheln besetzte Körper des Tieres um sie herum auf.

Oh Gott, der muss mindestens 30 Meter lang sein!, dachte sie. Auf seinem Kopf saßen zwei elegant nach hinten geschwungene Hörner und die beiden gelben Augen darunter schienen sie noch immer belustigt anzustarren. Als sie ihn so betrachtete, fiel ihr eine gewisse Ähnlichkeit mit seiner menschlichen Gestalt auf. Er war zwar in gewisser Weise schön, doch gleichzeitig auch gefährlich und zwielichtig.

Nach mehreren Minuten des Anstarrens unterbrach die schneidende Stimme des Drachen die Stille: "Ich finde das immer wieder faszinierend, wie mich die Menschen anstarren, wenn sie mich das erste Mal sehen… Meistens ist es jedoch auch das Letzte, was sie je sehen."

Er machte etwas, dass wohl ein Lächeln sein sollte.

Irgendwie schaffte sie es, sich zusammen zu raffen und zu sagen: "Was soll das alles hier? Ihr seid doch Saladrex oder?"

"Nein, ich bin sein Schoßtier!", erwiderte er sarkastisch, "Und was das alles hier soll, fragst du? Nun, ich will es dir erklären: Wenn ein Drache sich irgendwo niederlässt, nimmt er gleichzeitig Anspruch auf ein großes Gebiet rund um seinen Hort. Sicher wäre es in meiner wahren Gestalt sehr viel einfacher gewesen, dieses Gebiet für mich zu erobern, doch es hätte nur zu viel Aufmerksamkeit erregt, wenn auf einmal nicht mehr Edmund Schneedolch, sondern der Drache Saladrex die Ländereien hier beherrscht. Sofort hätte jeder gewusst: "Oh, im Schneedolch lauert ein garstiger Drachen!" Du weißt gar nicht, wie es nervt, ständig in Sorge zu sein, dass einem selbst nach kurzzeitigem Verlassen der Höhle die Hälfte des mühsam angesammelten Schatzes fehlt! Nun, die Methode, die ich angewandt habe, um Protektor zu werden, war viel unauffälliger – es bleibt nur der eklige Nachgeschmack, dass ich all diese Menschen "retten" musste… Aber ich habe ihnen ihr Leid ja auch zugefügt, das gleicht die ganze Sache auch wieder ein wenig aus. Nun, leider wird es sich nicht sehr lange vermeiden lassen, meine wahre Identität vor der Öffentlichkeit zu verbergen – aber dann können sie meinetwegen alle ankommen und sterben!", zum Schluss schien er bloß noch mit sich selbst zu sprechen. Seine Selbstliebe machte sie schon jetzt krank.

"Und wie wollt ihr das mit eurem Protektor-Job regeln?", fragte sie ihn, halb aus Neugier, halb, um ihn von sich abzulenken – wer so lange über sich selbst redet, kümmert sich nicht mehr um andere.

"Oh, natürlich werde ich hier nicht für alle Zeiten unbehelligt leben können, aber meine Höhle ist gut versteckt. Außerdem bekomme ich mit meiner "Arbeit" als Protektor, noch nebenbei ein wenig Gold für meinen Hort. Soweit habe ich da alles geklärt. Doch eine Sache ist noch zu erledigen… Dein Vater muss leider aus dem Weg geschafft werden! Es hat macht zwar Spaß, ihn zu quälen, doch er ärgert sich ja kaum, was mir den Spaß auch ein wenig lindert… Wie auch immer, er wird demnächst hier aufkreuzen, dafür habe ich gesorgt.", sagte er mit einem bedeutungsschwangeren Blick auf sie.

Entsetzen füllte sie. Er wollte mit ihrer Entführung Edmund hierher locken, um ihn dann umzubringen – und um wahrscheinlich hinterher mit ihr das Gleiche zu tun.

"Bitte… Bitte lasst meinen Vater leben! Er hat euch doch nie etwas getan und ich bin sicher, er würde euch auch nie etwas antun! Er hätte euch hier wahrscheinlich sogar in Frieden leben lassen, unbehelligt von der Außenwelt!", rief sie verzweifelt.

Saladrex lachte auf: "Ha, mir etwas antun! Weißt du, es ist mir egal, was dein Vater über mich denkt. Fakt ist: Er ist der Protektor dieses Landes und wir Drachen fügen uns niemals irgend einem menschlichen Herrscher, und wenn er noch so lieb und nett ist!"

"Dann…dann nehmt mich als eure Sklavin und verschont ihn, ich bitte euch…"

"Ich sagte nein und es bleibt dabei! Sobald er hier ankommt, weiß er über meine wahre Natur Bescheid und das kann ich nicht durchgehen lassen! Und wozu sollte ich eine Sklavin benötigen? Völlig nutzlos!", sagte er nun etwas ärgerlicher.

"Ich könnte…"

"HALT DIE KLAPPE!!!", brüllte er. Sie erkannte, dass es besser war, ihn nicht noch weiter zu provozieren. Das hätte wahrscheinlich ein böses Ende genommen.

Dann hörte sie Schritte. Als sie sich umdrehte, sah sie einen Ork die Treppe herunter kommen. Er blieb vor dem Drachen stehen, verbeugte sich und sagte: "Meister! Mensch in unsere Höhle eingedrungen, wie geplant ihr habt – einige von uns gegen ihn kämpfen."

"Sehr gut, doch werft ihm nicht zu viele entgegen, er soll doch bis hier durch kommen!"

"Ja, Meister!", der Ork verbeugte sich wieder, drehte sich um und ging fort.

Ihr Vater war also auf direktem Kurs ins Verderben… Mit den Orks wurde er spielend fertig, mit so einer Plage hatte er ja schon mehrmals zu tun. Ein Drache war da ein ganz anderes Problem.

"So, du wirst jetzt brav den Mund halten meine Süße, das ist eine Sache zwischen mir und deinem Vater!"

"Aber…"

"Ich sagte Mund halten!", er machte eine Bewegung mit seinen messerscharfen Klauen und sie verstummte.

Dann richtete er sich auf und deutete an eine Wand der riesigen Halle.

"Stell dich da hin!"

Wortlos folgte sie seiner Aufforderung. Erst jetzt fiel ihr auf, wie groß der Raum war: Von einem Ende zum anderen maß er mindestens 100 Meter und die Decke befand sich weit über ihrem Kopf. Wozu dieser Raum einmal gedient haben mochte? Es sah aber so aus, als wäre sämtliche Einrichtung schon vor Jahren entfernt worden. Im hinteren Teil des Raumes war ein riesiges Loch in der Wand. Vor dem Loch lag ein großer Berg aus Schätzen. Goldmünzen, Truhen, kostbar aussehende Schwerter, prunkvoll verzierte Bücher – sie wagte nicht, abzuschätzen, wie viel das alles wert sein mochte. Erst das erneute Geräusch von Schritten lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder auf die große Treppe.

Ihr Vater kam mit gezogenem, blutigem Schwert diese Treppe hinunter.

Als er den Drachen sah, erstarrte er in seiner Bewegung. Was er jetzt wohl denkt?, fragte sie sich. Dann fiel Edmunds Blick auf sie. Langsam und ohne den Blick von dem Drachen abzuwenden, bewegte er sich langsam in ihre Richtung und sagte: "Geht es dir gut Schatz?"

"Ich denke schon…", war ihre Antwort.

"Gut…", sagte er zu ihr, dann zu dem Drachen, "Saladrex, nehme ich an?"

"Versucht gar nicht erst, sie zu erreichen, das werde ich schon zu verhindern wissen.", antwortete Saladrex.

Ihr Vater blieb stehen.

Dann sagte er: "Hört mal, ich möchte keinen Ärger mit euch, ich möchte einfach nur meine Tochter zurück haben und in Frieden leben können, ist das denn zu viel verlangt?"

"In gewisser Weise schon, ja! Ich kann zwar verstehen, dass ihr euch nicht mit mir anlegen wollt, aber durch euer Eindringen hier habt ihr das leider zwangsläufig getan. Ihr versteht, dass ich euch nicht in der Weltgeschichte herumlaufen lassen kann, während ihr überall Drachentöter anheuert und fröhlich heraus posaunt, dass ich hier oben wohne?", war die Antwort des Drachen.

"Ich habe nicht vor, irgend jemandem zu erzählen, dass ihr hier haust, noch habe ich vor, eure Schätze zu stehlen, noch möchte ich euch töten, noch euch sonst irgendwie Schaden zufügen! Ich möchte nur Elyssa wieder haben!"

"Oh, ihr glaubt doch wohl selber nicht, dass ihr keine Hassgefühle für mich hegt! Ich habe euch alles genommen! Alles, außer eines: Euer kleines, erbärmliches Leben! Es liegt in Trümmern, es ist doch sowieso nicht mehr viel wert, oder?"

"Doch! Solange meine Tochter lebt, hat mein Leben noch einen Sinn! Sogar mein Tod hätte noch einen Sinn, wenn Elyssa dafür leben könnte. Also, stellt mit mir an, was ihr wollt, aber lasst sie frei, ich bitte euch!", die Stimme ihres Vaters blieb die ganze Zeit über erstaunlich ruhig – sie bewunderte ihn dafür.

Der Drache nahm eine Klaue hoch und rieb sich das Kinn.

"Hmm, nun gut, ich will euch noch eine Chance geben: Wir spielen ein kleines Spiel! Es geht um Alles oder Nichts. Wenn ihr gewinnt, dürft ihr gehen und eure Tochter darf euch begleiten – doch ich warne euch: Wenn ihr auch nur einem anderen Lebewesen von mir erzählt, seid ihr tote Menschen! Ich habe Wege und Mittel, dies heraus zu finden.

Solltet ihr verlieren, werdet ihr sterben – und eure Tochter hier wird euch folgen!"

"Was ist das für ein Spiel?", fragte Edmund misstrauisch.

"Kämpft gegen mich! Solltet ihr länger als 2 Minuten überleben, schenke ich euch eure Freiheit!", der Drache grinste.

Elyssa fuhr empört auf: "Das ist doch völlig unfair! Er hat überhaupt keine Chance gegen euch!"

"Elyssa, bitte! Misch dich da nicht ein!", sagte ihr Vater mit einem Seitenblick.

"Aber…"

"Ich sagte misch dich nicht ein!", unterbrach er sie mit Nachdruck und richtete sich wieder an Saladrex, "Ich gehe auf euer Angebot ein, aber nur unter einer Bedingung: Kein Feuer, keine Magie eurerseits! Eure körperlichen Waffen gegen mich und mein Schwert! Zwei Minuten! Keine Sekunde länger!"

Saladrex grinste. Dann öffnete er eine Klaue und schloss die Augen. Eine kleine Sanduhr erschien. Er stellte sie neben Elyssa ab.

"Du wirst unser Schiedsrichter sein, Süße! Wenn ich Los! sage, drehst du die Sanduhr um, wenn die Sanduhr abgelaufen ist, schreist du Stopp!, alles klar? Und wehe du schummelst!", richtete er sich an sie, wie an ein kleines Kind, dem man eine simple Aufgabe ganz langsam erklären musste.

"Vater…", setzte sie an, doch er unterbrach sie wieder: "Nein Elyssa, bitte, versuch nicht, mich davon abzubringen! Du weißt, dass es unsere einzige Chance ist! Und jetzt setz dich dort hinten hin, wo du sicher bist und spiele deine Rolle als Schiedsrichter! Es sind nur zwei Minuten…und vielleicht bin ich doch nicht so schwach, wie ich immer behaupte", sagte er mit einem Augenzwinkern. Dann wandte er sich dem Drachen zu, während sie aufstand und die Sanduhr mit sich nahm. Weiter hinten in der Höhle nahm sie Platz und stellte die Sanduhr vor sich auf den Boden.

Saladrex richtete sich auf und breitete seine Flügel aus – es schien, als würde er sich strecken. Dann faltete er sie wieder zusammen und sagte laut: "Los!"

Elyssa drehte die Sanduhr um und die winzigen Sandkörnchen begannen durch den Hals der Uhr zu rieseln.

Zuerst starrten sich die beiden konzentriert an, der gigantische Drache, der mit seiner Gestalt den Raum in der Breite fast ganz ausfüllte und der kleine Mann mit seinem treuen Schwert, dass wie eine Stecknadel im Vergleich zu seinem Gegner wirkte.

Plötzlich zuckte der lange Schwanz des Drachen vor, um Edmund von den Füßen zu fegen, doch Elyssas Vater sprang geschickt hoch, um sich danach gleich unter einem folgenden Klauenhieb zu ducken. Und schon folgte der nächste Hieb, dem er sich mit einer gewandten Drehung entzog. Dann kam der riesige Kopf des Ungeheuers herunter geschnellt, um ihn mit seinen riesigen Zähnen zu zerreißen. Edmund warf sich flach auf den Boden und kurz über ihm schnappte das riesige Gebiss zu. Bevor der Drache merkte, dass er ins Leere gebissen hatte, rollte sich ihr Vater unter dem gewaltigen Schädel hervor und richtete sich genau unter dem Drachen wieder auf. Einen weiteren Klauenhieb lenkte er mit seinem Schwert von sich ab, doch dessen Wucht riss ihn zu Boden. Den Sturz fing er mit einer Vorwärtsrolle ab und kam auf den Rücken zu liegen. Schnell richtete er sein Schwert auf und erdolchte damit den auf ihn herunter kommenden Fuß. Der Drache brüllte auf vor Schmerz und riss die Klaue wieder nach oben, was Edmund allerdings sein Schwert kostete. Der Drache zog sich abfällig das Schwert aus dem Fuß, während ihr Vater die Zeit nutzte, um Abstand zu gewinnen. Sie konnte ihn nun nicht mehr sehen, da die riesige Gestalt des Drachen die Sicht versperrte. In der Aufregung hatte sie ganz vergessen, auf die Sanduhr zu sehen. Der gesamte Sand war fast durchgerieselt.

"Vater, die Zeit ist gleich um!", rief sie.

Dass das ihren Vater das Leben kostete, sollte sie nie erfahren. Nach ihrem Ruf war Edmund kurz in seiner Konzentration unterbrochen und wollte zu Elyssa sehen, die durch den riesigen Drachen jedoch verdeckt war.

Er sollte sie nie wieder sehen.

Saladrex nutzte den winzigen Moment der Unachtsamkeit und hieb mit der verletzten Klaue nach Edmund. Er sprang zwar zurück, doch seine Reaktion kam einen Moment zu spät. Er wurde mitten im Sprung getroffen und zur Seite geschleudert. In der Luft drehte er eine bizarre Pirouette und blieb dann bäuchlings auf dem Boden liegen. Ein roter Teppich begann sich unter ihm auszubreiten.

Saladrex sagte lakonisch: "Ups!"

Elyssa rief: "Die Zeit ist um!"

Der Drache bewegte eine Klaue und drehte Edmunds Körper auf den Rücken. Er hatte ihm die gesamte Bauchdecke weggerissen. Doch der widerwärtige Anblick kümmerte ihn wenig. Viel mehr interessierte er sich für die immer noch offen Augen, die ihn ansahen. Blut lief Edmund aus dem Mund, doch irgendwie konnte er noch folgendes röchelnd hervorbringen: "ich…lebe…no…noch…"

Saladrex holte wütend Luft und spie einen weißglühenden Feuerstrahl, der Edmund zu Asche verbrannte.

Elyssa schrie auf und rannte auf den Drachen zu. Dieser sah seine verletzte Klaue an – es hingen noch immer ein paar von Edmunds Innereien daran. Er schüttelte sie achtlos ab und zog sich das Schwert heraus. Dann kam Elyssa an, sah die Überreste ihres Vaters und blieb fassungslos stehen. "Nein!", flüsterte sie. Tränen sammelten sich in ihren Augen.

Der Drache sah sie schief an und sagte: "Oh, tut mir leid für dich! Weißt du, er war gar kein so schlechter Kämpfer – der Kampf hat direkt Spaß gemacht!"

Die Trauer verwandelte sich in blinden Hass. Mit Tränen in den Augen begann sie auf den Fuß des Drachen einzuschlagen und einzutreten und schrie dabei: "Du verdammter Bastard! Scheißkerl! Mörder! MÖRDER!!!"

"Ach halt doch die Klappe, Winzling!", war seine wütende Antwort und er schlug mit der Rückhand nach ihr.

Der Schlag war so heftig, dass er sie mehrere Meter weit weg schleuderte, wo sie benommen vor Schmerzen liegen blieb. Der Drache erschien über ihr, mit einem Blick, in dem so viel Wut lag, dass er Eis hätte schmelzen können.

Gleich wird er mich töten, dachte sie und schloss die Augen.

Doch der tödliche Streich fiel nicht. Irgendwann öffnete sie ihre Augen wieder und sah einen sitzenden Drachen vor sich, der laut nachdachte.

"Hm…hm…ja…ja! Ja! Weißt du, ich habe dein Angebot noch einmal durchdacht – vielleicht brauche ich ja doch eine kleine Gehilfin… Du darfst meinetwegen als meine Sklavin weiterleben. Oder du kannst hier an Ort und Stelle sterben – die Todesart darfst du frei wählen. Deine Entscheidung: Leben? Oder Sterben?"

Sie richtete sich wieder auf. Der Schmerz war fast unerträglich, doch sie zwang sich zum Nachdenken.

Lieber würde ich sterben, als diesem Monster als Sklavin zu dienen! Doch andererseits… Vielleicht bietet sich mir irgendwann eine Möglichkeit zu entkommen? Ich würde es ihm heimzahlen! Ich würde die besten Drachentöter anheuern, die es gibt und dann würde ich ihn leiden lassen. 2 Minuten lang. Oh, es würden die längsten 2 Minuten seines Lebens sein!

Sie stellte sich vor, wie ihre Drachentöter Saladrex langsam folterten, wie sie ihm die ganze Zeit eine seiner bescheuerten Sanduhren vor die Nase hielt und wie sie ihm zum Schluss das Schwert ihres Vaters direkt in den Kopf rammen würde. Ein süßer Gedanke in dieser schrecklichen Situation.

"Wie lautet deine Entscheidung, Elyssa? Sklaverei oder Tod?", fragte er sie mit einem kalten, durchdringenden Blick.

Sie schaute auf den Boden.

"Ich stehe zu eurer Verfügung…Herr.", war ihre Antwort.

"Oh, eine weise Entscheidung, meine kleine Elyssa, wahrhaft weise! Nun gut! Erst einmal: Solltest du deine Arbeit schlecht machen, werde ich dich bestrafen. Solltest du versuchen zu fliehen, werde ich dich töten. Solltest du versuchen, mir Schaden zuzufügen, werde ich dich langsam töten – so langsam, dass es dir wie eine Ewigkeit vorkommen wird. Hast du das verstanden?"

"Ja, Herr!", antwortete sie demütig.

"Gut! Vielleicht werde ich dich ja irgendwann mal freilassen…vielleicht werde ich dich auch irgendwann töten…mal sehen. Noch Fragen?"

"Ja Herr! Was soll ich als eure Dienerin machen?"

"Hm…du könntest damit anfangen, den Dreck, den dein Vater hier verursacht hat, wegzuräumen.", sagte er mit bösem Unterton.

Die Worte trafen sie wie ein Peitschenschlag. Doch sie zwang sich dazu ein "Ja, Herr!", hervor zu pressen.

"Gut! Hol dir von den Orks irgendwas zum Saubermachen!"

Sie überlegte: Das ist meine Chance, ich könnte versuchen zu fliehen. Aber wie lange wird er benötigen, um herauszufinden, dass ich weg bin? Wie lange wird er brauchen, um mich zu finden? Nein, jetzt kann ich noch nicht fliehen. Also, spiele den braven Sklaven, Elyssa. Irgendwann kommst du hier raus und zahlst es ihm heim…irgendwann…

Kurze Zeit später stand sie wieder vor der Asche ihres Vaters. Unter der ständigen Aufsicht von Saladrex machte sie sich daran, mit einem Besen die Überreste Edmunds auf ein Tuch zu fegen und dachte dabei: Nicht nachdenken, Elyssa, nicht nachdenken! Er will dich nur quälen, wie er es mit deinem Vater getan hat… Und hat sich dein Vater davon beirren lassen? Nein, er hat gesagt: Solange es noch Hoffnung gibt, ist das Leben lebenswert. Sie wiederholte es immer wieder: Solange es noch Hoffnung gibt… Das gab ihr Kraft mit ihrer schrecklichen Arbeit fertig zu werden. Als sie fertig war, legte sie das Tuch zusammen und fragte den Drachen mit der ruhigsten Stimme, die sie sich aufzwingen konnte:

"Habt ihr noch weitere Aufgaben für mich, Herr?"

Ein Funkeln in seinen Augen verriet ihr, dass Saladrex leicht verärgert darüber zu sein schien, dass sie sich so ruhig gab. Doch er antwortete ihr mit der gleichen Ruhe: "Nein, das soll fürs erste einmal genug sein. Du bist ja sicherlich ganz fertig! Ich werde jetzt ausfliegen und dir ein wenig Kleidung und was zu essen besorgen – wir wollen ja nicht, dass du gleich eingehst, nicht wahr?"

Er wusste, wie hart er sie mit diesem väterlichen Gehabe traf. Doch sie hatte nicht vor, sich davon beeinflussen zu lassen, darum antwortete sie nur mit einem "Danke, Herr!"

Er warf ihr nochmals einen seltsamen Blick zu, drehte sich dann um, ging zu dem großen Loch in seiner Höhle, breitete die Flügel aus, stieß sich vom Rand ab und flog weg. Sie stand nun alleine in der großen Halle und nutzte die Zeit, um sich umzusehen. Zuerst ging sie zu dem großen Loch, aus dem eben noch Saladrex‘ mächtiger Körper verschwunden war. Die steinernen Ränder des Lochs waren glasiert, wie weggeschmolzen. Anscheinend hatte sich der Drache den Eingang zu seiner neuen Heimat in den Fels gebrannt. Vor ihr breiteten sich die Ländereien ihres Vaters aus. Ex-Ländereien, verbesserte sie sich in Gedanken. Saladrex‘ Höhle musste im Schneedolch liegen, dem einzigen und damit höchsten Berg in der Umgebung. Elyssa stammte aus dem Geschlecht der Schneedolche, welches nach dem Berg benannt war. Ob diese Familie mit mir ihr Ende finden wird?

Sie sah über den Rand der Klippe. Dahinter ging es relativ steil abwärts – für einen Menschen unmöglich, hier hoch zu kommen. Der Eingang zu dem Komplex über ihr musste weit oben liegen, so große Treppen, wie sie hierher überwunden hatte. Warum wusste niemand von dem Gewölbe in diesem Berg? So etwas ließ sich doch nicht so einfach übersehen… Vielleicht war der Eingang getarnt gewesen? Doch wie hatte dann ihr Vater her gefunden?

Sie ließ ihren Blick über die Landschaft schweifen und merkte, wie ihr die Tränen kamen. All dies stand einst unter dem Schutz ihres Vaters. Jetzt war es der Willkür eines roten Drachen ausgeliefert, der mit diesen Ländereien anstellen konnte, was er wollte… Und sie wollte sich nicht vorstellen, was Saladrex hier machen würde. Den Anwohnern in den zahlreichen Dörfern stand eine harte Zeit bevor. Und indem sie Saladrex gewählt hatten, brachten sie sich ihr eigenes Verderben…

Sie ließ alles raus. Sie schrie wütend auf und begann, an die Wand zu treten, immer und immer und immer wieder, bis sie ihren Fuß vor Schmerzen kaum mehr spüren konnte. Dann setzte sie sich auf den Boden, vergrub die Hände im Gesicht und weinte. Sie schluchzte und weinte all die Wut und die Trauer aus, die sich in den letzten Stunden angesammelt hatten. Sie weinte und schrie und wand sich auf dem Boden, bis sie keine Kraft mehr hatte und nur noch stumm auf der Seite lag und Tränen vergoss.

Sie wusste nicht, wie lange sie dort gelegen hatte, als sie die Flügelschläge ihres neuen Herren hörte. Schnell richtete sie sich auf, trocknete ihre Augen, so gut es ging und stellte sich neben den großen Eingang. Saladrex landete auf der Klippe und ging dann in seine Halle hinein.

Elyssa stand mit gesenktem Kopf da, um ihm nicht ihre geröteten Augen zu zeigen. Der Drache schien kurz zu schnuppern, sah sie abfällig an und warf ihr dann einen Beutel zu, den er in einer seiner Klauen getragen hatte.

"Hier, das dürfte alles sein, was du benötigst!"

Sie ging zu dem Beutel und sah hinein. Sein Inhalt war ein grünes, gar nicht mal so hässliches Kleid, ein Brot und ein paar Früchte. Doch damit waren noch nicht alle ihre Bedürfnisse gedeckt…

"Wo soll ich schlafen, Herr?"

Der Drache machte eine Geste, die bei einem Menschen wahrscheinlich ein Hochziehen der Augenbrauen hätte darstellen sollen.

"Du schläfst hier, bei mir!"

"Aber auf welchem Bett, Herr?"

"Auf welchem Bett? Was hast du denn für Ansprüche? Du wirst neben mir auf dem Boden schlafen! Oder ist dir das zu unangenehm?", fragte er mit Nachdruck.

Sie senkte den Kopf: "Nein, Herr."

"Gut! Du darfst dich dann hinlegen, ich habe für heute keine weiteren Aufgaben für dich."

Er legte sich vor seinen Schatzhaufen, rollte sich zusammen und legte seinen Kopf auf den Schwanz. Sie nahm sich die Nahrungsmittel, die er mitgebracht hatte und begann mit Heißhunger zu essen – schließlich hatte sie den ganzen Tag über nichts in den Magen bekommen. Die ganze Zeit über wurde sie dabei von dem Drachen beobachtet, für den es ein besonders faszinierender Anblick zu sein schien. Entweder hatte er noch nie einen Menschen essen sehen oder er dachte dabei seine eigene Ernährung, so wie er sie ansah. Schnell schüttelte sie den Gedanken ab und sah weg. Solange es keinen Grund gibt, wird er mich nicht töten. Und ich werde dafür sorgen, dass auch nie einen geben wird!

Nach einer Weile schloss der Drache seine Augen. Schon bald war er eingeschlafen. Elyssa überlegte, was sie jetzt tun sollte. Sollte sie vielleicht doch versuchen zu fliehen? Sie könnte bis ins nächste Dorf kommen und dort versuchen, sich zu verstecken… Nein, zu riskant! Sie konnte nicht riskieren, dass ihre Rache an Saladrex ausblieb. Ihre Seele würde keine Ruhe bekommen, sollte der Drache ihren Tod überleben.

Sie würde sich Zeit lassen.

Sie würde nicht überstürzt handeln.

Sie würde ihn töten.

Und sie würde sich von nichts und niemand davon abbringen lassen!

Doch das musste warten. Jetzt legte sie sich auf den harten Boden und versuchte zu schlafen. Sie wollte nicht zu nah an dem Drachen liegen und legte sich deswegen mitten in die Halle.

Es war kalt. Sie drehte sich auf dem Boden immer wieder hin und her, in verzweifelter Suche nach einer bequemeren Lage. Sie wusste nicht wie und sie wusste nicht wann, aber nach langer Zeit, wie es ihr schien, gelang es ihr dann, einzuschlafen.

Und die Zeit vergeht…

Die Arbeiten, die sie verrichten musste, waren unangenehm und eintönig. Sie musste die gesamte große Halle schrubben, Saladrex‘ wertvolle Schätze putzen, seine Schuppen reinigen oder ihn mit ihrer bloßen Anwesenheit unterhalten, was für sie am schlimmsten war, da sie meistens mehrere Stunden lang einfach nur dastehen musste, während der Drache sie einfach nur betrachtete. Elyssa war froh darüber, dass sie nicht wusste, was er dachte, während er sie ansah.

Meistens jedoch war er nicht in seiner Halle, sondern flog auf die Spitze des Berges, um seine Ländereien zu beobachten oder um zu jagen. Und immer, wenn sie alleine war oder von dem Drachen angestarrt wurde und keine Arbeit zu verrichten hatte, erging sie sich in ihren Plänen, den Drachen umzubringen. Sie ergötzte sich immer und immer wieder an dem Gedanken, ihm den Todesstoß zu geben.

Doch so ablehnend er sich ihr gegenüber auch verhielt, er kümmerte sich recht gut um sie. Er ließ sie regelmäßig an seiner Jagdausbeute teilhaben und versorgte sie mit allem, was sie benötigte, sei es Wasser, Kleidung oder gar ein wenig Heu, um ein provisorisches Bett zu erstellen. Das machte die Nächte zwar nicht sehr viel wärmer, aber zumindest ein wenig bequemer.

Sie hatte keine Ahnung, was er mit der Bevölkerung in den umliegenden Dörfern anstellte – sie wollte es auch nicht wissen. Es war sicherlich nicht sehr angenehm für die Menschen, die einst zufrieden unter der Aufsicht ihres Vaters leben konnten, bis Saladrex ankam.

Die Bestätigung für Saladrex‘ Schreckensherrschaft erhielt sie nach mehreren Monaten Sklavenschaft…

Es war wieder eine der Perioden, wo er sie nur anstarrte. Seine großen, gelben Augen schienen sie zu durchdringen, wenn sie ihn ansah. An diesen Blick hatte sie sich nun schon fast gewöhnt. Ich werde ihn vor seinem Tod auch nochmal eine Stunde lang nur anstarren, dann weiß er, wie ich mich die ganze Zeit gefühlt habe, sagte sie sich immer. Doch diesmal sah der Drache plötzlich auf. Ein paar Momente später kam einer der Orks, die ebenfalls in dem Bergkomplex wohnten, die große Treppe herunter.

"Ich hoffe, es gibt einen guten Grund, mich zu unterbrechen!", sagte Saladrex mit drohender Stimme.

"Es sind Menschen eingedrungen, Meister!"

Saladrex sah auf.

"Wirklich? Wie viele?", fragte er interessiert.

"So viele, wie Ork Finger an Hand hat.", antwortete der Ork. Es überraschte Elyssa, dass diese Kreaturen überhaupt zählen konnten, so dumm, wie sie sich sonst anstellten. Wahrscheinlich war der Ork ein Gelehrter in seinem Volk…

"Schick ihnen ein paar eurer Leute entgegen. Aber nicht zu viele, ich will, dass sie bis hierher durchkommen!", sagte Saladrex mit einem Grinsen. Das Gleiche hatte er vor Monaten – oder waren es Jahre gewesen? – gesagt, als ihr Vater in den Komplex kam. Elyssa schüttelte den Gedanken schnell ab.

Der Ork sagte nur "Ja, Meister!", drehte sich um und ging die Treppe wieder hoch.

Der Drache wandte sich wieder ihr zu: "Ha, das wird ein Spaß! Pass auf!"

Auf einmal begann er mit einem inneren Licht zu glühen und gleichzeitig zu schrumpfen. Wenige Sekunden später hatte er sich in seine menschliche Form verwandelt. Elyssa hatte schon fast vergessen, wie er als Mensch aussah, so lange war es schon her, dass sie ihn das letzte Mal so gesehen hatte.

Die Illusion war perfekt. Hätte sie nichts von seiner wahren Natur gewusst, hätte sie ihn für einen normalen Menschen gehalten. Einzig das Funkeln in seinen Augen verriet noch ein wenig über seine Absichten.

"Glotz nicht so! Du siehst mich schließlich nicht das erste Mal!", sagte er mit seiner alten, menschlichen Stimme, die immer noch eine gewisse Ähnlichkeit zu seiner Drachenstimme hatte. Dann drehte er sich um und hob die Hände. Eine Sekunde später erschien quasi aus dem Nichts ein solider Stahlkäfig mit eiserner Tür. Elyssa hatte das Gefühl, ihre Kinnlade würde auf den Boden fallen und ihre Augen aus dem Kopf springen.

"Wie…wie…", wollte sie ansetzten, wurde aber gleich unterbrochen: "Das ist eine Form der Magie, die ihr Menschen nie verstehen, geschweige denn beherrschen werdet, versuch also gar nicht erst, eine Erklärung zu bekommen!"

Er öffnete die Tür des Käfigs, die mit einem eisernen Schloss versehen war. Und lud sie mit einer Handbewegung ein, hinein zu steigen.

"Was…?"

"Frag nicht, sondern geh hinein!", sagte er in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. Sie leistete auch keinen Widerstand und stieg in das eiserne Gefängnis.

Saladrex folgte ihr, schloss die Tür hinter sich und ließ das Schloss klickend einrasten.

"So, es wäre besser für dich, wenn du jetzt die Klappe halten würdest!", sagte er mit einem übertrieben freundlichen Lächeln. Und schon war die Abenteurergruppe zu hören, die, sich fröhlich unterhaltend und laut polternd die Treppe herunter kam. Am Fuße der Treppe jedoch stoppten sie und starrten.

Es waren fünf Menschen, drei Männer, zwei Frauen. Ihnen offenbarte sich folgendes Bild: Eine riesige, lange Halle mit einem großen Loch am anderen Ende, das direkt ans Tageslicht führte. Mitten in der Halle lag ein riesiger Haufen aus Gold, Schätzen und Kostbarkeiten – und davor stand ein Käfig mit zwei Menschen drin, einer jungen Frau und einem hoch gewachsenen Mann.

Die fünf Menschen sahen alle recht unterschiedlich aus. Die eine Frau war relativ spärlich bekleidet, hatte nur einen langen Stab in der Hand und lange, schwarze Haare. Die andere Frau war nahezu das Gegenstück zu ihrer Partnerin: Kräftig gebaut, kurze Haare, Lederpanzer, Schild und Streitkolben… Die beiden hätten unterschiedlicher nicht sein können.

Bei den Männern waren die Unterschiede nicht ganz so auffällig. Einer von ihnen hatte eine auf Hochglanz polierte Plattenrüstung, einen Helm mit einem kleinen roten Federbüschel auf dem Kopf und war mit Schwert und Schild bewaffnet. Der zweite war nicht ganz so vernarbt im Gesicht, aber von hünenhafter Statur und hatte einen gigantischen Zweihänder in der Hand. Mit seinem langen Bart, in den viele kleine Zöpfe geflochten waren, sah er aus wie einer der Barbaren aus dem Norden. Der Dritte schien nicht ganz so kräftig. Er war in ein unauffälliges Schwarz gekleidet, hatte eine Kapuze auf, so dass man sein Gesicht nicht sehen konnte und war mit Pfeil und Bogen bewaffnet.

Die wenigen Abenteurergruppen, die Elyssa schon gesehen hatte, sahen fast alle genauso aus, wie diese hier… Doch das war immer in den Dörfern gewesen und nie in dunklen Gewölben, in der Gefangenschaft eines Drachen. Die fünf kamen jetzt schnell auf sie zu. Der Mann in der glänzenden Rüstung rief: "Schnell, Freunde, wir müssen sie aus diesem schrecklichen Gefängnis befreien, bevor der Drache wiederkommt!"

Als sie am Käfig angekommen waren, sagte Saladrex mit einer ängstlich-weinerlichen Stimme, die er übrigens perfekt imitieren konnte: "Beeilt euch, ich glaube der Drache kommt gleich wieder!"

"Wisst ihr, wo der Schlüssel zu diesem Käfig ist?", fragte die leicht bekleidete Frau.

"Nein, einer der Untergebenen des Drachen besitzt den Schlüssel. Gibt es vielleicht einen anderen Weg?"

"Tretet zur Seite!", das hatte der Kapuzenmann gesagt. Die anderen gaben das Schloss frei, während der Mann einen Dolch zog, sich vor das Schloss kniete und darin herum stocherte. Nach ein paar Sekunden klickte es und das Schloss sprang auf. Saladrex stieß das Tor auf und ging hinaus, wobei er Elyssa mit sich zog.

Der Ritter fragte: "Geht es euch gut?"

"Ich denke schon, ja!", war Saladrex‘ Antwort.

"In Ordnung, versucht so schnell wie möglich an die Oberfläche zu kommen, wir werden uns solange den Drachen vorknöpfen!"

Dann sagte der Barbar etwas: "Jungs, schaut euch nur diese Schätze an!"

Die vier anderen Mensch drehten sich zusammen um und gingen ein paar Schritte auf den großen Schatzhaufen zu.

Sie standen jetzt alle mit dem Rücken zu Saladrex und Elyssa. Der Drache drehte sich zu ihr um, lächelte, legte den Finger auf die Lippen und zwinkerte ihr zu. Dann ging er auf die muskulöse Frau zu, die ihm am nächsten stand.

Als er direkt hinter ihr war, legte er ihr schnell den einen Arm um den Mund, mit dem anderen Arm umschlang er ihre Brust.

Danach breitete er mit einer schrecklichen, eleganten Bewegung seine beiden Arme aus und riss ihr dabei den Kopf von den Schultern, wozu ein hässliches Geräusch ertönte.

Bei diesem Geräusch fuhren die anderen vier Abenteurer herum und sahen Saladrex, wie er mit ausgebreiteten, blutigen Armen und schief gelegtem Kopf dastand und sie anlächelte, während rechts und links neben ihm die enthauptete Leiche der Frau lag.

Der Barbar reagierte zuerst. Er schrie: "DU BASTARD!" und rannte mit weit über den Kopf gehobenem Zweihänder auf den Drachen zu. Saladrex bewegte sich keinen Zentimeter. Erst, als der Hüne bei ihm angekommen war und gerade zuschlug, klatschte er blitzschnell seine beiden Hände seitlich versetzt zusammen und brach die Spitze des Schwertes einfach ab. Der Hüne starrte nur ungläubig auf sein Schwert, doch Saladrex versetzte ihm mit der geballten Faust einen Hieb auf die Wange, der ihn Blut spuckend zu Boden warf. Dann stellte der Drache schnell seinen Fuß auf die Kehle des Hünen, da die anderen Abenteurer nun auch reagierten und sich ihm mit gezogenen Waffen näherten.

"Noch ein Schritt und ich muss ihm leider seine kleine Kehle zerquetschen!", sagte er fröhlich, während der Barbar röchelnd auf dem Boden lag.

"Was wollt ihr von uns? Was zur Hölle seid ihr eigentlich?", fragte der Ritter.

"Was ich bin, möchtet ihr wissen?", sagte er und grinste noch breiter.

Dann begann er wieder zu glühen und seine Gestalt veränderte sich. Sie wuchs und wuchs, bis wieder die gigantische Statur des Drachen den Raum ausfüllte. Die drei Abenteurer legten die Köpfe in den Nacken und staunten.

Saladrex hob den Fuß an – die rote Masse darunter war anscheinend mal der Oberkörper des Hünen gewesen.

"Oh, Verzeihung! Den hab ich ja ganz vergessen!", sagte Saladrex sarkastisch.

Elyssa betrachtete dies alles mit Entsetzen, doch erneut zwang sie sich, ruhig zu bleiben. Das Einzige, was sie damit erreichte, war, dass ihr schlecht wurde.

Sie sah nun, wie die andere Frau etwas murmelte, während der Ritter angespannt und mit dem Schwert auf den Drachen gerichtet, langsam zurück wich.

"Ihr wurdet also aus einem der Dörfer geschickt! Was dachtet ihr? Das ihr hier einfach rein spazieren und mal eben einen Drachen umbringen könnt?", sagte Saladrex mit einem wütenden Grollen, "Ich verbrenne euch zu Asche. Ich zermalme euch unter meinen Füßen. Ich verschlinge euch bei lebendigem Leibe. Ich lösche euer Lebenslicht mit einer Handbewegung aus – und ihr denkt, ihr könntet mich töten? Ihr seid wahrlich die naivste und dümmste Rasse die diese Welt je hervor gebracht hat! Ich frage mich, wie ihr es so weit bringen konntet!", donnerte die Stimme des Drachen durch die Halle. Dann schüttelte den Kopf, wie ein Vater, der seinen Sohn tadelt und spie einen Feuerstrahl in Richtung der Schatten rechts von ihm. In dem Licht konnte sie noch den vermummten Mann ausmachen, der dort mit Pfeil und Bogen stand und wahrscheinlich gerade auf Saladrex‘ Kopf zielte. Danach war da kein Mann mehr.

Als er sich den beiden übrig gebliebenen Menschen zuwandte, rief der Ritter: "Jetzt reicht es mir! Ihr werdet nicht weiter unschuldige Menschen umbringen, Biest! Ihr werdet hier und jetzt sterben!"

Der Drache lachte laut auf, so laut, dass der Boden zu erzittern schien.

"Ich habe den Großteil eurer Gruppe vernichtet, als wären sie Fliegen! Was wollt ihr jetzt noch gegen mich unternehmen? Mich mit dieser Nadel dort kitzeln? Ah, ich hab es! Ihr wollt mich mit eurer naiv-heroischen Art zu Tode amüsieren! Gewieft, gewieft, doch eure Rechnung geht nicht ganz auf, Ritterchen!"

Das machte den Menschen so wütend, dass er unter seiner Rüstung puterrot anlief und mit einem Kampfschrei und mit vor sich gerichtetem Schwert nach vorne stürmte. Der Drache nahm fing ihn einfach mit einer seiner Klauen ab und hob ihn hoch, während der Ritter nur wütend schrie, strampelte und mit dem Schwert nach den gepanzerten Schuppen des Drachen schlug. Dieser nahm die andere Klaue und schnippte ihm das Schwert einfach aus der Hand. Die junge Frau, die die ganze Zeit nur vor sich hin gemurmelt hatte, schrie nun "NEIN!" und streckte die Hände ruckartig von sich, auf den Drachen zeigend. Aus ihren Fingerspitzen schossen rote Energiekugeln, die Saladrex am gesamten Körper trafen. Der Drache sah an sich herab – kein einziger der Energiebälle hatte auch nur einen Kratzer hinterlassen.

"Ist das alles, Magierin?", fragte er ungläubig. Dann bewegte er sich auf die junge Frau zu und hielt die Klaue mit dem immer noch zappelnden und schreienden Ritter direkt über sie. Dann presste er seine Krallen zusammen und ließ einen blutigen Regen auf die Zauberin hinunterprasseln. Der Ritter starb mit einem unmenschlichem Gurgeln.

Elyssa wandte ihren Blick ab.

Die vor Blut triefende Magierin begann jetzt unartikuliert zu schreien und lief los, in Richtung Ausgang. Der Drachenschwanz zuckte blitzschnell hervor, wand sich um ihre Füße und riss sie zu Boden, direkt vor Elyssa.

Die Frau, sie musste genauso alt sein wie Elyssa selbst, sah zu ihr auf und flüsterte: "Hilf mir…bitte! Bitte hilf mir!"

Doch Elyssa neigte nur den Kopf nach unten und schloss die Augen.

Saladrex zog die Zauberin nun zurück und hob sie in die Luft. Dann ließ er seinen Schwanz mit aller Wucht auf den Boden peitschen.

Das abartige Geräusch, das es beim Aufprall gab, verdrehte Elyssa den Magen, doch sie unterdrückte den Brechreiz und hielt ihre Augen geschlossen.

Als sie ihren Körper wieder einigermaßen unter Kontrolle hatte, machte sie die Augen wieder auf. Ein Bild des Grauens offenbarte sich ihr: Überall war Blut, Blut und nochmals Blut – die Leichen der Abenteurer waren bis zur Unkenntlichkeit verunstaltet. Elyssa verlor die Kontrolle über sich selbst. Sie fiel auf die Knie, beugte sich vornüber und übergab sich auf den blutigen Boden der Halle.

"Dir ist klar, dass du das alles nachher wegräumen darfst?", sagte der Drache Nase rümpfend.

Elyssa sah sich nochmals um und sagte leise, mehr zu sich selbst: "Diese Boshaftigkeit… Diese sinnlose Boshaftigkeit…"

Saladrex hatte es trotzdem gehört.

"Boshaftigkeit? Du bist also der Meinung ich handele so, weil ich von Grund auf böse bin!? Weißt du was? Ich bin gar nicht der "Böse"! Diese fünf Menschen hier waren es, schließlich wollten sie mich umbringen!"

Wut kochte in ihr hoch. Wut über den Drachen. Wut über seine grausamen Taten. Wut über sich selbst. Sie schrie ihn an: "Aber sie hatten nie eine Chance gegen euch, ihr habt sie abgeschlachtet wie Tiere!"

Zuerst sah er sie nur ungläubig an. Dieser kleine Mensch wagte es doch, ihn anzuschreien! Dann lachte er und sagte mit schief gelegtem Kopf: "Sie waren ja auch die Bösen. Und die Bösen verdienen deiner Meinung nach doch auch immer einen schrecklichen Tod oder?"

Elyssas Wut war noch immer nicht abgebaut und sie schrie weiter: "Ihr terrorisiert die Bevölkerung hier, ihr schlachtet wehrlose Bürger ab, ihr bringt meinen Vater um und sagt dann noch, dass diese Taten gut sind? Seid ihr wahnsinnig?"

Jetzt legte Saladrex den Kopf in den Nacken und lachte so laut, dass die gesamte Höhle wirklich erbebte: "Ha! Du hast Mut, Winzling! Das gefällt mir! Noch nie zuvor hat jemand gewagt, mich so anzuschreien und überlebt."

Da wurde Elyssa bewusst, was sie gerade getan hatte. Sie neigte den Kopf und murmelte: "Vezeiht, Herr!"

"Oh, nein, jetzt fang nicht wieder mit diesem Rumgeschleime an! Das ist so langweilig! Wenn du so offen bist, wie du eben warst, gefällst du mir gleich viel besser. Das heißt jetzt aber bitte nicht, dass du mir ins Gesicht sagen kannst, was du willst!"

Sie konnte es kaum fassen. Indem sie ihre eigenen Gesetze gebrochen hatte, erlangte sie ein wenig Vertrauen von ihm. Er fuhr fort: "Was ich dir gerade versucht habe klar zu machen, war, dass die Handlungen, die ich ausführe, für mich natürlich "gut" sind, während alle, die mir etwas anhaben wollen, "böse" sind. Verstanden?"

"Ja, Herr."

"Und was will ich dir damit sagen? Überlege gut!"

Elyssa dachte nach.

Was sollte das sein? Eine Prüfung? Was würde er machen, wenn sie falsch antwortete?

Schließlich entschied sie sich zu einer Antwort: "Ihr wollt mir damit sagen, dass es kein Gut und kein Böse gibt. Es gibt nur verschiedene Ansichten einer Sache."

Der Drache sah ihr direkt in die Augen. Doch diesmal war es nicht das endlose Mustern der letzten Wochen, dieses Mal ging es tiefer. Es war, als suchte er etwas in ihrer Seele, einen Fleck, von dem nicht mal mehr sie etwas wusste. Sie war auch nicht in der Lage, wegzusehen. Sie klebte an seinem Blick, als ob ein magischer Bann diesen Kontakt aufrecht erhalten würde. Irgendwann sagte er dann: "Das war genau die richtige Antwort. Du bist gar nicht mal so dumm, Elyssa. Aus dir lässt sich noch etwas machen! Lassen wir diese Sklavenarbeit für dich. Du wirst zwar weiter hier bei mir bleiben, aber ich habe etwas anderes mit dir vor…"

Elyssa schluckte. Was sollte das? Was hatte er vor? Sie fragte ihn.

"Das wirst du schon sehen. Es wird auf jeden Fall besser werden, als dass, was du in der letzten Zeit für mich getan hast.", war seine Antwort, "Die Putzarbeiten können auch die Orks übernehmen."

Elyssa sah sich in dem blutigen Raum noch einmal um.

"War das alles nötig? Warum mussten sie alle so sinnlos sterben?"

"Sinnlos? Wieso sinnlos? Und wenn ihr Tod sinnlos war, was für einen Sinn hatte dann ihr Leben?"

"Auf keinen Fall war der Sinn ihres Lebens von einem vergnügungssüchtigen roten Drachen abgeschlachtet zu werden!", antwortete sie scharf.

"Woher willst du das wissen, Elyssa? Vielleicht war ja gerade das der Sinn?! Du kannst es nicht sagen, ich kann es nicht sagen, es ist so geschehen und dabei wird es auch bleiben. Und frage nicht mehr nach dem Sinn, du wirst ihn nämlich nie finden! Wir Drachen haben schon vor Jahrtausenden damit aufgehört. Auch wir sind damals immer wieder gegen die Mauer namens Philosophie gerannt, um den Sinn des Ganzen dahinter zu finden. Glaube mir, diese Mauer steht fest und unzerstörbar."

Saladrex hatte Recht. Es war geschehen und damit hatte es sich. Es würde keinen Sinn machen, nach dem Sinn zu fragen. Wenn sich intelligente Wesen schon seit Jahrtausenden mit dem Problem befassten und noch immer keine Antwort gefunden hatten, wie sollte sie da eine finden?

"Auf jeden Fall zieht diese Aktion nun Konsequenzen für die Bewohner einiger Dörfer hier mit sich. So etwas darf ich natürlich nicht ungestraft lassen!", fuhr er fort.

"Lasst die Dorfbewohner aus dem Spiel! Woher wollt ihr wissen, dass sie die Abenteurer angeheuert haben? Ich bitte euch, tötet nicht noch mehr unschuldige Menschen!"

"Unschuldig! Diese 5 hier waren es wohl kaum! Und nenne mir einen Dorfbewohner, der keinen Hass gegen mich empfindet!", antwortete er ihr.

"Wartet bitte ab! Sollten es wirklich die Dörfler hier gewesen sein, werden in ein paar Wochen oder Monaten noch weitere Abenteurer kommen. Sollte dies geschehen, habt ihr die Gewissheit, dass die Dorfbewohner es waren – wenn nicht, hat euch diese Gruppe hier zufällig gefunden!"

Elyssa sah Saladrex an und hoffte. Saladrex sah zurück und wog prüfend seinen Kopf hin und her. Dann sagte er mit väterlich tadelnder Stimme: "Die Antwort ist nicht ganz logisch, meine kleine Elyssa! Die fünf Menschen wussten von mir. Und sie wussten, dass ich hier im Berg wohne. Niemand besteigt einfach so ohne Grund einen Berg – obwohl, euch Menschen kann man ja alles zutrauen… Dennoch werde ich die Dorfbewohner nicht bestrafen. Das kostet nur Zeit und Energie! Und außerdem hast du Recht, sie werden bald weitere Abenteurer schicken…"

Den letzten Satz sagte er mit einem Unterton, der ihr sagte, dass das hier nicht das letzte Gemetzel gewesen war, was sie mit ansehen musste.

Er rieb sich mit seiner riesigen Hand das Kinn und sah sie weiterhin an. Es kam ihr vor, als wäre er in letzter Zeit nur am Nachdenken – am Nachdenken über sie!

Jetzt schien er Selbstgespräche zu führen: "Nein, das geht nicht hier, das muss ich woanders überdenken! Elyssa, mach das hier sauber, solange ich weg bin! Ja, ich weiß, dass ich gesagt habe, du müsstest das nicht mehr machen. Es wird auch das letzte Mal sein – glaube ich…"

So ganz in Gedanken versunken drehte er sich um, flog weg und ließ sie in der blutigen Halle alleine zurück.

Sein Verhalten war undurchsichtiger als ein dicker Nebelschleier. Vor ein paar Wochen sah es noch so aus, als würde er sie hassen und jetzt… Hegte er nun etwa Sympathien für sie? Oder hatte er etwas anderes mit ihr vor? Egal, was es war, es würde sie nicht von ihren Plänen abhalten…

Sie seufzte und machte sich an die Arbeit.

Und die Zeit vergeht…

Elyssa hatte sich nicht getäuscht. Saladrex verhielt sich besser zu ihr. Sie musste viel seltener anstrengende Arbeiten erledigen und wurde von ihm auch sonst besser behandelt. Er unterhielt sich auch öfters mit ihr – meist ging es um die Menschen, ihre Verhaltens- und Lebensweisen. Obwohl er Menschen anscheinend immer noch verabscheute, zeigte er sich doch sehr interessiert darüber, was diese in seinen Augen minderwertige Spezies antrieb, Städte zu bauen, Handel zu führen und mit einer derartig kurzen Lebensspanne glücklich leben zu können.

Elyssa wusste nicht, ob sie nur eine Informationsquelle für ihn und ebenso "minderwertig" war, wie der Rest der Menschheit oder ob sie für den Drachen etwas Besonderes darstellte.

Der Antwort auf diese Frage kam sie ein wenig näher, als Saladrex sie ein paar Tage später auf den Gipfel des Schneedolches flog. Sie hatte sich das Fliegen immer als wunderschön vorgestellt und als ein Gefühl absoluter Freiheit – es war kalt und unangenehm. Wäre Saladrex‘ Körper nicht so warm gewesen, wäre sie wahrscheinlich erfroren. Dass er einen normalen Menschen niemals auf sich hätte fliegen lassen, da war sie sich sicher. Irgend etwas unterschied sie also von den anderen…

Das wurde in den nächsten Tagen nur noch deutlicher. Nachts durfte sie jetzt sogar an ihn angelehnt schlafen. Für seine Körperwärme war sie angesichts der aufkommenden winterlichen Kälte nur dankbar.

Und dann begann er eine Art Unterricht mit ihr. Er nahm sie mit auf den Gipfel des Berges und in die umliegenden Wälder und schulte sie anhand von Konzentrationsübungen, ihre Sinne besser zu nutzen und ihre Umgebung deutlicher wahrzunehmen. Es war unglaublich: Sie sah, hörte und roch viel besser, als es vorher der Fall gewesen war.

Ebenso lehrte er sie den Umgang mit Pfeil und Bogen. Mit ihren neuen Sinnen brauchte sie nur wenige Monate, um so gut zu werden, wie ein Meisterschütze, der sein ganzes Leben lang trainiert hatte. Saladrex ließ sie sogar alleine in die Wälder auf Jagd gehen. Es wäre für sie die perfekte Gelegenheit gewesen, zu fliehen – doch sie tat es nicht.

Denn ihr Hassgefühl gegen den Drachen wurde mit der Zeit von wachsender Zuneigung zu ihm abgelöst, was in ihr einen Konflikt schaffte, der sie völlig verzweifeln ließ: Sollte sie Saladrex ob der Ermordung ihres Vaters hassen oder ihn wegen den phantastischen Fähigkeiten, die er sie lehrte, lieben?

Elyssa hatte noch in einem weiteren Punkt Recht gehabt: Es kamen immer wieder Abenteurer in Saladrex‘ Höhle. Und er tötete sie alle. Doch…Elyssa gewöhnte sich an die blutigen Gemetzel, die der Drache immer wieder unter den Abenteurern anstellte, was in ihr die Frage aufwarf: Verändert mich Saladrex so sehr, dass auch ich bald zu einem blutrünstigen Monster wie er werde?

Und diese Frage brachte sie auf eine Idee: Wenn er sie verändern konnte, warum sollte es nicht auch anders herum funktionieren? Sie beschloss, ihre Pläne für Saladrex zu ändern…

Eines Tages kam ein weiterer Drachentöter – einer von den Idioten, die sich an die berühmten Sagen hielten und versuchten, den Drachen alleine in einem heldenhaften Kampf umzubringen. Er hatte eine gold schimmernde Rüstung an und eine lange Lanze dabei. Er wäre wahrscheinlich schon an Saladrex‘ Orksippe gescheitert, hätte der Drache nicht den Befehl erteilt, sämtliche Abenteurer unverletzt zu ihm durchkommen zu lassen.

Er wird ihn in seiner eigenen Rüstung braten, war ihr Gedanke, als sie den Mann sah.

Sie hatte richtig gedacht. Saladrex holte wie immer vor dem Feuerspeien tief Luft und spuckte dem armen Mann dann die weiß glühende Flamme entgegen. Als das helle Licht verschwand, erwartete sie, nur noch ein Häufchen Asche zu sehen, doch der Mann stand immer noch da, als ob nur ein warmes Lüftchen ihn gestreift hätte. Er rief: "Ha, Wurm! So einfach werdet ihr mich nicht besiegen! Eure miesen Drachentricks werden eure schuppige Haut nicht beschützen können!"

Elyssa kam es vor, als hätte sie so etwas schon einmal gehört…richtig, alle Abenteurer ließen solche Sprüche ab – bevor sie starben.

Saladrex antwortete: "Oh, ihr seid einer von denen, die so magischen Krimskrams mit sich rumschleppen?", er seufzte, "Das verdient natürlich eine Sonderbehandlung!"

Sein Schwanz zuckte vor, um sich um die Füße des Mannes zu wickeln, doch dieser sprang schneller, als man es von ihm in dieser schweren Rüstung vermutet hätte, nach hinten, um dann sofort mit nach vorne gerichteter Lanze auf den Drachen zu zu stürmen. Kurz vor dem Aufprall warf er sich jedoch zur Seite – da, wo er in einer Sekunde gewesen wäre, prallten Saladrex‘ Kiefer aufeinander -, zog die Lanze über den Körper des Drachen und verursachte eine klaffende Wunde, aus der heißes, rotes Drachenblut quoll. Saladrex schrie auf – so etwas hatte ihm noch keiner der Abenteurer zugefügt. In seiner Wut hieb er nun nach dem Menschen und schleuderte seine Lanze beiseite, so dass dieser nun hilflos vor einem vor Zorn kochenden Drachen stand. Saladrex nahm den Mann in eine Klaue und hob ihn an.

Jetzt war der Zeitpunkt gekommen.

"Saladrex, wartet!", rief sie.

Der Kopf des Drachen fuhr herum und seine Augen funkelten sie wütend an. "Was?", sagte er knapp.

Die folgenden Worte hatte sie sich gut überlegt und lange vorbereitet: "Wisst ihr, was wahre Macht ist, Saladrex?"

Er schien verwirrt: "Was soll das? Worauf willst du hinaus?"

"Ich möchte, dass ihr diesen Menschen am Leben lasst!"

"WAS? Willst du, dass er das Werk, was er hier begonnen hat vollendet?", er deutete auf seine Wunde, "Und was hat das mit deiner Frage zu tun?"

"Ich will nicht, dass er euch tötet. Doch beantwortet mir meine Frage doch bitte!"

Saladrex sah sie zuerst mit zusammengekniffenen Augen an. Dann sagte er: "Macht ist, töten zu können. Macht ist, Leben nach Belieben nehmen zu können."

Es war genau die Antwort, die sie erwartet hatte.

"Gut, das mag Macht sein. Doch ist diese Macht nicht viel besser eingesetzt, wenn man keinen Gebrauch von ihr macht?"

"Wie meinst du das?"

"Wenn ihr diesen Menschen am Leben lasst, beweist ihr viel mehr Größe, als wenn ihr ihn töten würdet. Und nebenbei, ist es nicht viel lustiger, diesen Narren in aller Öffentlichkeit zu demütigen? Schließlich sollen die Leute sehen, was ihr machen könntet, dann haben sie viel mehr Angst vor euch!"

Saladrex sah sie schief an. Dann lachte er laut auf, stellte den Mann, der die Unterhaltung mit leichenblassem Gesicht verfolgt hatte, auf die Füße und sagte zu ihm: "Zieh dir die Rüstung aus oder ich vergesse den Ratschlag dieser jungen Lady hier ganz schnell!"

Der Mann tat, wie der Drache ihm gesagt hatte und stand dann in normalen Ledersachen zitternd vor Saladrex, zahlreiche Rüstungsteile um sich herum liegend.

Dann spie der Drache Feuer. Der Mann hatte nicht einmal mehr Zeit zum Schreien gehabt.

Elyssa senkte den Blick – es hatte also keinen Sinn…

Als die Flamme aus Saladrex‘ Maul vergangen war stand der Mann aber immer noch da – splitternackt, zitternd und noch bleicher als zuvor! Und Saladrex lachte sich halb tot.

"Ha! Das wird lustig, Elyssa!", mit diesen Worten schnappte er sich den nackten Mann und flog aus seiner Höhle hinaus.

Nach einer Weile kam er wieder, lachend und kichernd wie ein kleines Mädchen.

"Eine großartige Idee, Elyssa! Ich hab den Typen auf dem Marktplatz von Valyris ausgesetzt, so nackt wie er war. Wie die Leute geglotzt haben!"

Sie lächelte ihn an. Und er lächelte zurück.

Ein paar Tage später durfte sie das erste Mal alleine nach Valyris gehen. Es musste jetzt zwei Jahre her sein, seit sie das letzte Mal in einer größeren Menschenansammlung gestanden hatte. Doch das war ein anderes Leben gewesen… Jetzt stand sie mitten auf dem großen Marktplatz und ließ die Gerüche, die Geräusche und die regen Wortwechsel zwischen Händlern und Kunden auf sich einströmen. Doch wie sie sich die Waren auf den Ständen der Händler ansah, so bemerkte sie auch Gespräche hinter ihrem Rücken: "Dieses Mädchen hier hab ich noch nie gesehen!", "Wer ist sie?", "Wo kommt sie her?", "Du, dieses Mädchen ist mir irgendwie unheimlich…"

So, wie sie einst Saladrex‘ Menschengestalt als unheimlich empfunden hatte?

Auf einmal ertönte neben ihr ein Schrei. Als sie den Kopf drehte, entdeckte sie den Mann, den Saladrex verschont hatte. Auf dem gesamten Marktplatz kehrte Ruhe ein. Alle sahen auf den Mann.

"Sie da! Dieses Mädchen da ist die, von der ich euch erzählt habe! Sie steht mit dem Drachen im Bunde, diese Hexe!", schrie er und deutete mit dem Finger auf sie.

Nun waren alle Blicke auf Elyssa gerichtet – und nur wenige von ihnen ließen Gutes ahnen.

Ein Gemurmel setzte in der Menge ein, welches hauptsächlich aus Worten wie "Hexe!" und "Verräterin!" bestand. Diese Leute hatten sie noch nie vorher gesehen, was stachelte sie an, so über sie zu denken?

Der Mann schrie weiter: "Ich sage: Lasst uns sie umbringen! Lasst uns Rache üben an dem Drachen, der uns schon so lange terrorisiert!"

Das Gemurmel wurde lauter. Einige Leute schrien "Verbrennt sie!" und "Tötet sie!".

Kalte Angst kroch Elyssas Nacken hoch. Diese Leute würden sie umbringen, wenn sie nur wütend genug waren, daran bestand kein Zweifel – und die Wut der Menge kochte langsam über.

Verzweifelt sah sie den Mann an und rief: "Aber ich habe euch das Leben gerettet!"

Der Mann kam näher und blickte ihr mit hasserfüllten Augen ins Gesicht. Dann sagte er: "Vor allem habt ihr mir eine Schande fürs Leben bereitet!"

Und er packte sie, stieß sie zu Boden und zog ein Messer. Doch auf einmal kehrte Ruhe auf dem Platz ein. Ein großer Schatten legte sich über den Mann. Eine Stimme ertönte: "So gehst du also mit meiner Gnade um, Menschlein?"

Die Hand des Mannes begann zu zittern. Er ließ das Messer fallen und drehte sich langsam um. Hinter ihm stand Saladrex hoch aufgerichtet wie ein Turm und mit einer Wut in den Augen, wie sie es wirklich noch nie gesehen hatte. Sein Zorn schien beinahe Substanz zu gewinnen und die Luft wurde so dick, dass es schwer fiel, sie zu atmen.

Saladrex‘ Zorn brauchte ein Ventil.

Und er fand es in dem Drachentöter.

Saladrex brüllte auf, packte ihn mit beiden Klauen und zerriss ihn. Er zerfetzte ihn regelrecht und zerstreute seine Einzelteile über die nun in Panik ausbrechende Menge. Als es nichts mehr von dem Mann gab, was groß genug zum Zerfetzen war, fiel sein Blick auf Elyssa. Er senkte seinen Hals.

"Steig auf!"

"Saladrex…"

"STEIG AUF HABE ICH GESAGT!"

Sie setzte sich auf seinen Nacken und hielt sich an seinen beiden Hörnern fest. Mit einem kräftigen Stoß hob der Drache von der Erde ab und flog weg. Elyssa drehte sich um und sah, wie einige der Bürger auf dem Marktplatz standen und ihnen nachsahen.

Als das Dorf außer Sichtweite war und sich nur noch grüner Wald unter ihnen erstreckte, wollte sie "Danke!" sagen, doch der Drache drehte auf einmal um und glitt dicht über die Baumkronen hinweg in die Richtung aus der sie kamen. Elyssa erkannte, was er vor hatte.

"Saladrex, bitte nicht!"

"Halt die Klappe!", war seine barsche Antwort.

Die Dörfler sahen ihn erst, als er schon auf dem Marktplatz landete und einen Teil der Menge unter sich begrub. Und dann verfiel Saladrex in eine blutige Raserei, gegen die seine Gewalttaten von vorher verblassten wie eine Kerze angesichts einer Supernova.

Er hieb mit den Klauen nach rechts und links, sein Schwanz zuckte hin und her und sein Flammenodem fegte durch die Straßen. Menschen wurden zerrissen, zertrümmert, verbrannt, zertrampelt, zerquetscht. Und Elyssa saß auf dem Drachen, wie eine Reiterin auf einem gigantischen Ross und sah alles mit an.

Dabei gelangte sie zu folgender Erkenntnis: Du kannst einen Drachen nicht verändern, Elyssa!

Zum Schluss war das Dorf nur noch eine Ruine aus Blut, Eingeweiden und Asche gewesen – das größte Dorf im Umkreis, binnen weniger Minuten dem Erdboden gleich gemacht.

Sie waren zu seiner Höhle zurück gekehrt. Saladrex Raserei hatte sich gelegt. Sie sahen sich lange und traurig in die Augen. Saladrex sprach als erster: "Da war ein Fehler in deiner Aussage letztens: Die Menschen sind zu dumm, um zu sehen, was ich machen könnte! Sie sehen nur das, was ich tue!"

Sie schwieg – denn er hatte Recht.

Er fuhr fort: "Du hast mir in den letzten zwei Jahren gut gedient. Ich schenke dir hiermit deine Freiheit. Verlasse mein Reich und lebe wo und wie es dir gefällt. Solltest du danach je die Grenzen meines Reiches wieder überschreiten, werde ich dich töten!"

Elyssa stand da und sah ihn weiterhin an.

"Warum?", fragte sie ihn wispernd. Ein Warum, dass für alles galt, was er in den letzten zwei Jahren mit ihr getan hatte, nicht nur für das, was er gerade gesagt hatte. Die ultimative Frage, auf die es keine Antwort gab…

"Geh!"

Sie ging.

Und die Zeit vergeht…

Nachdem sie gegangen war, merkte sie, wie ihr Tränen in die Augen stiegen. 2 Jahre lang war sie die Sklavin des Drachen gewesen, der ihren Vater getötet hatte. Jetzt hatte er sie frei gelassen und sie weinte! Warum hatte er sie so plötzlich entlassen?

Nachdem sie die Ländereien, die um den Schneedolch lagen, verlassen hatte, streifte sie immer noch lange durch die Wälder und hielt sich mit dem Jagen über Wasser. Saladrex hatte ihr noch ein wenig Gold und ihren Bogen zukommen lassen. Ansonsten wäre sie in der Wildnis wahrscheinlich gestorben. Von Menschensiedlungen hielt sie sich fern. Die Kunde, dass ein junges Mädchen das Drachen beherrschte, auf ihnen ritt und die Länder terrorisierte, hatte sich bereits weit verbreitet und fremde Mädchen, die alleine durch die umliegenden Wälder streiften wurden sehr misstrauisch beobachtet.

In ihr war eine schwarze, unendlich große Leere. Sie war von Menschen und Drachen verstoßen worden und wusste nicht, an wen sie sich wenden sollte. Um ihrem Leben wenigstens einen kleinen Sinn zu geben, beschloss sie, einen Plan zu Ende zu führen, den sie schon vor langer Zeit geschmiedet hatte…

An ein Schwert zu kommen, war kein großes Problem. Die Schmiede verhielt sich zwar ebenso abweisend wie alle anderen, doch wenn man mit klingender Münze zahlte, machten sie keine großen Aufstände.

Mit Schwert und Bogen machte sie sich auf den Weg…

"Du bist zurück gekommen.", sagte Saladrex, als sie mit gezücktem Schwert seine Halle betrat. "Warum? Um mich zu töten? Oder um meine Entscheidung, mich von dir zu trennen, rückgängig zu machen? Weißt du, kurz vor unserer Trennung hattest du eine sehr richtige Erkenntnis: Man kann Drachen nicht verändern! Denkst du, du kannst meine Entscheidung jetzt noch verändern?", sagte er.

Sie blieb stehen. Sie hatte diesen Gedanken damals nicht laut ausgesprochen… Woher wusste er davon?

"Woher ich davon weiß, fragst du dich? Oh, ich weiß noch viel mehr, Elyssa…"

Es traf sie wie der Schlag. Eine weitere Erkenntnis bildete sich in ihrem Kopf wie eine dunkle Gewitterwolke, die langsam heranzieht. Sie dachte: Ihr könnt meine Gedanken lesen?

Saladrex nickte.

"Dann wisst ihr also auch…", begann sie, wurde aber von Saladrex unterbrochen: "Ja, seitdem du das erste Mal den Gedanken gefasst hast, mich zu töten, weiß ich davon, Elyssa. Und ich habe alle deine lüsternen Visionen, die meinen Tod betrafen, mit angesehen… Warum ich dich nicht gleich getötet habe? Du stelltest keine Bedrohung für mich dar! Außerdem verzehrtest du dich so sehr in deinem Hass auf mich, dass ich ein Experiment wagen wollte: Ich wollte versuchen, dir diesen Hass auszutreiben. Zunächst habe ich dich noch mehr provoziert, den Hass gegen mich geschürt. Doch dann wollte ich versuchen, dich umzustimmen, dir deinen Hass auf mich zu nehmen. Nun, es ist mir gelungen… Doch ich konnte nicht wissen, dass es so weit kommen würde…"

Das war es? DAS war der Grund seiner Nettigkeit gewesen? Tränen stiegen ihr in die Augen.

Die ganze Zeit über hatte sich etwas in ihr geregt, etwas, was sie zunächst nicht wahr haben wollte, etwas, was sie nicht glauben konnte. Etwas, was unmöglich war. Sie sprach es aus: "Ich…ich liebe euch, Saladrex!"

Stille. Er sah sie mit seinen gelben Drachenaugen lange an. Dann sagte er: "Mir ging es genauso, Elyssa! Mit der Zeit habe auch ich gelernt, dich zu lieben. Ich konnte es nicht fassen, auch ich hielt es nicht für möglich. Doch es ist geschehen. Und es ist nicht gut für uns beide! Wir können nicht zusammen leben, Elyssa!"

Wie Bäche rannen die Tränen nun über ihr Gesicht.

"Warum?", wieder stellte sie die Frage.

"Ich habe ein ganzes Dorf aus Liebe zu dir vernichtet Elyssa! Ich will deine Liebe nicht mehr! Und ich will dich nicht mehr lieben! Denn ich bin ein Drache und du bist ein Mensch. Wir passen nicht zusammen. Deshalb bitte ich dich: Geh! Geh, lebe dein eigenes Leben und mach es nicht nur noch schlimmer, Elyssa!"

Diese Worte trafen sie härter als alles, was er ihr je angetan hatte. Härter als der Tod ihres Vaters. Härter als ihr erster Abschied von ihm. Denn dieses Mal war sie sich ihrer Liebe zu ihm voll bewusst. Und er ebenfalls…

"Aber…ich kann so nicht leben!", schluchzte sie.

"Bitte…geh! Zwing mich nicht, dich zu zwingen!", sagte er traurig.

Sie schüttelte den Kopf, weinend und schluchzend.

"Nein!"

Dann nahm sie ihr Schwert, richtete seine Spitze auf ihre Brust und ließ sich vornüber fallen.

Das Letzte was sie sah, war der Schmerz in Saladrex‘ gelben Augen, als sie starb.

Saladrex stand fassungslos über der Leiche seiner Geliebten. Das Menschen zu so etwas fähig waren hatte er nicht gewusst – sich für die Liebe umzubringen… Er stand einfach nur da.

Minuten.

Stunden.

Eine große, glänzende Träne rann sein schuppiges Gesicht herab.

Er tat etwas, was schon seit Tausenden von Jahren kein roter Drache getan hatte: Er weinte.

Alchimisten, Magier, Könige, Fürsten, Händler und viele andere Menschen hätten sich für ein derartig seltenes magisches Utensil gegenseitig umgebracht.

Kriege und Schlimmeres wären um einen solchen Schatz geführt worden.

Die Träne fiel auf den Boden und zerplatzte.

Der alte, rote Drache weinte.

Denn er suchte nach dem Sinn.

Es gab keinen Sinn!

Written by Der Doktor

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Das Prettschett (Der Doktor)

Das Prettschett

Oder: Die durchaus erträgliche Leichtigkeit des Seins

Oder: Jäger des verlorenen Prettschetts

Oder: Drachen sind auch nur Menschen

Oder: Das drachige Dekadent

Oder…okay okay, ich fang ja schon an.

Es ist allgemein bekannt, dass Drachen einen schrecklichen Mundgeruch haben.

Doch…woher ist es bekannt?

Die allermeisten Menschen, die den Mundgeruch der Drachen aus nächster Nähe erleben konnten, durften danach sogar sein Innenleben betrachten – vorausgesetzt, sie hatten eine Lampe dabei. Außerdem beschränkte sich diese Betrachtung nur auf einen geringen Teil des Verdauungstraktes.

Der Rest der Menschheit konnte ja nicht wissen, ob Drachen beispielsweise explizite Zahnpflege betrieben – denen kann man ja schließlich alles zutrauen…

Also, warum konnten die Menschen so sicher sein?

Diejenigen, die eine Begegnung der draconischen Art überlebt hatten, reichten kaum aus, um diese Information über den gesamten Globus zu verbreiten – und außerdem, wer spricht schon über den Mundgeruch eines Drachen?

Fakt ist, das Wissen um diese Information war fest in den Köpfen der Menschen verankert.

Fakt ist, Drachen haben einen schrecklichen Mundgeruch.

Und das wirft die nächste Frage auf: Was war zuerst da? Der Mundgeruch oder das Wissen darum?

Und das wirft die Frage auf: Formt die Realität das Wissen oder formt das Wissen die Realität?

Smahug kümmerte sich nicht um solche pseudo-philosophischen Fragen.

Er wartete.

Sein golden geschuppter Körper räkelte sich auf dem hoch gelegenen Plateau des Versammlungsplatzes und glitzerte dabei im Licht der ersten Sonnenstrahlen.

Unvorsichtige hätten ihn für einen gigantischen Schatzhaufen halten können – sie hätten sehr bald herausgefunden, dass die allerwenigsten Schatzhaufen große, grüne Augen haben…

Und einen riesigen Kopf…

Und zwei große Flügel…

Und scharfe Zähne und Klauen…

Und schrecklichen Mundgeruch…

Er wartete auf die anderen.

Sie kamen im Laufe des Vormittags:

Adorelon, der Silberne.

Neidhöcker, der Bronzene – wenn er nicht gerade mal wieder mit Droca verwechselt wurde.

Droca, der Kupferne…oder doch der Bronzene?

Vasdendas, der Messingfarbene.

Morkulebus, der Schwarze, der aus den finsteren Sümpfen des schwarzen Todes kam, die noch nie von einem Menschen lebendig wieder verlassen wurden.

Er wurde von allen immer nur Morki genannt.

Glaureng, der Grüne.

Tjamat, der Blaue.

Schneeweißchen, die Weiße – ja, sie war der einzige weibliche Drache im Rat. Und ja, sie hatte wirklich so einen dämlichen Namen.

Und Kalessan, der Rote.

Kalessan war einem sofort sympathisch, wenn man ihn das erste Mal traf. Denn man wollte unter keinen Umständen zulassen, dass er unsympathisch wurde. Leider reichte bloßes Menschsein schon aus, um ihn sehr unsympathisch werden zu lassen…

"Es ist ungemein praktisch, ein Drache zu sein!", hatte er einmal gesagt, "Du musst dich gar nicht mehr um die Nahrungsbeschaffung kümmern, nein, die Nahrung kommt zu dir…und meistens bringt sie noch tolle Dinge zum Sammeln und Tauschen mit…"

Deswegen war es ihm auch ein besonderes Greuel, seinen geliebten Hort verlassen zu müssen – und darum war er auch der einzige, der nicht im Laufe dieses Vormittags, sondern des nächsten erschien. Den anderen machte das nicht viel aus, sie waren sein Verhalten schon gewohnt – und wenigstens konnten sie derweil die neuesten Nachrichten, Geschichten und praktische Tips zur effektiven Sklavenhaltung austauschen.

Kalessan landete auf seiner Plattform, während die anderen ebenfalls ihre Plätze einnahmen – Smahug dabei, wie es die Tradition verlangte, in der Mitte des Felsplateaus.

Eigentlich waren es mehrere Plattformen: Eine große in der Mitte und zehn weitere, die kreisförmig um sie herum angeordnet waren. Die Drachen hatten keine Ahnung, wer dieses Bergplateau mitten im Gebirge erschaffen hatte. Aber weil sich Unwissenheit seitens der Mächtigen in der Öffentlichkeit niemals gut macht, wurde schnell eine schöne Geschichte erfunden. Nun hieß es offiziell, dass der allererste Rat der Drachen diesen Platz mittels mächtiger Magie aus dem höchsten Berg des Landes heraus gebrochen hatte, um dort in Zukunft seine Versammlungen abzuhalten, die fortan die Geschicke der Welt lenken sollten.

Solche Geschichten machen sich immer gut…

Jeder Drache saß nun auf seiner Plattform. Und sie saßen auch nur, weil nicht genug Platz war, um sich hinzulegen.

Der Rat der Drachen tagte einmal mehr. Und sein Vorsitzender, Smahug, erhob nun die Stimme:

"Schön, dass du es auch für nötig befindest, hier aufzutauchen, Kalessan!"

"Sei froh, dass ich überhaupt gekommen bin! Ich habe nämlich keine große Lust, wieder so einer sinnlosen Sitzung wie letztes Mal beizuwohnen!", erwiderte der rote Drache, was alle anderen zu Gekicher veranlasste – alle, außer Smahug.

"Nein, diesmal ist das Anliegen, weswegen ich euch zusammen gerufen habe, ein äußerst wichtiges!", antwortete dieser.

"Das hast du letztes Mal auch gesagt, als dein Lieblingsschmuckstück verschwunden war, wir deine gesamte Höhle danach abgesucht haben und es schließlich in deinem Ar…"

"Ja ja ja, das war sehr lustig damals, nicht wahr? Ha. Ha. Ha.", unterbrach ihn Smahug schleunigst, "Nein, diesmal ist es wirklich wichtig! Ich denke mal, ihr wisst alle, wo die Menschenstadt "Neudorf" liegt?"

Die meisten Drachen nickten.

"Gut, wir werden der Stadt heute einen kleinen Besuch abstatten. Und, um es gleich hinzuzufügen, wir werden die Stadt nicht zerstören oder sonst irgendwie beschädigen!", sagte Smahug mit einem Seitenblick auf Kalessan.

Ein teils erstauntes, teils erfreutes, teils enttäuschtes Murmeln ertönte aus den Reihen der restlichen Drachen.

Glaureng fragte: "Das wird doch nicht wieder so eine Wohltätigkeitsveranstaltung für Menschen, oder? Das wäre ja noch schlimmer als die Aktion vom letzten Mal!"

Wieder brach Gelächter aus.

Smahug unterbrach die Menge mit einem lauten Brüllen:

"Nein, das wird weder eine Zerstörungsorgie, noch eine Wohltätigkeitsfahrt. Und ich wäre sehr erfreut, wenn ihr mich nicht alle immer wieder an das kleine Missgeschick unserer letzten Zusammenkunft erinnern würdet, danke! Nein, wir werden uns tarnen und mit einem gewissen Menschen in dieser Stadt mal ein paar Worte wechseln. Droca hier…", er deutete mit einem Kopfnicken auf den Kupferdrachen.

"Ich bin Droca!", sagte der Drache, der auf der Plattform nebenan saß, "Das da ist Neidhöcker."

"Warum sitzt ihr eigentlich nebeneinander?", fragte Tjamat, "Man kann euch ja wirklich kaum auseinander halten!"

"Ihr könnt das seit den 450 Jahren die wir schon nebeneinander sitzen nicht – aber ihr habt euch nie darüber beschwert!", erwiderte Neidhöcker.

"Dann tue ich es halt jetzt!"

"Hättest du das nicht früher machen können? Ich habe mich schon so sehr an den Platz hier gewöhnt! Außerdem bist du ja nur neidisch, weil meine Plattform ein bisschen größer…"

"WENN ICH WOHL WIEder auf unser eigentliches Thema zurückkommen könnte?", rief Smahug dazwischen, worauf der Streit zwischen den beiden fürs erste verstummte.

"Also, Droca hat mir berichtet, dass ein Magier namens Saurudalf die Regentschaft über Neudorf übernommen hat. Dieser Magier verkündete, dass er sämtliche Drachen im Umkreis von Neudorf vernichten wolle – etwas, was wir natürlich nicht zulassen können!"

"Ich wusste, dass ich nicht hätte kommen dürfen!", stöhnte Kalessan, "Wozu brauchst du da uns alle? Warum kann Droca ihm nicht alleine einen kleinen Besuch abstatten und ihm den Kopf abbeißen? Hast du etwa Angst, er könnte dir weh tun, Droca?"

"Es wäre sehr nett, wenn du mich ausreden lassen würdest, Kalessan! Dieser Saurudalf hat nämlich laut Drocas Bericht irgendeine Maschine oder ein Artefakt geschaffen – extra zur Vernichtung von Drachen! Ich bin der Meinung, wir sollten uns dieses Artefakt im Rahmen einer kleinen Weiterbildung alle einmal ansehen – und diesem Saurudalf nebenbei noch eine kleine Lektion erteilen."

Als Smahug Kalessans interessierte Seitenblicke vernahm, fügte er hinzu: "Und wir werden ihn nur töten, wenn es sich wirklich absolut nicht vermeiden lässt!"

Irgendetwas in Kalessans Blick sagte ihm jedoch, dass Kalessan schon dafür sorgen würde, dass es sich nicht vermeiden lassen würde…

Die Reise verlief relativ schnell, gegen Nachmittag erreichten die zehn Drachen die Umgebung um Neudorf.

Aufgrund des Namens könnte man vielleicht vermuten, dass es sich nur um eine kleine Ansammlung von Hütten handelte, die mitten im Freien herumstanden und auch nur deswegen als "Dorf" bezeichnet wurden, weil der Abstand zwischen zweien von ihnen weniger als einen Kilometer betrug…

Nein, in Wahrheit handelte es sich um eine der größten Städte des Reiches, mit einer Einwohnerzahl von ungefähr 40.000 Wesen.

Bei der Namenswahl der Stadt war man halt anscheinend ein wenig…uninspiriert gewesen.

Droca, der der Stadt am nächsten wohnte, führte die Drachen zu einem nahe gelegenen Wald, in dem eine Lichtung lag, die groß genug war, um zumindest einem von ihnen Platz zu geben.

Da Glaureng als einziger mehr einem riesigen gefüllten Schleimbeutel als einer geflügelten Echse glich, musste er mit Hilfe von Magie fliegen, was ihn über längere Strecken nicht gerade wenig Kraft kostete. Darum landete er als Erster auf der Lichtung und verschnaufte ein wenig. Das prägte der Lichtung zwar schon Glaurengs charakteristischen Gestank auf und ließ bereits nach kurzer Zeit die ersten Blumen absterben, die restlichen Mitglieder waren diesen sehr speziellen Duft aber glücklicherweise bereits gewohnt. Während ihr Kollege sich noch ausruhte, kreisten die anderen Drachen weit über den Wolken, die über der Lichtung hingen und entzogen sich so eventuellen neugierigen Blicken. Dabei setzte sich eine der unterbrochenen Unterhaltungen vom Vormittag auf mentalem Wege fort.

Tjamat wandte sich – natürlich erst, nachdem er nachgefragt hatte – an Neidhöcker, den Bronzedrachen: "Sag mal, warum gibt es überhaupt eine Unterteilung zwischen Kupfer- und Bronzedrachen? Ich meine, Droca und du, ihr ähnelt euch beide wie ein Ei dem anderen! Ich wette, wenn man einen Schlüpfling von dir und ihm vertauscht, würde keiner von euch etwas merken."

"Pass mal auf, mein lieber, blauer Freund: Ich würde auch aus Tausenden von Kupferdrachenschlüpflingen einen Bronzedrachen herausfinden. Es gibt nämlich gravierende Unterschiede zwischen unseren beiden Rassen!"

"Als da wären…?"

"Nun…zum Beispiel leben Kupferdrachen in ländlichen Gegenden wie dieser hier, während wir Bronzedrachen schöne, felsige Küstenregionen bevorzugen."

"Und daran könntest du die Kleinen unterscheiden, aha… Weißt du was? Ich glaube, diese Einteilung ist nur vorgenommen worden, weil die zehn Plätze die sie da oben auf dem Versammlungsplatz vorgefunden hatten alle gefüllt werden mussten…"

"Da hätte man euch Blaue auch weglassen können und uns dafür dreimal unterteilen können!"

Bevor Tjamat zu einer scharfen Gegenantwort ansetzen konnte, übermittelte ihnen Smahug folgendes: "Glaureng ist fertig da unten. Du bist dran, Tjamat!"

"Wir sprechen uns noch, Höcki!", sagte Tjamat mit einem Knurren und drehte dann ab, um spiralförmig abzusteigen.

So ging es dann immer weiter. Wenn einer der Drachen fertig war, übermittelte er den oben fliegenden Kollegen eine entsprechende Botschaft und der nächste war dran. Smahug war der letzte, der absteigen sollte. Er schraubte sich tiefer und tiefer, bis er die Wolkendecke durchbrach und die Lichtung sichten konnte. Mit angelegten Flügeln legte er einen schnellen Sturzflug nach unten hin und breitete sie kurz vor dem Aufprall wieder aus, was seinen Flug rapide abbremste.

Jedem normalen Wesen von diesem Gewicht und dieser Geschwindigkeit hätte es die Flügel kurzerhand ausgerissen und den Flug kein bisschen gebremst, aber, wie Kalessan bereits sagte, es ist wirklich ungemein praktisch, Drache zu sein – man muss sich um keinerlei physikalische Gesetze mehr kümmern. Wozu gibt es denn Magie?

Smahug drehte der Physik eine lange Nase und landete sanft wie eine Feder auf der großen Lichtung, die für seine stattliche Größe von 50 Metern schon fast wieder zu klein war. Er faltete seine Schwingen zusammen und begann, sich zu konzentrieren und damit die Verwandlung einzuleiten. Wären jetzt Menschen dabei gewesen, hätte Smahug wahrscheinlich eine optisch beeindruckende Schau mit viel Blitz und Rauch vorgelegt – Menschen brauchten so etwas. Da dem aber nicht so war, verschwand der Drache einfach und statt dessen stand an seiner Stelle ein älterer Mann mit weißen Vollbart, langen, ebenfalls weißen Haaren und einer goldfarbenen Robe. Das Assoziationsvermögen eines jeden Menschen würde bei seinem Anblick sofort "Magier" schreien…

Er sah zum Rand der Lichtung. Neun andere Menschen bewegten sich auf ihn zu. Und jeder von ihnen trug eine Robe von einer anderen Farbe.

Alles in allem sah es aus, als wären die Farben aus dem Malkasten eines Grundschülers herausgesprungen und hätten menschliche Gestalt angenommen. Farben hätten sich jedoch wahrscheinlich unauffälliger gekleidet als die Drachen es taten…

Smahug ließ seinen Blick nochmals über die Gruppe schweifen. Vor ihm standen sieben menschliche Männer und zwei Frauen. Es war also alles in Ordnung, alle waren anwesend. Er wollte gerade den Arm in Richtung Neudorf heben und einen Standardspruch á la "Na dann, lasst uns diesem Magier mal zeigen, wer hier der Boss ist!" loslassen, stockte aber. Sieben Männer und zwei Frauen?

Smahug sah sie sich nochmals an. Die eine Frau trug ein weißes Gewand – das musste Schneeweißchen sein… Die andere war blau bekleidet.

"Tjamat, ich denke, ich kann sagen, dass ich mich mit Menschen ganz gut auskenne…und du hast dich versehentlich in eine menschliche Frau verwandelt!"

Tjamats sehr männliche Stimme antwortete ihm: "Wieso ‚versehentlich‘? Sehe ich etwa nicht gut aus?"

Die anderen neun starrten sie…ihn nur an.

"Was ist? Ist irgendwas nicht in Ordnung?", fragte der verwirrte Tjamat.

"Du verwandelst dich in eine menschliche Frau und behältst deine männliche Drachenstimme bei?", fragte Adorelon ungläubig.

"Was dagegen? Wir gehen doch nur da rein, regeln unsere Angelegenheit mit diesem Saurudalf und gehen dann wieder raus oder? Ich werde schon nicht mit jedem zweiten Menschen in dieser Stadt reden…und selbst wenn, was soll uns schon groß passieren?"

Smahug schüttelte den Kopf und seufzte: "Ja, gut, du hast Recht. Es wird nicht lange dauern. Rein und wieder raus, nichts besonderes, ein Kinderspiel für uns, ja… Also, verschwenden wir nicht weiter unsere Zeit mit dieser Angelegenheit sondern ziehen endlich los – hat noch jemand von euch Fragen?"

Er schaute fragend in die Runde – die anderen schauten fragend zurück.

Smahug hob den Arm in Richtung Neudorf und sprach: "Na dann, lasst uns diesem Magier mal zeigen, wer hier der Boss ist!"

Eine derartige Gruppe hätte beim Passieren des großen Stadttores eigentlich auffallen müssen. Doch die Bewohner und damit auch die Torwächter der Stadt waren solcherlei Gefolge schon gewohnt – wenn eine der größten Magierakademien des Reiches mitten in der Stadt steht, ist man so einiges gewohnt…

Die Häuserwände türmten sich rechts und links hoch auf. Zwischen ihnen lag ein gewaltiger Strom aus Menschen, Handelskarren und anderen sich bewegenden Dingen, unter ihnen die zehn Drachen des Rates, die wie ein großer Regenbogenfisch durch das Gedränge schwammen.

Die breite Straße – wahrscheinlich hieß sie auch "Breite Straße" – führte direkt auf den großen Marktplatz der Stadt, der sehr bekannt für…seine Größe war.

Von hier aus zweigten etliche Dutzend große und kleine Straßen in sämtliche Himmelsrichtungen ab, jedoch keine davon so auffällig breit und dicht befahren wie der Weg, auf dem sie in die Stadt gekommen waren.

"So, und wo geht es nun zum…", wollte sich Smahug an Droca wenden, stockte aber einmal mehr. Die zwei Menschen in rotbraunem Gewand, die vor ihm standen, waren für einen Drachen kaum zu unterscheiden. Denn was ist zwischen zwei Menschen schon groß anders? Manchmal ist das Fell auf dem Kopf länger, mal kürzer, mal in der einen Farbe, mal in einer anderen – sehr viel mehr Unterschiede, von weiteren auffälligen Merkmalen wie Größe oder Statur mal abgesehen, konnten Drachen an Menschen nicht ausmachen…oder hatten keine Lust dazu.

Einer von den beiden antwortete auf die abgebrochene Frage: "Folgt mir einfach, ich kenne den Weg zum…", wurde aber seinerseits unterbrochen. Und zwar von einer Menschenfrau, die gerade vorbei lief, dann aber stehen blieb, um den Drachen näher zu betrachten:

"Verzeiht…seid ihr nicht Droca, der Schauspieler?"

"Ähm, nun ja…", antwortete dieser und begann, recht nervös nach rechts und links zu blicken.

"Oh, ich habe das Stück gesehen. Es war großartig! Ihr habt mit solcher Hingabe gespielt, mit solcher Emotion, mit solchem Talent! Eure Verkörperung des Newob hatte so viel Tiefe, so viel Kraft, so viel Liebe…", ergoss sich der Redeschwall der Frau über den Drachen, in dessen Blick jetzt eine Spur von Panik lag, während ihn seine Kollegen nur mit offenen Mündern anstarrten.

Irgendwie gelang es Droca, sich selbst zu überwinden und ein paar Worte hervorzustammeln: "Gute Frau, ich weiß nicht, wovon…"

Die Frau schien ihn nicht zu hören. Sie brach ihren Redeschwall zwar ab, aber nur um einer Gruppe anderer Frauen in der Nähe zuzuwinken und laut zu schreien: "Trixi, Daisy, Peggy, kommt her, seht mal, wen ich gefunden habe! Es ist Droca! Der Droca!"

Die drei angesprochenen Frauen sahen auf, kreischten laut und rannten auf den Drachen zu. Anscheinend waren diese vier aber nicht die einzigen, die den Drachen zu kennen schienen, denn nun erschollen weitere laute Rufe und immer mehr Menschen kamen heran, um ein Auge auf den Drachen werfen zu können. Es entstand ein riesiges Gedränge um die Drachengruppe, mit Droca in ihrem Mittelpunkt. Die Leute schrien Dinge wie "Nur ein Stück von seinem Gewand!", "Eine Locke seiner prächtigen Haare!" oder "Oh bitte, lasst mir auch was von ihm übrig!" und die Menschen begannen an ihm zu ziehen und zu zerren.

Auf einmal blitzte ein helles rotes Licht auf, welches den Marktplatz für den Bruchteil einer Sekunde im Licht der nachmittäglichen Sonne noch einmal extra erhellte.

Stille.

Eine große Masse an Menschenaugen starrte sie ausdruckslos an.

Smahug steckte den kleinen Stock mit dem rötlich glühenden Punkt am Ende wieder in eine Tasche seiner Robe.

"Was glotzt ihr alle so? Haut endlich ab! Hier gibt es nichts zu sehen! Los, geht weiter euren Geschäften nach!", rief er laut.

Gemurmel und Bewegung entstand wieder und die Menschen kehrten zu ihren vorherigen Aktivitäten zurück.

"Was…was war das?", fragte Droca.

"Eine kleine Spielerei, hab ich mal vom Elfenkönig Emballasilvarandarlessadar dem MCXXIX. bekommen. Es stimuliert die Nervensynapsen des menschlichen Großhirns und löscht so ihr Kurz…"

Smahug bemerkte die Verständnislosigkeit in Drocas Augen.

"Ach, vergiss es! Sag du mir lieber, was das hier gerade war! Wie hat sie dich nochmal bezeichnet? Als Schaumspüler?"

"Schauspieler. Ähm, wisst ihr, die Menschen haben hier eine Tradition namens ‚Theater‘. Ich habe da mal mitgemacht. Eine Gruppe von Menschen, die Schauspieler, tun so, als wären sie jemand anders und erzählen so auf der Theaterbühne eine Geschichte. Und viele andere Menschen schauen dabei zu."

"Und was hat das Ganze für einen Sinn?", fragte Morkulebus.

"Nun, es ist ein…direkteres und anschaulicheres Mittel, um Geschichten glaubwürdig erzählen zu können, würde ich sagen."

"Und was für eine Geschichte habt ihr da erzählt?", fragte Adorelon.

"Oh, ich kann euch sagen, dass war eine ganz fantastische Geschichte! Es ging um einen Drachentöter, der sich mit dem letzten Drachen zusammenschließt, um einen bösen König zu bekämpfen."

"Und du hast dich vor all den Menschen in deiner wahren Gestalt gezeigt?", fragte Vasdendas.

"Neinneinnein, ich habe den Drachentöter gespielt. Der Drache war ein großes Gerüst auf Rädern – sah zwar nicht unbedingt wie ein Drache aus, aber die Phantasie musste sich den Rest einfach nur dazu denken, dann wirkte es gar nicht mal so schlecht. Ich sage euch, die Menschen waren hin und weg von dem Stück!"

"Das ist ja sehr erfreulich für dich, lieber Droca! Schön, dass du den Ruf unserer Rasse so in den Dreck ziehst. Schön, dass du so bekannt bist und so viel Aufmerksamkeit auf dich ziehst. Schön, dass du unsere gesamte Aktion hier gefährdest!", rief Smahug.

"Ach komm schon, reg dich ab – was soll uns hier bitteschön passieren?"

Bevor Smahug zu einer Gegenantwort ansetzen konnte, schob sich Kalessan dazwischen: "Uns kann hier gar nichts passieren. Aber unser Anführer hier hat Angst, dass arme, unschuldige Menschen zu Schaden kommen könnten, wenn etwas schiefgeht – ist es nicht so, oh großer, weiser Anführer?"

Smahug starrte ihn nur wütend an.

Dann antwortete er endlich: "Das Thema haben wir schon so oft durchgekaut, Kalessan! Diesen Disput verschieben wir auf später, ja? Ich möchte erstmal die Angelegenheit in dieser Stadt bereinigen, ja? Also, Droca, wo lang geht es denn jetzt zu diesem…Rathaus?"

"Folgt mir einfach!"

Nachdem sich durch einige weitere größere Straßen durchgearbeitet hatten, kamen sie auf einen kleineren Platz. Nur ein einzelner, kleiner und noch dazu ziemlich dreckiger Springbrunnen zierte die Fläche. Neben den üblichen Häusern und Geschäften war der Rand des Platzes noch von einem großen, prächtig verzierten Fachwerkhaus gesäumt, welches seine Nachbarn von der Ästhetik her in den Schatten tiefster und vollkommenster Hässlichkeit stellte.

"Sieht so aus, als wären wir am Ziel. Warum müssen die Mächtigen unter den Menschen ihre Potenz eigentlich immer in solchen Prunkbauten ausdrücken? Wenn sie das Geld schon ausgeben müssen, können sie das auch für nützlichere Zwecke machen…", sagte Smahug.

"Ähm, das ist die örtliche Taverne und nicht das Rathaus…", erwiderte Droca.

"Die örtliche…was?", antwortete Smahug ungläubig, "Warum hat eine Taverne bitteschön eine so teure Aufmachung? Ist das etwa die einzige Taverne in der Stadt? Dann könnte ich es ja verstehen…"

"Neinnein, der ‚Rumstehende Esel‘ ist bei weitem nicht das einzige Gasthaus hier. Nur Wirt Brennessel ist der einzige, der es irgendwie geschafft hat, eine Versicherung für Einrichtungsschäden zu ergattern…"

"Eine was?"

Droca suchte nach Worten und wedelte dabei suchend mit den Armen in der Luft: "Ähm…das ist, wenn…wenn…wenn du…nein…ähm, pass auf, das funktioniert so: Wenn jemand dein…ähm…dein Eigentum beschädigt und du…und du so eine Versicherung…ähm…äh…ach, vergiss es!"

"Also, wo ist jetzt das verdammte Rathaus?", fragte der langsam ungeduldig werdende Kalessan.

"Da drüben!"

"Das Haus sieht aber aus wie alle anderen!", sagte Vasdendas enttäuscht.

"Die Stadt hat halt nicht viel Geld – selbst du dürftest mehr in deinem Hort haben, als die hier in ihrer Stadtkasse, Vas.", entgegnete der Kupferdrachen.

"Da scheint es ja wirklich schlimm um die Stadt zu stehen. Was haben die denn gemacht, um sich so groß zu verschulden?", fragte Neidhöcker.

"Ich bin nicht verschuldet!", sagte Vasdendas.

"Keine Ahnung! Gestern war die Kasse noch voll und nichts deutet auf eine finanzielle Katastrophe hin und am nächsten Tag liegt in der Schatzkammer nur noch ein Schuldschein mit einem riesigen Betrag drauf – beeindruckend, wie menschliche Politiker das so hinbekommen…", erklärte Droca.

"Ich bin nicht verschuldet!", sagte Vasdendas.

Kalessan schnaubte verächtlich: "Typisch Menschen, die können weder mit sich selbst, noch mit Geld richtig umgehen – und sowas favorisierst du, Sma…"

Kalessan stockte.

Smahug stand mit geschlossenen Augen da. Er atmete ruhig ein und aus. Ein Zeichen, dass die anderen Drachen sofort zu deuten wussten. Als er die Augen wieder aufmachte, sah Smahug, wie sie in voller Bereitschaft an der Tür des Rathauses standen und ihn halb ängstlich, halb erwartungsvoll betrachteten. Er ging auf sie zu und sagte kühl: "Gut. Keine Unterhaltungen mehr. Keine Plaudereien. Keine Diskussionen. Kein Blödsinn. Wir gehen jetzt da rein. Ich werde reden. Niemand sonst. Verstanden?"

Neun Köpfe bewegten sich simultan auf und ab, erleichert darüber, den Wutausbruch abgewendet zu haben.

Smahug öffnete die Tür.

"Ah, Hallo! Mister Saurudalf hat euch bereits erwartet. Bitte setzt euch doch kurz, ich sage ihm dann gleich Bescheid, ja?", ertönte eine näselnde Frauenstimme, welche Smahug den Schwung seines Auftretens nahm und ihn verblüfft im Raum stehen ließ.

Das Zimmer war klein und stickig. Die Wände waren grau gestrichen und die Einrichtung bestand aus einer von Holzwürmern durchlöcherten Tür gegenüber des Eingangs, einem von Holzwürmern durchlöcherten Tisch auf dem zahlreiche Papierstapel und ein Tintenfass standen und einem von Leinenwürmern durchlöcherten Bild an der Wand dahinter, welches einen Ritter zeigte, der gerade einen kleinen Drachen mit einer Lanze aufspießte.

Hinter dem Tisch saß ein Skelett. Nein, bei näherem Hinsehen handelte es sich tatsächlich um eine lebendige, wenn auch schon recht alte Frau. Sie hatte nur einen Hüftumfang, der ein jedes der gängigen Topmodels wie eine Tonne auf Beinen aussehen lassen würde.

Smahug fing sich langsam wieder: "Was…habt ihr gerade gesagt?"

"Ich sagte, ihr sollt euch kurz setzen, während ich Saurudalf…"

"NIEMAND…sagt MIR…was ICH zu tun habe!", schrie Smahug sie mit vor Zorn weit geöffneten Augen, die fast aus dem Kopf quollen, an. Dann schritt er auf die Tür zu und öffnete sie mit einem entschlossenen Tritt, was zur Folge hatte, dass sie laut krachte und mehrere Meter weit in den nächsten Raum hinein flog.

Smahug blieb abermals stehen, während die anderen Drachen aufrückten und ihm den Rücken sicherten – zumindest würden sie ihre Aktion so bezeichnen.

Vor ihnen tat sich eine Halle auf. Sie war nicht sehr groß – Kalessan, der mit über zwei Metern der Größte von ihnen war, musste nur den Arm ausstrecken, um die Decke zu berühren – aber das machte sie in ihrer mehrere Dutzend Meter messenden Länge wieder wett. Ein breiter, roter Teppich erstreckte sich über die gesamte Halle. Rechts und links neben ihm standen zwei ebenso lange und diesmal seltsamerweise nicht von Holzwürmern durchlöcherte Tische. Der Teppich endete an einem roten Sessel – und auf diesem Sessel saß ein junger Mann. Er hatte die Beine übereinander geschlagen und las in einem großen Buch, welches auf seinem Schoß lag. Er war ebenfalls mit einer Robe bekleidet, wäre in einer Menschenmenge aber wohl kaum so aufgefallen wie der Rat.

Er sah auf: "Cassandra, habe ich nicht gesagt, dass ich nicht gestört werden…möchte…aahh, ich verstehe, ihr seid es!"

"Ja, wir sind es – und wer zur Hölle seid ihr?", entgegnete der bereits sehr aufgebrachte Smahug.

"Erlaubt mir, mich vorzustellen…", setzte der Mann an.

"Ich habe es euch befohlen, nicht erlaubt!", schrie Smahug ihn an.

Damit hatte er ihn ein wenig aus dem Konzept gebracht, denn der Mensch schaute jetzt nervös hin und her und leckte sich mit der Zunge über die Lippen. Bevor er jedoch weiterreden konnte, ertönte wieder die Stimme der alten Frau neben ihnen: "Es tut mir leid, Mister Saurudalf, aber diese Herren haben sich einfach vorgedrängelt, bevor ich etwas unternehmen konnte!"

"Ähm, schon gut Cassandra, bitte…nehmen sie sich den Rest des Tages frei, ich denke, ich brauche sie heute nicht mehr!"

"Aber die Akten müssen noch…"

"Bitte gehen sie jetzt!", sagte Saurudalf mit leicht erhobener Stimme.

"Ja, Mister!", ertönte die leise Antwort. Danach war die Frau verschwunden und die Tür wurde zugeschlagen.

"Ihr seid also Saurudalf? Gut, dann seid ihr auch der, den wir suchen…aber anscheinend wurden wir auch schon erwartet?", meldete sich jetzt Smahug wieder zu Wort.

"Oh, äh…ihr gehört doch zu der Abenteurergruppe, die die Handelskarawane aus Kleinstadt begleitet hat oder?", kam die Antwort.

"Nein, sind wir nicht. Wir kommen wegen einer anderen Angelegenheit. Wir haben gehört, ihr habt eine Abneigung gegen Drachen?"

"Oh, diese schrecklichen, hässlichen, stinkenden, brutalen, fliegenden Monster? Ich hätte da einen Auftrag für eure Gruppe, der sich mit diesen höllischen Kreaturen befasst. Ihr müsst nur meine neuste Kreation mitnehmen, die Drachen suchen und könnt ihnen dann im Handumdrehen den Garaus machen. Das ist garantiert völlig ungefährlich und macht eine Menge Spaß! Außerdem springt noch ein wenig was dabei für euch heraus…"

Bevor einer der Drachen aufbrausen konnte, hob Smahug schnell beschwichtigend die Hand und antwortete: "Ähm…das hört sich…sehr gut an. Zeigt uns doch mal eure ‚Kreation‘. Würdet ihr das für uns tun?"

"Oh, aber natürlich – seht her!", sagte Saurudalf und streckte die Hand nach einem kleinen Tisch aus, der neben seinem Sessel stand. Auf ihm stand irgend etwas, aber es war von einem dicken blauen Samttuch bedeckt, sodass man nur einen vagen Schemen von dem Objekt ausmachen konnte. Saurudalf packte die Samtdecke und zog sie weg. Was zum Vorschein kam, war eher unspektakulär: Das Objekt sah aus, wie eine stinknormale und nicht einmal besonders große Kristallkugel, die vielleicht für einen Jahrmarktswahrsager gerade mal gut genug gewesen wäre.

Saurudalf schaute seine Schöpfung stolz an und sprach: "Ich nenne es…" – er machte eine dramatische Pause – "…das Prettschett!"

"Das Prettschett!", echoten einige der Drachen.

Smahug drehte sich um und starrte sie kurz an – dann wendete er sich wieder Saurudalf zu.

"Und das da soll eure großartige Drachenvernichtungsmaschine sein? Alleine die Erscheinung dieses Objekts ist nicht sehr eindrucksvoll – musstet ihr diesem armen Ding auch noch so einen bescheuerten Namen geben?", sagte er mit unterdrücktem Lachen.

"Sagt mir ja nichts gegen den Namen! Ich habe es nach meinem armen, verstorbenen Terrier benannt, der vor einem Jahr ermordet wurde…verschlungen…von einem Drachen!", antwortete Saurudalf mit einer Stimme, die von Trauer und Hass nur so strotzte.

Jetzt meldete sich Kalessan zu Wort: "Ihr habt dieses Ding nach eurem verstorbenen Terrier Prettschett benannt? Was ist denn das für ein bescheuerter Name für einen Terrier? Der Terrier Prettschett…pah, ich glaub’s nicht!"

"Der Name ist nicht bescheuert. Außerdem hieß er Prett-Schett und nicht Prettschett!", erwiderte Saurudalf trotzig.

"Und wo ist da bitteschön der Unterschied?"

"In der Schreibweise!"

Kalessan schloss die Augen und war jetzt seinerseits dran, ruhig ein- und auszuatmen. Dann sagte er resigniert: "Gut…in Ordnung…das wird mir hier langsam zu bunt, mein lieber Anführer. Wir verschwenden hier nur unsere Zeit – und das sage ich dir als Drache, der sich nun wirklich nicht über einen Mangel an selbiger beklagen kann!"

"Nein Kalessan, wir werden jetzt versuchen, alles über dieses…dieses Prettschett dort herauszubekommen. Und ich werde erst gehen, wenn das Ding da zerstört ist!", entgegnete ihm Smahug.

Kalessan sah auf.

"Oh? Na, wenn’s weiter nichts ist…", sagte er und richtete einen Finger auf die Kugel. Ein roter Feuerblitz schoss auf das Objekt zu – und verschwand darin.

Eine Sekunde später begann sie innerlich in einem unheimlichen, blauen Licht zu glühen.

Saurudalf schaute seine Schöpfung kurz an, richtete sich dann wieder an die Drachen und sagte: "Das Prettschett ist nicht direkt eine Drachenvernichtungsmaschine, wie ihr es so schön zu sagen pflegtet, meine lieben Echsen. Es ist mehr…ein Gefäß, ein Behältnis für einen ganz besonderen Inhalt. Ihr möchtet mehr über seine Funktionsweise erfahren, werter Smahug? Es wird durch Drachenmagie aktiviert. Und es absorbiert genau diese Form der Magie aus einem weiten Umkreis, der euch zehn hier ganz sicher mit einschließt. Jetzt, in diesem Moment, in dieser Sekunde, wird euch gerade der Grundstein eurer Macht genommen: Eure Magie! Und was sind Drachen ohne Magie, die dazu noch in unbewaffneten Menschenkörpern stecken? Wehrlos…absolut wehrlos! Insofern hattet ihr mit eurer Betitelung als Drachenvernichtungsmaschine schon in gewisser Weise Recht…"

Während er sprach, gewann das blaue Licht im Innern der Kristallkugel an Intensität und strahlte bald fast so hell wie eine künstliche Sonne.

Kalessan starrte das Ding nur ungläubig an und lachte dann auf: "Und den Mist sollen wir euch glauben, Menschling? So etwas Dreistes habe ich wirklich noch nie gesehen! Du vielleicht Smahug? Smahug?"

Smahug stand wie erstarrt neben ihm. Er war kalkweiß im Gesicht.

"Ich…fühle mich…so leer…", stöhnte er.

Als Kalessan sich umdrehte, sah er in den meisten Gesichtern der anderen Drachen den gleichen, bleichen Ausdruck.

Als Magier war er bei weitem nicht so gut wie einige der anderen aus dem Rat – aber es reichte immer noch aus, um den ein oder anderen nervenden Menschen auch mal aus der Entfernung zu beseitigen…oder anscheinend, um ein Prettschett zu aktivieren…

Doch auch er spürte es – beziehungsweise, er spürte es nicht mehr. Es war, als ob ein Körperteil fehlen würde – mit dem Unterschied, dass noch alles an ihm dran war.

Saurudalf streichelte über die hell strahlende Kugel neben ihm und begann wieder zu reden: "Es war mir wirklich eine Freude, mit den zehn ehemals mächtigsten Wesen dieser Welt sprechen zu können, doch ich denke, ich werde diese Audienz jetzt beenden. WACHEN!"

Rechts und links neben dem Sessel wurden zwei nahezu unsichtbare Steintüren aufgestoßen und an die 20 Soldaten der neuen Ausbildungsreihe "Schergen des Bösen, TYP 4: ‚Kanonenfutter für Helden’" kamen mit gezogenen Schwertern in den Saal gestürmt, drängten die Drachen gegen einen der Tische und umzingelten sie im Halbkreis.

"Noch einen letzten Wunsch?", fragte Saurudalf. Die Tradition verlangt es halt so.

Kalessan dachte nach…die Situation stand schlecht.

Ziemlich übel sogar.

Aber da stimmte doch etwas nicht…

Er…konnte Saurudalfs stinkenden Schweiß riechen – aus dieser Entfernung.

Sein Geruchsinn war also immer noch so ausgeprägt wie vorher.

Ebenso sein Gehör.

Und wenn seine Sinne noch immer die eines Drachen waren, dann musste doch auch…

"Ja, lasst mich noch kurz etwas ausprobieren…", antwortete er und drehte sich suchend um. Hinter ihm auf dem Tisch stand ein eiserner Kerzenleuchter. Er nahm ihn und drehte ihn prüfend hin und her.

Dann begann er ihn zu verbiegen, als wäre es ein Stück billiger, dünner Draht. Nach ein paar Sekunden hatte er aus dem Leuchter einen formvollendeten Doppelknoten mit Schleifchen geformt – angesichts der geringen Größe des Leuchters eine beachtliche Leistung.

Dann drehte er sich in einer blitzschnellen, flüssigen Bewegung zu der nächsten Wache hin und schmetterte ihm das Teil gegen den Helm. Es ertönte ein Ton, der in dieser Lautstärke sonst nur um 12 Uhr mittags von großen Kirchtürmen erklingt. Kalessan sah noch einmal zufrieden auf seine improvisierte Waffe.

"Hm, na wenigstens das funktioniert noch…", sagte er und schaute auf, "Na dann, kampflos werde ich nicht…"

Vor ihm hingen 19 Schwerter und Schilde in der Luft, die sich gerade fragten, was sie eigentlich dort oben hielt.

Sie fielen auf den Boden.

Man hörte noch schnelle Schritte.

Eine der Steintüren am anderen Ende des Saales wurde zugeschlagen.

Anscheinend war die Eigenschaft "Künstliche Intelligenz" der neuen Soldaten noch ausbaubar…

Saurudalf starrte Kalessan wütend an.

Kalessan sagte zu ihm: "Pass auf, ich werde jetzt etwas machen, was ich seit 1000 Jahren schon nicht mehr getan habe – ich werde es mal auf dem diplomatischen Weg versuchen! Also: Gib du uns jetzt dieses Ding da und vielleicht werde ich es nicht ganz so schmerzhaft machen!"

"IHR droht MIR? In eurer Situation? Meine Wachen mögen vielleicht nicht ganz effektiv gewesen sein, aber ich weiß immer noch genau, was mit Abschaum wie euch zu tun ist! Friss das, Drachengewürm!"

Er streckte seinen Arm aus und eine mächtige magische Entladung baute sich zwischen dem Magier und Kalessan auf. Blitze umzuckten ihn und die anderen Drachen. Nach ein paar Sekunden stoppte das magische Gewitter – und alles sah so aus, wie vorher. Saurudalf starrte zuerst ungläubig an die Stelle, wo jetzt eigentlich zehn Aschehäufchen liegen sollte, schaute danach wieder auf seine Hand und wieder zurück zu den Drachen. Die am Boden liegende Wache war jetzt nur noch ein Aschehäufchen. Mit dem Spruch stimmte also anscheinend alles…

"Was…wie…warum?"

"Diese Immunität ist uns ebenfalls angeboren, lieber Saurudalf – studiert eure Gegner ein wenig besser, dann kommt ihr das nächste Mal vielleicht mit dem Leben davon! Wenn ihr unsere Magie schon als Machtquelle benutzen wollt, wovon ich jetzt einfach mal ausgehe, dann solltet ihr auch erstmal ihre Grundzüge und Mechanismen verstehen – ansonsten ist dieses Prettschett da für euch nur ein hübscher kleiner Briefbeschwerer!"

Kalessan war über sich selbst erstaunt, dass er noch so viel über draconische Magie wusste – es war ja nie sein Ding gewesen…

Saurudalf reckte sein Kinn vor: "Ach, ihr sagt eure Macht wäre nutzlos für mich!? Das werden wir ja sehen! Ich habe viel Zeit und ihr seid immer noch absolut wehrlos! Vielleicht ist dieses Schicksal sogar noch besser für euch zehn – auf ewig dazu verdammt, ein Mensch zu sein! Ich wünsche euch viel Spaß mit eurer neuen Existenz, AHAHAHAHAHAHAHA…"

Er holte eine kleine Kugel aus seinem Ärmel und warf sie auf den Boden. Es gab einen kleinen Lichtblitz, purpurner Rauch stieg auf, der sich langsam verzog.

Als die Sicht wieder klar wurde, waren Saurudalf und das Prettschett verschwunden.

"Oh nein! Kalessan, warum hast du ihn nicht aufgehalten?", schrie Smahug auf einmal.

"Ach reg dich ab, Smahug! Den finden wir schon, den riecht man doch zehn Meilen gegen den Wind! Außerdem, warum meldest du dich erst jetzt und hast vorher nur blöd herum gestanden?"

"Hast du eigentlich eine Ahnung, was das eben gerade für ein Schock für mich war? Hast du eine Ahnung, wie es ist, das mächtigste Wesen auf dem Kontinent zu sein und seine gesamte Macht zu verlieren? HAST DU EIGENTLICH AUCH NUR DIE SPUR EINER AHNUNG?"

"Nein, habe ich nicht. Aber ich habe jetzt eine Ahnung, wie es ist, im Körper eines Menschen auf unbestimmte Zeit eingesperrt zu sein! Wir sollten jetzt erst einmal alle einen kühlen Kopf bewahren – besonders du, oh großer Anführer! Dann suchen wir diesen Typen, holen uns unsere Magie zurück und schon ist wieder alles in Ordnung, dann kannst du wieder mit deinem Lieblingsspielzeug spielen!"

Beim letzten Satz starrte Smahug Kalessan mit einem Blick an, der beinahe den berühmten Medusa-Effekt gehabt und ihn zu Stein verwandelt hätte.

"Er hat Recht, Smahug, wir sollten uns jetzt auf die Suche machen und diesen Magier suchen gehen!", meldete sich jetzt einer der anderen zu Wort.

"Ihr habt ja Recht. Du, Kalessan, und du, Droca…"

"Neidhöcker!"

"…Neidhöcker…wir müssen jetzt alle einen kühlen Kopf bewahren…aber…aber was ist, wenn er schon längst aus der Stadt heraus ist und in einen Tempel in einem dunklen Sumpf, der dann auf einmal zusammen mit dem Prettschett für immer versinkt, SODASS WIR ES NIE WIEDER FINDEN, OH NEIN!" – die letzten Worte schrie er wieder.

"Solch ein Tempel kann gar nicht existieren, hier in der Umgebung gibt es nämlich keinen Sumpf! Dazu müsste er viel zu weit reisen.", sprach Morkulebus.

"Das stimmt aber nicht ganz, ein wenig weiter im Norden ist ein…", wollte Droca ihm erwidern, wurde jedoch von Neidhöcker unterbrochen, der ihn anstieß und ihm ins Ohr flüsterte: "Jetzt mach es bitte nicht noch schlimmer, ja?"

"Ähhhm…nunja, was ich sagen wollte: Sein Hauptquartier muss hier irgendwo in der Stadt sein! Einen Moment…ich glaube sogar, er hat in der örtlichen Magierakademie einen Posten als Lehrkraft gehabt, vielleicht könnte man…sich da mal erkundigen!?", sagte Droca.

Smahug erging sich noch immer in Trauer.

"Seht ihn euch an, unseren großen Anführer! Da ist er kurz davor, zu weinen. Hat dir deine Mama nicht gesagt, das Drachen nicht weinen? Jetzt komm endlich hoch und spiele deine Rolle als Anführer oder wir werden jemand anderes für diese Rolle auswählen!", sagte Glaureng.

Smahug sah auf und die anderen Drachen fragend an. Diese nickten nur.

Dann sprach er: "Na schön, ihr habt ja Recht… Ähm, du sagtest er hätte eine Stelle an der hiesigen Magierakademie? Nun gut…Morki, Kalessan, ihr beide geht zu dieser Akademie und versucht, alles über diesen Saurudalf herauszufinden! Wir anderen nehmen uns ein paar Zimmer in dieser Taverne hier nebenan!"

"Du lässt Kalessan auf die Menschen hier los?", fragte Morkulebus.

"Dich auch, ja. Ihr werdet wahrscheinlich mit einigen Menschen etwas…direkter reden müssen, um an die Informationen zu kommen, die wir brauchen – und zum Direkt-Reden seid ihr beiden einfach mal die Besten!"

"Und warum können wir anderen nicht mit?" erkundigte sich eine Männerstimme in einem Frauenkörper.

"Unter anderem wegen dir, außerdem…", setzte Smahug an, wurde aber sogleich wieder von Tjamat unterbrochen: "Das ist Diskriminierung! Nur weil ich wie eine Frau aussehe, möchte ich nicht wie eine behandelt werden! Ich verlange sofortige Gleichberechtigung für…"

Smahug hob seine Stimme: "Außerdem wissen wir nicht, wer in dieser Stadt von uns weiß. Und wenn da auf der Akademie lauter Schergen des Saurudalf herumlaufen, wäre es vielleicht ein bisschen ungünstig, wenn wir alle gemeinsam dort erscheinen, nicht wahr? Ich muss mich jetzt außerdem noch erstmal ein wenig ausruhen…"

Tjamat murmelte noch was von "Frauenfeind" und gab dann Ruhe.

Der goldene Drache war nun wieder voll in Fahrt: "Na los, los, los! Woraus wartet ihr noch?", gestikulierte er wild in Kalessans und Morkulebus‘ Richtung, "Wir haben nicht viel Zeit! Jedes Jahr zählt!"

Drachen denken halt in ein klein wenig anderen zeitlichen Relationen als Menschen es tun…

Ein paar Minuten später schwammen Kalessan und Morkulebus erneut durch die Straßen Neudorfs.

"Du bist dir auch sicher, dass das hier der richtige Weg ist, Morki?

"Weißt du was? Ich finde meinen Weg nach Hause immer! Nachts. Durch einen überall gleich aussehenden Sumpf. Blind. Da wird es ja wohl nicht sehr schwer sein, in einer Menschenstadt direkt auf das höchste Gebäude, welches sich ein paar hundert Meter vor uns befindet, zuzuhalten!"

"Wollte ja nur auf Nummer sicher gehen…"

Sie schoben sich durch die vielen Menschenmassen in Richtung Magierakademie. Die Magier konnten sich nur ein relativ kleines Grundstück kaufen, deswegen ragte das Gebäude mehr in die Höhe als die Breite. Zumindest am unteren Ende. Weiter oben, wo rechts und links keine Häuser mehr im Weg standen, wurde die Akademie zu einer komplizierten Konstruktion, die an die hundert Meter breit war und in diesem Stil weiter in die Höhe ragte, wo sie dann wieder ein wenig dünner wurde – doch den Rest konnte man aufgrund der vielen Wolken am Himmel nicht mehr erkennen.

Der Betrieb auf dem Platz vor dem Eingangstor war, wie überall sonst in der Stadt, sehr heftig – mit dem Unterschied, dass sich hier mehr Leute mit langen Bärten und spitzen Hüten tummelten als anderswo. Die Magier zeigten sich dabei leider genauso originell in ihrer Farbwahl wie die Drachen.

"Na toll, die anderen hätten doch mitkommen können – die hier sehen alle ja genauso aus wie wir!", sagte Morkulebus enttäuscht.

"Ich denke mal, das vorhin war nur eine Ausrede von Smahug mit dem ‚Wir fallen ja so schräckelich auf!‘. Wir sind verdammt nochmal normaler als diese verdammten Menschen! Aber hey – was soll’s? Jetzt können wir den ganzen Spaß für uns alleine haben!"

Kalessan grinste.

Morkulebus zuckte nur mit den Schultern und ging mit Kalessan zusammen in das Gebäude hinein.

In der Eingangshalle…nun, von Eingangshalle konnte man nicht sprechen. Aufgrund des eher kleinen quadratischen Grundrisses des Gebäudes musste man eher von einer Eingangskammer reden. Der Großteil der Kammer war mit Treppe verbaut, die gleich rechts neben der Eingangstür anfing und sich eng an der Wand um den gesamten Raum herum nach oben schlängelte. Wenn man den Kopf in den Nacken legte, sah man nichts als Treppe, die sich immer weiter nach oben schlängelte, um schließlich weit oben in der Decke zu verschwinden. Und andauernd gingen Männer mit Hüten und Bärten die Treppen rauf und runter.

Ein Meter vor dem Eingangsportal stand ein kleiner Steintisch, hinter dem ein jüngerer männlicher Mensch mit komischen roten Punkten im Gesicht und einem seltsamen Drahtgestell mit zwei Gläsern auf der Nase saß.

Kalessan sah Morkulebus kurz an, ging dann auf den Tisch zu und schlug mit der geballten Faust auf die Fläche, sodass ein lautes Knirschen erklang und sich viele feine Risse bildeten. Der Mensch schaute immer wieder ungläubig starrend zwischen Kalessan und dem Tisch hin und her. Er begann zu zittern.

Kalessan sagte im drohenden Tonfall: "So, Kleiner, du wirst uns jetzt sagen, wo dieser Saurudalf ist oder ich denke mir für dich eine ganz besonders schöne Todesart aus!"

"Wawawawawawawawawawawawawawawawa…", stammelte der Mensch.

"Ähm, Kalessan? Ich glaube, hier ist das ‚direkte Reden‘ noch nicht nötig!"

"Hm? Oh, schade… Also gut, Menschlein, verrate uns…ähm…bitte…sofort, wo dieser Saurudalf…ähm…arbeitet!"

"Sasasasasasa…"

Kalessan zog eine Augenbraue hoch – in seiner draconischen Gestalt machte diese Geste Menschen meistens extrem nervös. So nervös, dass sie versuchten, sich für ihre bloße Existenz zu entschuldigen oder gleich anfingen, um Gnade zu flehen. Meistens kamen sie nur bis: "Oh, bitte, bitte, tötet mich niAAAHH!"

Doch auch so hatte seine Geste eine entsprechende Wirkung: "SaurudalfhatseinBüroim3.StockdieTrepperaufunddanngleichdiezweiteTürvonlinks!", antwortete der Mensch nun im Zeitraffer.

Kalessan lächelte dem Menschen zu und zusammen mit Morkulebus ging er die Treppe hinauf.

Nachdem die beiden ein paar Minuten lang nur Stufen gestiegen waren, fragte Morkulebus: "Du, ich habe gehört, du hast letztens diesen einen roten Heißspund beinahe zerfleischt! Was hat der dir denn getan? Er war doch sicherlich nicht so blöd und hat versucht, in dein Revier einzudringen?"

"Nein, er wollte sich an meine Neffin ranmachen!"

"Du hast eine Neffin?"

"Ja, du nicht?", entgegnete Kalessan.

"Ich bin schon seit 1000 Jahren ohne Bruder oder Schwester, komm mir jetzt bitte nicht damit! Was hat denn der Kleine genau gemacht?"

"Er hat ihr die Krallen massiert!"

"Bitte…was? Er hat ihr nur die Krallen massiert und du schlachtest ihn fast ab?", fragte Morkulebus ungläubig, "Sie ist schließlich nur deine Neffin!"

"Nur meine Neffin!", spie Kalessan aus, "Verwandtschaft ist Verwandtschaft! Außerdem liegt nicht viel zwischen einer Krallenmassage und einem sexuellem Anbaggerungsversuch!"

"Moment! Moment mal, stop! Ich weiß ja nicht, inwiefern meine und deine Krallenmassagentechnik auseinandergehen, aber eine Krallenmassage und ein sexueller Anbaggerungsversuch sind in meinen Augen alles andere als ein und dasselbe!"

"Hast du schonmal jemandem eine Krallenmassage gegeben?", fragte Kalessan.

"Willst du mich verarschen? Natürlich hab ich schonmal jemandem eine Krallenmassage gegeben, ich bin der verdammte Krallenmassagenmeister! Ich habe die perfekte Technik für jede Krallensorte!"

"Würdest du auch…einem männlichen Drachen eine Krallenmassage geben?"

Morkulebus blieb stehen und sah ihn an.

Dann sagte er: "Leck mich!"

"Ach komm schon!"

"Ich sagte Leck mich!"

"Pfft…in welchem Stock sind wir eigentlich?"

Nach einer weiteren Minute Treppensteigen erreichten sie die Decke. In ihr war ein großes Loch. Die Treppe führte durch dieses Loch auf einen nach rechts und links langführenden Korridor. Auf der Wand gegenüber war eine große Eins gemalt. Daneben begann eine weitere Treppe.

Kalessan und Morkulebus sahen sich an, seufzten und machten sich auf den Weg.

Zum Glück lagen die nächsten Stockwerke direkt übereinander – wenige Sekunden später standen sie also vor der Tür von Saurudalf Büro. Sie war klein, unscheinbar und aus Holz. Rechts neben der Tür hing eine kleine Plakette an der Wand. Darauf stand geschrieben: "Saurudalf Roklem, Doktor der Thaumaturgie"

"Hier arbeitet der Mistkerl also!", sagte Kalessan, "Na dann, lass uns anfangen!"

"Einen Moment noch, wie spät ist es denn?"

"Was?"

"Oh, vergiss es!"

Sie traten gleichzeitig auf die Tür ein, was einmal mehr zur Folge hatte, dass diese mehrere Meter weit in den Raum gesprengt wurde und gegen die hintere Wand des Zimmers geschleudert wurde, wo sie in mehrere Stücke zerbarst.

Als die beiden Drachen den Raum betraten, sahen sie einen großen, schweren Holztisch, der im linken Teil des Zimmers stand. Wie es bei diesen Einrichtungsgegenständen üblich war, lagen große Stapel von Papier darauf, sowie ein Tintenfass und eine Feder, sowie zwei Kerzenständer aus massivem Eisen.

Nach ein paar Sekunden erhob sich ängstlich ein eher seltsames Exemplar der Spezies Mensch hinter dem Tisch.

Sein Gesicht bestand mehr aus braunem Bart als aus Gesicht und seine gleichfarbigen Haare fielen bis auf die Schultern. Mit einer Mischung aus Erstaunen, Furcht, Ärger und Verwirrung sah er die beiden Drachen an, die den Raum jetzt betraten und auf ihn zu gingen.

Morkulebus begann, sich die vielen Bilder und Zeichnungen an den Wänden anzuschauen, während Kalessan direkt zum Tisch ging und sich mit den Händen darauf abstützte.

"Hallo, wir möchten mit Saurudalf reden! Aber lass mich raten: Er ist gerade nicht zu sprechen?"

Der Mensch sah ihn weiterhin verwirrt an.

"Dacht ich’s mir doch!"

Kalessans Blick fiel auf einen kleinen Teller, der auf dem Tisch lag. Auf dem Teller wiederum lagen zwei Hälften dieser Dinger, die von den Menschen immer "Brötchen" genannt wurden, aufeinander. Zwischen ihnen steckte eine dicke Scheibe Fleisch und noch ein paar weitere, undefinierbare Dinge.

"Oh, was zu essen! Ich darf doch?", sagte er. Ohne eine Antwort abzuwarten, nahm er das seltsame Brötchen und biss einmal herzhaft hinein.

"Hm, das ist gut…wirklich gut – wie nennt ihr Menschen das?", fragte Kalessan mit vollem Mund.

Der Mensch starrte ihn nur weiter fassungslos an, brachte aber irgendwie "…ein…ein Börger…" als Antwort hervor.

"Oh, ein Bürger? Aus dieser Stadt?"

"…ich…denke schon…"

"Jetzt seid ihr Menschen also auch unter die Kannibalen gegangen… Morki, hast du schonmal einen Bürger aus Neudorf gefressen?"

"Nein!"

"Ihr schmeckt verdammt gut, hat euch das schonmal jemand gesagt?", wandte sich Kalessan wieder an den Menschen.

Dieser schien wieder langsam zu Bewusstsein zu kommen: "Hört mal, was wollt ihr von mir?"

Kalessan biss nochmals in den Börger.

"Wir möchten wissen, wo sich Saurudalf momentan aufhält. Und du tätest besser daran, es uns jetzt gleich zu sagen…", sagte er dann mit einem freundlichen Lächeln – das brachte die Leute immer aus dem Konzept.

"Ich bin nur sein Sekretär! Woher soll ich wissen, wo er sich gerade befindet? Wisst ihr, Herr Saurudalf ist ein vielbeschäftigter Mann und…"

"Ich habe mich vielleicht nicht ganz klar ausgedrückt…vielleicht hilft dir das hier auf die Sprünge?"

Er nahm einen der eisernen Kerzenhalter und brach ihn in der Mitte durch.

Die Augen des Menschen weiteten sich wieder.

"Da…dada…dadadas war massives Eisen, sowas kann man nicht einfach verbiegen…geschweige denn zerbrechen! Was zur Hölle seid ihr eigentlich?"

"Wenn ich dir jetzt erzählen würde, wir beide wären Drachen, die in Menschenkörpern stecken und nicht mehr hinaus kommen, würdest du mir dann glauben, Menschlein?", lächelte ihn Kalessan an.

"Nun, wir leben in einer Welt der Magie, hier ist alles möglich und…ihr seid wirklich Drachen?"

"Können sich Tausende von Toten irren?", entgegnete Kalessan lächelnd.

Morkulebus gesellte sich wieder neben Kalessan.

"Du, irgendwas sagt mir, dass wir hier nichts Neues herausbekommen. Lass uns gehen!"

Auf einmal wurde eine Tür in der Wand hinter ihnen aufgestoßen. Heraus kam ein Mensch, der es in der Größe schon fast mit Kalessans Menschengestalt aufnehmen konnte. Er hatte einen kurzen Stab in der Hand, den er mit beiden Händen festhielt. Der Mann schrie: "VERRECKT, IHR DRACONISCHEN MISTKELRE, VERRECKT!"

Dann begann er, unter lautem Getöse mehrere Energieladungen aus dem Stab auf Kalessan und Morkulebus abzufeuern. Irgendwann machte der Stab nur noch *puffpuff*.

Der Mann rannte los, aus der Tür hinaus auf den Korridor und war verschwunden.

Die beiden Drachen starrten sich zunächst selbst und dann einander mehrere Sekunden lang an.

"Wer zur Hölle war das?", fragte Kalessan.

"Das war Ivel, einer von Saurudalfs engeren Mitarbeitern.", antwortete der bärtige Mensch hinter dem Tisch.

Kalessan und Morkulebus sahen sich nochmals an. Dann rannten auch sie los, dem Mann hinterher.

"Hey, so wartet doch, oh mächtige Drachen!", hörten sie den Menschen noch rufen, als sie auf die Treppe stürmten und dem Flüchtenden hinterher hetzten.

Sie rannten, rammten und stießen sich durch regelrechte Horden von Magiern die Treppe nach unten. Ivel konnte nicht weit von ihnen entfernt sein, da die einzelnen Magier, die sie beiseite stießen noch immer einen sehr frisch empörten Gesichtsausdruck trugen.

Nach einigen Minuten kamen sie unten an, rannten durch das geöffnete Portal hindurch auf den Platz davor – und sahen sich Ivel gegenüber, der zwei Armbrüste auf sie richtete.

"So lässt es sich doch gleich viel besser zielen! Absolut freies Schussfeld, keine Möglichkeit mehr für euch, euch zu verstecken und keiner hier kümmert sich um unseren kleinen Disput! So macht mir die Sache Spaß!"

Und wirklich, die Leute ringsum gingen alle weiter ihren Tätigkeiten nach, als würde nichts besonderes geschehen. Entweder gehörte eine Aktion wie diese hier zur Tagesordnung oder die Ignoranz der Menschen ging weiter, als die Drachen gedacht hatten…

Ivel sprach weiter: "Nun gut, Schlangenbrut – oh, das reimt sich ja, hihihi – wo ist denn der Rest von euch? Saurudalf sprach von zehn Drachen in Menschenkostümen, nicht von zwei!"

Kalessan verdrehte entnervt die Augen und sah dabei plötzlich, wie weit über ihm im Licht der untergehenden Sonne etwas kurz aufblitzte.

Morkulebus antwortete Ivel: "Bist du wirklich so dumm und denkst, wir würden dir verraten, wo die anderen sind?"

"Ich töte euch so oder so, da könnt ihr es mir genauso gut auch verraten!"

"Moment…das macht doch überhaupt keinen Sinn!", entgegnete Morkulebus.

Kalessan fragte sich gerade, ob er sich in dem kurzen Aufblitzen getäuscht hatte, als es noch einmal geschah. Er sagte: "Sie befinden sich momentan in der Taverne ‚Rumstehender Esel‘ und haben sich dort Zimmer gemietet."

Morkulebus flüsterte ihm entrüstet zu: "Kalessan, was soll das? Willst du die anderen auch noch gefährden!?"

"Gefährden? Denkst du, diese kleinen Splitter da können einen Drachen verletzen?"

"Bitte vergiss nicht, dass wir momentan vielmehr Menschen sind als Drachen!"

Das Aufblitzen wiederholte sich. Es war schon deutlich näher gekommen und wiederholte sich jetzt immer wieder in regelmäßigen, kurzen Abständen.

Ivel hatte das ständige Nach-Oben-Sehen Kalessans bemerkt. Er sprach: "Ich…kenne diesen Trick… Doch andererseits…andererseits könnte da oben ja auch wirklich etwas sein… Ich werde es mir besser ansehen. Doch damit ihr mich nicht einfach so überwältigen könnt, werde ich dazu einen Schritt zurücktreten."

Er machte einen Schritt rückwärts und legte den Kopf leicht in den Nacken.

Kalessan lächelte.

Das folgende Geräusch konnte er dank seines exzellenten Gehörs nun in seiner "klanglichen Reinheit", wie er es nennen würde, voll genießen:

Wupwupwupwupwupwupflatschpling


Ivel kippte zur Seite. Blut strömte aus einer kleinen Wunde in seiner Stirn und in seinem Nacken. Unter ihm lag ein kleines, rot gefärbtes Geldstück. Kalessan hob es auf, schnippte es in die Luft und fing es spielerisch wieder auf – Drachen lassen nunmal keine einzige Möglichkeit aus, ihren Hort zu erweitern.

Eine Stimme aus der Menge kam: "Hat wohl wieder jemand das Münzwerfverbot auf der Spitze des Turms missachtet…"

Eine junge Frau, die das Geschehen beobachtet hatte, rief mit fassungsloser Stimme: "Diese…diese Münze hat gerade einen Menschen umgebracht…und ihr hebt sie noch auf? Das bringt doch Unglück! Sie ist ja noch ganz vom Blut dieses armen Mannes besudelt!"

Kalessan sah die Münze an, die ihre rote Farbe tatsächlich nur vom Blut Ivels zu haben schien – und stecke sie sich in den Mund. Er lutschte ein paar Sekunden darauf herum und spuckte sie wieder aus. Hervor kam ein Goldtaler – die Studenten hier hatten für ihre Streiche anscheinend ein recht großes Budget…

Kalessan sagte: "Jetzt ist sie sauber!"

Die Frau fiel in Ohnmacht.

Während sich die ersten Menschen daran machten, den toten Körper nach Wertsachen zu durchsuchen, machten Kalessan und Morkulebus sich wieder auf den Weg zurück zur Taverne. Plötzlich ertönte hinter ihnen eine Stimme: "So wartet doch, edle Drachen, ich möchte euch begleiten!"

Es war der bärtige Mann von oben.

Kalessan rollte mit den Augen und drehte sich um: "Jetzt hör mal…ähm…"

"Oh, verzeiht, edle Drachen, ich vergaß, mich vorzustellen.", er neigte sein Haupt, "Mein Name ist Karlmax."

"Nun gut…Karlmax…ich schlage dir vor, du haust jetzt besser ab, ansonsten erleidest du garantiert dasselbe Schicksal wie dein Kollege da hinten – nur wird es diesmal kein Zufall sein und durch echte Handarbeit geschehen."

Kalessan hielt ihm die Münze vor sein Gesicht.

"Er war nicht mein Kollege – ich konnte ihn eh nicht leiden!"

"Schön für dich – und jetzt: Verpiss dich!"

"Ähm, wa…was? Wie? Äh…wie soll ich mich verpissen, oh edler Drache?"

"Ach, vergiss es…hau einfach ab, ja?"

"Einen Moment! Ihr wollt doch meinen Meister Saurudalf finden, nicht wahr? Ich…kann euch vielleicht doch sagen, wo er sich aufhält!"

Eine halbe Stunde später standen sie vor der Taverne.

"Oh, ich kann es noch immer nicht glauben, ich werde gleich die mächtigsten Geschöpfe dieser Welt treffen!", rief Karlmax freudig aus.

"Die hast du schon getroffen, Menschlein. Gleich siehst du nur den Rest von ihnen.", erwiderte Kalessan.

"Setzt du dich jetzt also schon auf eine Stufe mit Smahug?", fragte Morkulebus.

"Nein – ich stelle mich über ihn. Ohne seine Magie ist er schließlich nur ein desillusioniertes Häufchen Elend, du hast ihn doch gesehen. Er hat sich die ganze Zeit immer an seine Magie geklammert, seine gesamte Macht, sein Eigen, sein Schatzzz. Smahug benutzte die Magie, um sich sein gesamtes Leben zu vereinfachen. Ich würde mal gerne wissen, ob er ohne seine Magie überhaupt noch Jagen gehen und überleben könnte. Und dann sein ständiger Kontakt zu den Menschen!", schnaubte Kalessan verächtlich, "Er hat es schon immer gebraucht, seinen ach so reichen Wissensfundus diesen Wichten mitzuteilen und so seine ach so ‚überlegene‘ Intelligenz zum Ausdruck zu bringen. Ich sage dir, der ständige Kontakt zu den Menschen hat ihn verweichlicht, ihn von dem abgewandt, was ein Drache eigentlich sein sollte…hörst du mir eigentlich zu, Morki?"

"Nein."

"Dann lass uns rein gehen!"

Als die beiden Drachen sich in dem Raum umsahen, konnten sie nur Adorelon entdecken, der am Tresen auf sie wartete – von den anderen war keine Spur zu sehen. Der Schankraum war anscheinend noch ziemlich leer, er würde sich jedoch aufgrund der fortgeschrittenen Tageszeit wahrscheinlich schon bald mit Besuchern füllen.

"Wo sind die anderen?", fragte Kalessan.

"Nachdem sie ein paar Minuten lang mit sich alleine waren, haben sie allesamt einen extremen Stimmungseinbruch bekommen und hocken nun auf ihren Zimmern herum. Smahug ist da noch am schlimmsten – mit dem kann man kaum mehr reden! Ich sehe die Sache nicht so wild, dass wird schon alles werden…", antwortete Adorelon.

"Entschuldigt!", meldete sich Karlmax zu Wort, "Seid ihr auch ein Drache?"

Adorelon sah ihn schief an.

"Wo habt ihr denn den aufgetrieben? Im Gefängnis? Bei dem Bart hat der doch sicher 50 Jahre gesessen!"

"Bart?", erkundigte sich Morkulebus.

"Das haarige Ding da im Gesicht."

"Oh! Nein, der arbeitet für Saurudalf und sagte er könne uns zu dessen Versteck führen. Ich hoffe für dich, dass das auch stimmt, Kleiner! Wie dem auch sei, würdest du bitte so freundlich sein und die anderen holen, damit wir weitermachen können, Adorelon?", sagte Kalessan.

"Nein, ich denke wir sollten diese Nacht noch hier verbringen – die Dunkelheit bricht gerade herein, da wären wir auf der Straße zu auffällig. Außerdem sind mir die anderen noch nicht bereit dazu, wir sollten sie eine Nacht lang ausruhen lassen, dann geht es ihnen bestimmt besser.", erwiderte Adorelon.

"Weißt du was? Es ist mir egal, was du denkst – ich möchte aus diesem Körper heraus!"

"Smahug ist nicht in der Verfassung dazu, Befehle zu erteilen, deswegen muss jemand anders diesen Posten übernehmen."

Kalessan starrte ihn hasserfüllt an.

"Und du bist natürlich geradezu prädestiniert dafür, nicht wahr? Was nimmst du dir eigentlich das Recht heraus, hier den großen Anführer spielen zu dürfen?"

"Ich bin nach Smahug immerhin der Älteste vor dir, Kalessan!"

"Oh ja, um gigantische 134 Jahre Unterschied, oh Ältester und damit natürlich auch Weisester unserer Rasse!", giftete ihn Kalessan an.

"So verlangt es die Tradition – wenn es dir nicht passt, kannst du nachher gerne bei Smahug Beschwerde einreichen!"

Kalessan starre ihn weiterhin wütend an, drehte sich nach einigen Sekunden um und wollte die Treppe hochstürmen, prallte dabei jedoch mit Karlmax zusammen, der immer noch hinter ihm stand.

"Verzeiht, oh Drache, aber ich hätte da noch einige Fragen an euch…", sagte dieser, wurde aber gleich von Kalessan unterbrochen: "Und du, Kleiner, du hörst mir jetzt mal genau zu! Ich kann Menschen generell schon nicht ausstehen. Menschen, die mich nerven, sind noch viel schlimmer dran – weißt du, was ich mit allen Menschen, die mich jemals nervten, gemacht habe?"

"Ähm…nein?"

"Die meisten habe ich bei lebendigem Leibe verschlungen, den Rest auf andere Art und Weise getötet. Doch ich kann dir versichern: Es war immer qualvoll und langsam. Was ich dir damit sagen will, ist folgendes: Wenn du mir noch einmal, nur noch ein einziges Mal auf die Nerven gehst, wird dein Schicksal nicht sehr anders aussehen. Und es ist mir egal, was andere ach so autoritäre Drachen sagen – verstanden?"

Ohne ein weiteres Wort stürmte Kalessan die Treppe hoch und auf das für ihn gemietete Zimmer.

Karlmax sah ihm nur verwirrt nach. Dann sagte er: "Er kann Menschen nicht besonders gut leiden oder?"

Adorelon antwortete ihm: "Stimmt, um nicht zu sagen: Er verachtet euch alle aus tiefstem Herzen. Und er ist in dieser Beziehung sehr konsequent."

"Aber warum?"

"Warum? Nun, vielleicht weil ihr euch wie eine Seuche über die gesamte Welt ausbreitet, die Wälder abholzt, mit Dingen rumspielt, die ihr nicht versteht, nichts anderes zu tun habt, als Kriege zu führen und liebend gerne Drachen tötet!?"

"Oh…"

"Vielleicht kann er euch aber auch deswegen nicht leiden, weil es nicht besonders günstig ist, wenn man die Angewohnheit hat, sich andauernd mit seinem Hauptnahrungsmittel anzufreunden!?"

"Oh…"

"Hm, vielleicht aber auch deswegen, weil Menschen einst seine gesamte Familie und fast auch ihn selbst umbrachten?"

"Oh…bitte, was?"

"Da war er schon im heranwachsenden Alter und hatte seine große Liebe gefunden…ich weiß jetzt nicht mehr, wie sie hieß. Auf jeden Fall kamen die Drachentöter in die Höhle, als Kalessan gerade weg war und seine Angebetete schlief. Die Menschen brachten sie um und zerstörten danach die Eier. Kalessan fand sie gerade, als sie sich an seinem Hort gütlich taten. Er ist vollkommen ausgerastet. Hat sie alle an Bäume gefesselt und dann jeden Einzelnen vor den Augen der anderen fünf Tage lang gefoltert…so erzählt man sich. Damals nannte man ihn auch noch Stormblazer – frag mich bitte nicht, warum!"

"Oh…das tut mir leid für ihn!"

"Sag es ihm doch, er interpretiert das wahrscheinlich nur als ’nerven‘ und macht seine Drohung wahr…wie gesagt, er ist sehr konsequent."

Zwei Stunden später hielt sich nahezu die halbe Stadt im Schankraum des "Rumstehenden Esels" auf. Die anderen Drachen waren nun auch alle aus ihren Zimmern gekrochen, mischten sich unter die Menschen und versuchten, sich die Zeit zu vertreiben.

Karlmax saß zusammen mit dem immer noch traurig dreinblickenden Smahug am Tresen und trank ein alkoholhaltiges Getränk nach dem anderen, wobei er dem Drachen einige seiner äußerst interessanten Theorien erläuterte:

"Also, passu auf! Da isch die Bu…die Bur…die Burschwasie oder so, dassin die Leute, die die ganze Knede ham. Un dann isch da dasch Pro…dasch Prole…Proledingschbumsch un…undie ham alle keine Knede. Verstehschtu? Und irjenwann, wenn die Pro…die Prole…diese armen Schweinsens die Schnause voll ham, dann kommendie so an un machen die jesamde Burschwodingsch feddisch…verschtehst?"

Er hatte in Smahug einen geduldigen, jedoch teilnahmslosen Zuhörer…

In zwei verschiedenen Ecken des Schankraumes saßen Adorelon und Kalessan, jeder zusammen mit je einer menschlichen Frau. Während Adorelon seine Schwäche für menschliche Frauen zeigte und eher offen mit seinem Mädchen plauderte und auch ein wenig flirtete, sagte Kalessan zu seiner Frau nur Dinge wie "Oh wie gerne würde ich jetzt mit dir in eine dunkle Gasse gehen und dich vernaschen!", worauf diese nur dämlich kichern konnte, unwissend darüber, dass ihr Gegenüber das Gesagte vollkommen wörtlich meinte.

Neidhöcker saß an einem Tisch, an dem gerade ein Wettkampf im Armdrücken lief und wo er durch seine außergewöhnlichen Kräfte schon bald als Champion des Abends galt und die Wetten für ihn mit einer Gewinnspanne von 1:1.0001 liefen.

Droca sah sich schon bald von einer großen Horde Menschen umzingelt, die alle wollten, dass er ihnen seinen Namen auf ihre mitgebrachten Papierfetzen, Bilder, Taschen oder Körper schrieb.

Ganz anderen Problemen gegenüber sahen sich die "Frauen" des Rates. Während Tjamat zwar immer wieder von menschlichen Männern aufgrund ihrer Schönheit angesprochen wurde, war nach dem ersten Wortwechsel sofort Schluss mit dem Flirten – die meisten Männer liefen würgend und mit der Hand vorm Mund hinaus.

Schneeweißchen wurde jedoch penetranterweise von einem Menschen traktiert, der andauernd versuchte, mit ihr ein Gespräch anzufangen. Nun sei erwähnt, dass Schneeweißchen zwar die menschliche Sprache beherrschte, sie aber nie anwendete. In den kalten Nordlanden, aus denen sie kam, war es fast nie nötig, Menschlich zu sprechen. Die Menschen die sie dort traf, waren entweder tiefgefroren oder wollten sie töten – beides keine gute Grundlage, um eine gepflegte Konversation zu betreiben… Mal ganz davon abgesehen, dass Schneeweißchen viel zu stolz war, diese "niedere" Sprache zu sprechen.

Irgendwann setzte sich dieser Mensch jedenfalls neben sie und begann, sie damit zuzusülzen, wie "bezaubernd" sie doch sei, wie "atemberaubend" ihre Schönheit und wie "grazil" ihre Gesichtszüge, dass er noch nie so eine "elfengleiche, perfekte" Frau gesehen habe und wie gerne er sie doch kennen lernen würde. Ihr Schweigen interpretierte er als angeborene Stummheit und ihre Geduld als offenes Interesse für ihn. Nach einiger Zeit riss jedoch selbst Schneeweißchens draconischer Geduldsfaden. Sie nahm Hans und schleuderte ihn ohne große Anstrengung durch die halbe Taverne an die gegenüberliegende Wand. Seine Reaktion darauf war nur: "Eine wunderschöne Frau, die auch noch stark wie ein Bär ist…genau mein Fall!"

Keine solchen Probleme hatte Glaureng. Sein Gestank manifestierte sich bereits als grünliche Wolke, die über seinem Tisch schwebte und jeden, der nicht selbstmordgefährdet war, auf großem Abstand hielt.

Bleiben noch Morkulebus und Vasdendas. Die beiden befanden sich gerade in einer Konversation. Morkulebus sagte: "Ich kenne dich jetzt schon seit 1348 Jahren und verstehe immer noch nicht, warum du dir als Drache eine pazifistisch-vegetarische Grundhaltung zugelegt hast. Ich könnte mich keine zwei Tage nur von Pflanzen und Wurzeln ernähren!"

"Weißt du was? Ich verstehe euch alle nicht, wie ihr all diese Geschöpfe der Natur so sinnlos und brutal abschlachten könnt, um dann ihre Eingeweide raus zu reißen und diese dann noch zu essen! Das ist doch widerlich, abartig!"

"Ich find’s eher…lecker! Komm schon, du hast es doch noch nie ausprobiert!"

"Werde ich auch nie. Stell dir nur mal vor: Du bist ein Mensch, der sagen wir 30 Jahre lang glücklich und zufrieden vor sich hin lebt, was für ihn ja schon eine recht lange Zeit ist. Eines Tages geht er dann vielleicht nichts Böses wollend in den Wald, um Blümchen zu pflücken oder sich an Mutter Natur zu erfreuen und auf einmal kommt dann so ein daher geflogener schwarzer Drache an und beendet sein Leben mit einem Handstreich. Wie würdest du es finden, wenn dir jetzt jemand einfach so dein Lebenslicht ausblasen würde und du nichts dagegen tun könntest?"

"So ist der Lauf der Dinge! Doch lassen wir das, hier kommen wir eh zu keinem Ergebnis…was mich viel mehr interessiert, ist, wie du bis zum heutigen Tag überleben konntest, ohne irgendeinem Lebewesen Schaden zuzufügen. Die Drachentöter werden dich kaum verschont haben, nur weil alle wissen, wie friedlich und unbeschwert du vor dich hin lebst…"

"Ich habe mich magisch schon sehr früh selbst ausbilden lassen. Ich habe es sogar geschafft, meine Höhle so zu tarnen, dass nur ein Minimum an Drachentötern sie je gefunden hat und eindringen konnte!"

"Und was hast du mit denen gemacht?", fragte Morkulebus.

"Nun, zuerst habe ich sie immer freundlich zum Essen eingeladen…"

"Hat es denn geklappt?"

"Nun…nein, sie haben meine Einladung immer missverstanden."

"Und was hast du stattdessen gemacht?"

"Dann bin ich immer schnell geflohen und habe mir eine neue Höhle gesucht…", antwortete Vasdendas mit gesenktem Haupt.

Morkulebus schüttelte nur noch den Kopf.

Diese Diskussion und die anderen Aktivitäten der Drachen zogen sich jedenfalls noch den gesamten Abend hin, bis der Rat nach und nach beschloss, zu Bett zu gehen.

Als Kalessan am nächsten Morgen aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt. Er lag auf seinem Rücken und sah, wenn er den Kopf ein wenig hob, seinen flachen und mit weicher, fleischfarbener Haut bedeckten Bauch, auf dem die Bettdecke unordentlich ausgebreitet war. Seine wenigen, im Vergleich zu seinem eigentlichen Körper kläglich dünnen Beine und Arme flimmerten ihm hilflos vor den Augen.

Kalessan schrie.

Er war jedoch ein wenig enttäuscht, als sich seiner Kehle nur lächerliche 60 Dezibel entrangen.

Wenige Sekunden später kamen die anderen Ratsmitglieder in den Raum hinein gestürmt, Smahug an der Spitze.

Er rief: "Was? Was ist los? Was ist passiert?"

Die anderen schauten nur hinter Smahugs Rücken hervor und Kalessan neugierig an.

"Ich..ähm…ach nichts, ich dachte beim Aufwachen, ich hätte alles nur geträumt – aber wie du siehst, hat sich relativ wenig verändert… Wenigstens scheinst du wieder bei Verstand zu sein!"

Smahug runzelte: "War ich das etwa irgendwann nicht?"

"Vor wenigen Stunden das letzte Mal."

"Oh…daran kann ich mich gar nicht mehr erinnern…", antwortete er mit auf einmal seltsam verträumter Stimme.

"Sag mal, Smahug, geht es dir irgendwie…nicht gut? Hat dich der Schock vielleicht doch schwerer getroffen?"

Wieder mit verträumter Stimme und abwesendem Blick, antwortete er: "Welcher Schock?"

"Deine Magie – deine verlorene Magie. Du hast gestern den ganzen Abend über den Verlust deiner ach so kostbaren draconischen Magie getrauert!"

Smahug schien irgendwie müde. Mit entsprechender Stimme antwortete er: "Magie…? Draconisch…? Was meinst du mit ‚draconisch‘?"

Kalessan runzelte die Stirn.

Dann fragte er: "Welcher Spezies gehörst du an, Smahug?"

"Ich…ich weiß nicht. Ich meine zu wissen, ein Mensch zu sein…doch…doch war da nicht noch was anderes?"

"Na toll, jetzt ist er völlig durchgeknallt!", spie Kalessan aus, "Na, was sagst du dazu, Adorelon, oh der du unser neuer Anführer bist?"

Dieser sah jedoch keine Spur besser aus als Smahug. Mit gleicher, abwesender Stimme antwortete er: "Ja, Mama!"

Als Kalessan sich die anderen Drachen betrachtete, sah er überall den langsam völlig verträumt werdenden Gesichtsausdruck – von der Neugierde, die vor ein paar Sekunden noch in die Gesichter seiner Kollegen geschrieben stand, war nun nichts mehr zu erkennen. Jetzt hatten sie eine Mimik, die man eigentlich nur bekommt, wenn man sehr viel verbotenes Zeug geraucht hat.

"SEID IHR DENN JETZT ALLE WAHNSINNIG GEWORDEN?", schrie Kalessan, sprang aus dem Bett, nahm Smahug und presste ihn gegen die Wand.

"Was bist du?"

"Ich…bin ein Mensch, genau wie d…"

Kalessan schüttelte ihn.

"Falsche Antwort!"

Da kam ihm eine Idee. Er zog ein Goldstück aus Smahugs Robe.

"Erinnerst du dich an das hier? Du hattest mal Tonnen davon, so viel, dass du darin baden konntest! Du hättest diese ganze verdammte Stadt kaufen können und wärest noch immer der Reichste von uns gewesen!"

Dazu bewegte er das Goldstück vor Smahugs Nase hin und her. Dessen Blick klärte sich langsam auf. Schließlich sagte Smahug "Ich…erinnere…mich…" und lächelte ihn an. Dann wurde er sich seiner Situation schlagartig wieder bewusst. Er vergrub seine Hände im Gesicht und heulte: "Und ich kann nie mehr zurück zu meinem schönen Schatz! Und…UND ZU MEINER MAGIE!"

"Oh nein…jetzt fang bitte nicht wieder damit an!", sagte Kalessan – ohne Erfolg.

Die anderen Drachen standen nur im Raum herum und starrten sie verständnislos-verträumt an.

"Was glotzt ihr alle so? Jetzt bringt dieses Weichei hier raus und lasst mich alleine…ich muss nachdenken!"

Wenigstens konnten sie noch seine Befehle ausführen – und taten es sogar. Doch was brachte es, wenn man eine Horde von Idioten als Untertanen hatte? Als die Drachen aus dem Raum verschwunden waren, erschien Karlmax in der Tür.

Kalessan sagte finster: "Was zur Hölle ist hier eigentlich los?"

Der Magier antwortete: "Nun, es fing an, kurz nachdem ihr auf euer Zimmer gegangen seid. Die anderen blieben noch ein bisschen unten, doch als ich mich mit ihnen unterhielt, wurden sie immer abwesender. Sie vergessen, wer sie sind…oder besse – was sie sind. Und es wird immer schlimmer."

"Aber warum? Einige von ihnen sind früher schon tagelang in ihrer menschlichen Form gewesen…Adorelon sogar ein paar Jahre, als er die Beziehung zu dieser Bauerntochter hatte…"

"Nun, ich habe mir in der Nacht Gedanken darüber gemacht und bin zu dem Schluss gekommen, dass das physische Erscheinungsbild in dem sie sich momentan befinden, sich ihres Geistes bemächtigt und…ach verdammt, ich hatte doch so einen Merksatz dafür. Ah, genau, passt auf, ich habe ihn: ‚Das Schwein bestimmt das Bewusstsein…‘ Moment…nein…nein, das war es nicht…"

Er sah auf.

Kalessans Blick, mit dem dieser zurück starrte, sagte: "Du wirst das jetzt noch einmal so wiederholen, dass ich es auch verstehe, ansonsten passiert etwas sehr, sehr schlimmes!"

"Nun, ähm…ihr müsst verstehen: Eure Magie ist eure Essenz. Die Magie ist das, was euch als Drachen kennzeichnet, wenn ihr euch in euren menschlichen Körpern befindet. Jetzt, wo euch eure Magie fehlt, unterscheidet ihr euch nicht von anderen Menschen. Deswegen beginnt ihr, welche zu werden…", er stockte und begann nachzugrübeln, "Hm…oder war es ‚Das Bein bestimmt das Bewusstsein‘?"

"Wenn die anderen langsam zu Menschen werden – was ist dann mit mir? Ich weiß, dass ich ein Drache war…bin."

"Ich bin mir nicht sicher, aber ich denke es liegt daran, dass ihr meine Spezies noch nie…so gut leiden konntet. Deswegen weigert sich euer Verstand hartnäckig, den Glauben anzunehmen, ihr wäret der von euch selbst erwählte größte Feind…(hmmm, ‚Die Pein…‘?)…ähm…aber ich bin auch fest davon überzeugt, dass ihr euch der Verwandlung nicht sehr viel länger entziehen könnt…(‚Der Leim…‘?)"

"Und wieviel Zeit habe ich noch?"

"Ich weiß es nicht. Vielleicht noch ein paar Stunden…(‚Der Hain…‘?)"

"Oh verdammt! Also gut, du weißt wo Saurudalfs Versteck ist. Wie schnell kannst du uns dort hinführen?"

Karlmax‘ antwortete abwesend: "Jaja…(‚Herr Klein…‘?)"

Kalessan nahm ihn an der Kehle und hob ihn auf eine Höhe mit seinen Augen.

"Hör mal zu: Du wirst jetzt aufhören über diesen dämlichen Merksatz nachzudenken. Du wirst mich und meine Kollegen jetzt zu Saurudalfs Versteck führen. Du hast eine Stunde Zeit. Ansonsten wird die letzte Handlung meiner draconischen Existenz noch einmal meine Lieblingsbeschäftigung sein – das Ausblasen von menschlichen Lebenslichtern auf extrem brutale und unangenehme Art und Weise."

Karlmax wand sich in Kalessans stählernem Griff und röchelte.

Kalessan ließ ihn fallen, beugte sich über ihn und fragte fröhlich: "Na, kann’s losgehen?"

Karlmax führte den Rat zum Eingang der Kanalisation von Neudorf.

Es hatte sich als nötige Maßnahme erwiesen, die neun abwesenden Drachen mit dem Menschen zusammen zu ketten, weil sie ansonsten von alleine keinen Schritt mehr getan hätten – ihr Bewusstsein schaltete doch schneller ab, als erwartet…

"Meine Freunde hier werden aufpassen, dass du mir nicht einfach wegrennst!", hatte Kalessan zu Karlmax gesagt.

Der gesamte Rat bildete also jetzt eine kleine Kolonne aus vor sich hin träumenden Menschen in farbigen Gewändern, die von einem grimmigen Hünen in roter Robe begleitet und von einem kleinen, bärtigen Mann geführt wurde.

"Woher weißt du eigentlich von Saurudalfs geheimen Versteck? So geheim scheint es ja nicht zu sein, wenn du davon weißt…"

Karlmax ignorierte den sarkastischen Unterton Kalessans: "Ich habe einmal heimlich in Saurudalfs Aufzeichnungen gestöbert. Da bin ich auf eine Wegbeschreibung zu seinem Versteck in der Kanalisation gestoßen."

"Das ist ja schön für dich!", antwortete Kalessan, "Mit jedem Satz, den du sagst, verschwendest du weitere wertvolle Zeit deines kurzen Lebens. Wenn ich dir also einen gut gemeinten Vorschlag machen darf: Geh weiter!"

"Ich gehe doch weiter!"

"Willst du mich nerven?"

Karlmax hob die Hände in einer abwehrenden Geste und wollte gerade die Kanalisation betreten, als er mit einem jungen Mann zusammen prallte, der diese gerade verließ. Der Mann schaute die seltsame Gruppe verwirrt an und sagte: "Also Sally hat schon zugemacht. An eurer Stelle würde ich es heute Abend noch einmal versuchen. Oder wollt ihr woanders hin? Achso, zum Sklavenhändler?"

Karlmax antwortete: "Ähm, nein, wir wollen nicht zu Sally – und auch nicht zum Sklavenhändler, wir haben…ähm, woanders einen Termin."

Der Mann zuckte nur mit den Schultern und ging weiter seines Weges.

Kalessan fragte Karlmax auf ihrem Weg in die Kanalisation: "Wer ist Sally? Und was zur Hölle hat sie in der Kanalisation zu suchen?"

"Nun…Sally ist Inhaberin eines…Geschäftes…"

"Ein Geschäft in der Kanalisation? Was verkauft sie denn da unten? Scheiße?"

"Nein, sie verkauft…gewisse Dienstleistungen…"

Kalessan zog nur die Augenbraue hoch.

"Man kann zu ihr gehen…und gegen ein gewisses Entgelt kann man mit einer Frau…zusammen sein…"

"Und das geht nur in der Kanalisation?"

"Naja, Sallys Aktivitäten werden nicht von allen als…völlig legal betrachtet…"

Zu Karlmax‘ Erleichterung hakte Kalessan nicht weiter nach, sondern schüttelte nur den Kopf.

Auf ihrem Weg durch die Kanalisation bemerkte der Drache, dass überall an den Wänden Fackeln hingen. Wozu sollte jemand in einer Kanalisation Fackeln aufhängen lassen? Und warum kamen ihnen immer wieder Menschen auf dem Weg in die Kanalisation entgegen?

Karlmax sagte: "So, jetzt kommen wir in den Haupttunnel!"

Sie bogen um eine Ecke – und fanden sich auf einer Art Straße wieder. Erneut hingen hier überall Fackeln an den Wänden. Mehrere Menschen liefen auf den breiten Randsteinen neben dem stinkendem Hauptstrom der Kanalisation entlang und bogen ab und zu in finstere Seitengassen ein. Als Kalessan einen Blick in einen der Seitentunnel warf, sah er am Ende eine Tür, über der ein hölzernes Schild hing, auf dem ein großes Messer abgebildet war. In einem anderen Tunnel war eine Tür mit einem Schild, auf dem ein brennendes Pentagramm aufgemalt war. Wieder in einem anderen Tunnel hing ein Schild auf dem eine vermummte Gestalt zu sehen war.

Nachdem sie diesen Tunnel passiert hatten, kam ihnen genau eine solche Person entgegen. Als Kalessan sie passierte, rempelte diese ihn kurz an, entschuldigte sich und ging hastig weiter. Kalessan befühlte seine Taschen und war eher weniger überrascht, als er sie leer vorfand.

Er drehte sich um und sah die vermummte Gestalt noch schnell in den dazu passenden Seitentunnel einbiegen. Kalessan rannte dem Menschen in den Tunnel hinterher und kam vor der Holztür mit dem "Vermummter Mann"-Schild zu stehen.

Er klopfte an, worauf sich der obligatorische Schlitz, durch den zwei finstere Augenpaare starrten, öffnete.

"Ja?", hieß es barsch.

"Einer von euren kleinen, dreckigen Dieben hat mich eben beraubt. Er wird eine Menge Leben retten, wenn er mir jetzt gibt, was mir zusteht."

Die finsteren Augen wurden noch finsterer. Dann ging der Schlitz zu. Von innen hörte man die Stimme des Pförtners rufen: "Jimmy, hast du eben einen zwei Meter großen Typen, mit ’ner komischen roten Robe ausgeraubt?…Du hast da mal wieder was vergessen!"

Der Schlitz öffnete sich wieder: "Es tut uns leid, er ist noch jung und relativ unerfahren. Hier, bitte!"

Eine Karte wurde durch den Schlitz gesteckt. Kalessan nahm sie entgegen. Der Schlitz ging zu. Auf der Karte stand: "Ihr wurdet von Jimmy dem Fuß ausgeraubt, offizielles Mitglied der Diebesgilde, Neudorf, HbmG. Wir danken für eure Kooperation und wünschen euch noch einen angenehmen weiteren Aufenthalt in der Neudorfer Kanalisation!"

Kalessan zerknüllte die Karte wütend mit einer Hand.

"So, das reicht…jetzt gibt es Tote!"

Er ballte seine Hand zur Faust und schlug mit aller Kraft gegen die Holztür. Der erwartete Effekt explodierenden Holzes blieb jedoch aus. Stattdessen explodierte der Schmerz in seiner Hand.

Kalessan wimmerte.

Hinter der Tür ertönte die Stimme des Pförtners: "Wir haben jetzt geschlossen, kommt morgen wieder!"

Kalessan betrachtete ungläubig seine schmerzende Hand – es hatte also begonnen.

Er rannte los.

Am anderen Ende des Tunnels stand Karlmax mit den träumenden Drachen.

"Was…was ist denn los mit euch?"

"Halt die Klappe und führe mich zu Saurudalfs Versteck. Keine Umwege, kein Verlaufen, keine ‚Abkürzungen‘, verstanden?".

Karlmax sah ihn an – direkt in seine Augen. Und was er entdeckte, gefiel ihm überhaupt nicht – er sah Panik.

Obwohl Karlmax nicht der Schnellste war und die neun Drachen hinter ihm die Fortbewegung enorm erschwerten, schafften sie es binnen weniger Minuten durch einige Seitenkanäle in einen kleinen Tunnel, der an einer Gargoyle-Statue endete.

"Und jetzt? Ich tippe auf das alte ‚Schalter finden und drücken‘-Spiel.", sagte Kalessan ungeduldig, aber mit einer gehörigen Portion Galgenhumor.

"Nicht ganz…laut Saurudalfs Aufzeichnungen müsste uns jetzt ein Rätsel gestellt werden. Leider weiß ich nicht genau, wie es lautet."

"Ein Rätsel? Warum wird nicht nach irgendeinem Passwort oder so gefragt? Das wäre doch viel sicherer!"

"Nunja, Saurudalf ist recht vergesslich, besonders was Passwörter betrifft. Aber er ist gut im Rätseln. Deswegen hat er diesen Gargoyle verzaubert, ein Rätsel aufzugeben. So hat er zumindest eine Eselsbrücke für sein Passwort…"

Kalessan zog eine Augenbraue hoch, zuckte dann aber nur mit den Schultern und ging auf die Statue zu. Die Augen des Gargoyles begannen auf klassische Art und Weise rot zu glühen. Dann sprach er:

"Halt, wer hier vorbei möchte, muss erst das schwierigste Rätsel lösen, welches da je erfunden worden ist, ansonsten…"

"Ansonsten was?", fragte Kalessan herausfordernd.

"Ansonsten wird er ein schreckliches Schicksal erleiden!"

"Das da wäre…"

"Er muss eine Stunde warten, bis er noch einen Versuch bekommt!"

"Bitte…was? Keine tödlichen Strafen? Keine alles zu Asche verbrennenden Feuerbälle? Keine rasiermesserscharfen, plötzlich aus der Wand schießenden Klingen? Keine sich langsam zusammen bewegenden Wände, die ihre Opfer langsam und qualvoll zerquetschen?"

"Nein! Mein Meister würde sich doch nicht absichtlich in Gefahr bringen. Außerdem wäre es doch ziemlich lästig, die Sauerei hinterher hier immer aufräumen zu müssen, nicht wahr?", antwortete der Gargoyle fröhlich.

"Oh…wie langweilig!", entgegnete Kalessan offensichtlich enttäuscht, "Nun gut, dann stell dein ach so schweres Rätsel!"

"Nun gut. Aber seid vorbereitet auf das schwierigste und gewiefteste Rätsel aller Zeiten, eine Kopfnuss, die nur die Allerwenigsten der Allerwenigsten knacken konnten, eine Aufgabe, die nur die Schlauesten der Schlauesten der…"

Der Gargoyle bemerkte nun Kalessans patentierten Todesblick, welcher anscheinend auch bei ihm hervorragend funktionierte…

"Ähm, ja…Verzeihung. Hier nun das Rätsel: Am Morgen geht es auf vier Bei…"

"Der Mensch!", sagte Kalessan.

"Hey, das ist gemein. Ihr kanntet das Rätsel schon!"

"Oh, ich bitte dich – das ist das älteste, dümmste und vor allem populärste Rätsel der Geschichte."

"Aber bis jetzt hat es noch keiner gelöst!"

"Nun…wie viele waren vor uns denn schon hier außer deinem Meister?"

Der Gargoyle sah sie nachdenklich an, zuckte dann mit steinernen Schultern und schob sich mitsamt der Wand, in der er befestigt war, beiseite und gab den Weg frei.

Karlmax sagte: "Ich kannte das Rätsel noch nicht!"

"Du bist ja auch kein Drache. Weiter!"

Kalessan, Karlmax und die neun halbnarkotisierten Drachen gingen durch die Tür hindurch. Dahinter befand sich ein Raum, der eher spärlich ausgestattet war: Je zwei Holzbänke standen an den beiden Seitenwänden und in der Mitte des Raumes war ein Tisch, auf dem einige Schriftrollen lagen.

Karlmax sagte: "Das hier muss der Empfangsraum sein!"

"Wozu braucht ein machtgieriger Magier in seinem geheimen Labor unter der Erde einen Empfangsraum?"

"Hoher Besuch, Freunde, Sponsoren…"

Kalessan nahm sich eine der Schriftrollen. Sie war mit dem Schriftzug "Mord ist Sport, Ausgabe 4/01" betitelt.

Die Tür hinter ihnen ging wieder zu. Aus der gleichen Richtung ertönte eine Stimme: "Guten Tag!"

Die beiden drehten sich ruckartig um. Hinter ihnen stand ein ihnen sehr bekannter Mann, der einmal mehr zwei Armbrüste auf sie richtete.

"Ivel!?", riefen sie gleichzeitig (Kalessan und Karlmax, nicht die Armbrüste).

"Nein, ich bin Esöb, der Zwillingsbruder von Ivel, den ihr so hinterhältig ermordet habt. Dafür werdet ihr mir bezahlen!"

"Wir haben gar kein Geld dabei, das wurde uns gestohlen!", antwortete Karlmax schnell, "Außerdem haben wir ihn nicht umgebracht!"

"Du hörst besser auf, mich für dumm zu verkaufen!"

"Er hat Recht, wir haben ihn nicht umgebracht. Nicht direkt zumindest.", warf Kalessan ein.

"Wenn ihr es nicht wart, wer dann?"

"Ich könnte euch jetzt die Wahrheit erzählen und sagen, dass Ivel von einer Münze getötet wurde, die mehrere hundert Meter weit fiel, eine irrsinnige Geschwindigkeit entwickelte und seinen Kopf durchbohrte. Würdet ihr mir glauben?"

"Das geschah vor der Magierakademie?"

"Ja."

"Oh diese verdammten Studenten! Eines Tages verpasse ich denen für ihre dummen Streiche eine Tracht Prügel, die sich gewaschen hat! Wie dem auch sei, ich danke euch für eure Hilfe. Jetzt muss ich euch aber leider bitten, mit mir mitzukommen – wir haben euch bereits erwartet."

Er deutete höflich auf die Tür am anderen Ende des Raumes.

Angesichts der Armbrüste blieb den beiden wohl keine Wahl. Sie setzten sich in Bewegung, öffneten die Tür und liefen den dahinter liegenden Gang hinunter. Esöb ging direkt hinter ihnen, stieß aber immer wieder mit dem geistlosen Smahug zusammen, der noch hinter Karlmax hing – und das brachte ihn langsam aus der Fassung: "Müssen diese neun Zombies denn unbedingt hinter dir herlaufen? Öffne die Tür!"

Karlmax tat wie ihm geheißen und öffnete die Tür neben ihm. Dahinter lag ein leerer, kleiner Raum.

"Binde sie ab und führe sie da hinein!"

Nachdem Karlmax auch das ausgeführt hatte, erkundigte sich Esöb: "Und sie können sich nicht aus freiem Willen weiterbewegen?"

"Anscheinend nicht, nein."

"Gut. Weiter!"

Einmal mehr markierte eine dieser langweiligen Holztüren das Ende des Ganges.

"Da durch!"

Hinter dieser letzten Tür wartete eine echte Überraschung auf Kalessan und Karlmax: Es handelte sich hierbei nicht um einen weiteren, kleinen, leeren Raum, sondern um eine Halle von relativ beachtlichen Ausmaßen. Überall standen Tische herum, auf denen, wie es sich für ein ordentliches Magierlabor gehört, verschiedenste Gerätschaften und vor allem Dutzende Reagenzgläser standen, die mit allerlei Flüssigkeiten gefüllt waren, deren Farbspektrum es einmal mehr schon fast mit dem der Drachen aufnehmen konnte.

An einem der Tische und neben einem großen Eisenkäfig stand mit dem Rücken zu ihnen Saurudalf. Vor ihm war das Prettschett positioniert. Saurudalf fluchte: "Verdammt!"

Kalessan antwortete: "Ihr wisst nicht, wie man es bedient, hm? Lasst mich raten: Es liegt an diesen komplizierten ausländischen Anleitungen, die kein Normalsterblicher verstehen kann, nicht wahr? Achso, ihr habt es ja selbst gebaut…ich vergaß…"

Saurudalf drehte sich um.

"IHR! Ich…äh…ich habe euch schon erwartet! Besonders…MEIN SEKRETÄR? Was zur Hölle willst du hier, Karlmax? Und wo ist der Rest von dem Drachengesocks?"

"Die habt ihr mit euren Mätzchen in den Wahnsinn getrieben, sodass sie jetzt glauben, sie wären Menschen. So etwas finde ich sehr unschön von euch… Ich dachte, ihr wolltet aus dieser Stadt einen lebenswerten Ort machen!", antwortete Karlmax – seine Naivität war doch wirklich zu niedlich.

"Die anderen habe ich in eine unserer Zellen gesperrt – wie er sagt, sie waren völlig geistlos…", sagte Esöb.

"Hm…interessant! Sagt mir, um noch einmal auf den Beginn unseres Gespräches zurück zu kommen, Drache, was meintet ihr damit, dass ich nicht wüsste, wie man das Prettschett bedient?"

"Wir haben euch doch gesagt, dass sich unsere Magie von der euren unterscheidet. Das Ding da hat keinerlei Nutzen für euch, solange ihr die Funktionsweise unserer Magie nicht versteht."

Saurudalf kniff die Augen zusammen und schenkte Kalessan den bösen Blick, was diesen natürlich wenig beeindruckte.

"Nun, ich lerne schnell. Ihr seid nicht zufällig bereit, es mir zu erzählen?"

Kalessan lächelte den Magier an.

"Nun gut, dann werde ich mich woanders erkundigen gehen."

"Da bin ich ja mal gespannt, wie ihr das anstellen wollt. Wenn nicht gerade Smahug wieder ein loses Mundwerk gehabt hat, dürfte dieses Geheimnis kaum in einer eurer billigen Schriften niedergeschrieben sein. Und bei dieser Angelegenheit bin ich mir ziemlich sicher, dass sogar er die Klappe halten kann." antwortete Kalessan.

Saurudalf lächelte den Drachen an.

"Er hat geredet, nicht wahr?", sagte Kalessan

"Ganz in der Nähe von Neudorf gibt es einen alten Tempel mit einer großen Bibliothek. Und rein zufällig gibt es meines Wissens nach in dieser Bibliothek auch ein Buch über "Die Geheimnisse der Drachenmagie" – verfasst mit Hilfe von Smahug, dem Weisen…"

Kalessan spitzte die Lippen und ging dann mit seinem Gesicht in eine wütend-enttäuschte Grimasse über. Er sah ungefähr so aus, als hätte ihm jemand eine Stunde lang ohne Unterbrechung ins Gesicht geschlagen.

"Ähm, Meister?", fragte Esöb.

"Ja?"

"Meint ihr den Tempel, der im Dunklen Sumpf im Norden liegt?"

"Ja!"

"Ich halte es für gefährlich, dort hinzureisen. Der Tempel ist im letzten Monat wieder einige Meter gesunken, habe ich gehört. Viele der örtlichen Mönche haben ihn schon verlassen, weil er jetzt jederzeit untergehen könnte…"

"Ach, Quatsch! So lange wird er ja wohl noch halten. Ich brauche höchstens zwei Tage bis dahin. Und für meine Studien benötige ich auch nicht viel Zeit. Doch bevor ich abreise, habe ich noch etwas zu erledigen…", sagte Saurudalf mit einem bösen Blick auf Kalessan und Karlmax.

An seinen Sekretär gewandt sagte er dann: "Zunächst einmal: Du bist gefeuert! Und dann habe ich mir für euch beide schon ein wundervolles Schicksal ausgedacht. Ich werde an euch beiden meine neueste und bösartigste Errungenschaft einweihen und euch in einen großen Bottich stecken, der bis zum Rand gefüllt ist mit kochender, brodelnder, alles auflösender…", er machte eine dramatische Pause, "ASCORBINSÄURE!"

"Ähm…Meister?"

"Ja, was ist?"

"Ähm, das mit dem Kochen und Brodeln und dem Alles-auflösen stimmt nicht so ganz…"

"Bitte…was?"

"Nun…es handelt sich nicht um eine aggressive Flüssigkeit, wie ihr vielleicht annehmt, sondern eher um…um…um…ein Pulver…"

"Ein Pulver…"

"Ein Pulver."

"Ich hatte dir doch aufgetragen, Säure für meine Folterkammer zu beschaffen!"

"Ja – und ihr hattet mir auch aufgetragen, möglichst die billigste Säure zu besorgen, die ich finden könnte. Und das war nunmal Ascorbinsäure."

"Kann man das Pulver vielleicht in Wasser lösen und so eine kochende, brodelnde und alles auflösende Säure schaffen?"

"Nein, das habe ich schon versucht."

Saurudalf schloss die Augen, presste die Zeigefinger an die Stirn, massierte sich die Schläfen und atmete ruhig ein und aus. Dann sagte er: "Nun gut…vielleicht ist es ja besser so.", er wandte sich an Kalessan, "Jetzt kann ich euch noch damit quälen, wie ich eure eigene Magie benutze, um euch langsam zu Tode zu foltern… Esöb, du wirst diese beiden hier in den Eisenkäfig sperren und sie so lange bewachen, bis ich wieder da bin – verstanden?"

"Ja, Herr."

"Diese Aufgabe ist auch wirklich nicht zu schwer für dich?"

"Nein, Herr."

"Du wirst dich auf diesen Stuhl setzen und diese beiden nicht aus den Augen lassen?"

"Ja, Herr. Nein, Herr."

"Gut."

Saurudalf drehte sich ohne ein weiteres Wort um und stürmte aus der Halle hinaus.

"Es war irgendwas mit ‚…ein‘ hinten dran…", sagte sich Karlmax.

Er saß nun schon seit ungefähr zwei Stunden zusammen mit Kalessan in dem Eisenkäfig und nutzte die Zeit, um sich über das Problem Gedanken zu machen, welches ihn schon seit einiger Zeit beschäftigte.

Kalessan saß ebenfalls in Gedanken versunken neben ihm.

"Wisst ihr vielleicht noch ein Wort mit ‚…ein‘ hinten dran?", wandte Karlmax sich an den verwandelten Drachen. Dieser saß jedoch nur da und starrte ins Leere.

"Ähm…Kalessan?", fragte Karlmax und streckte die Hand aus. Er zögerte kurz, in dem Bewusstsein, dass sein Vorhaben einem Selbstmord gleichkommen könnte – dann rüttelte er den Drachen an der Schulter. Nichts geschah.

"Kalessan? Hallo! Aufwachen! Oh, verdammt…"

Das war ein schlechtes Zeichen. Kalessan war unübersehbar geistig abwesend.

Karlmax suchte nun nach der Lösung von einem ganz anderen Problem. Er tastete seine Taschen nach Geld ab, doch seine Unterbezahlung machte sich in gefundenem finanziellem Nichts recht deutlich bemerkbar.

Er fragte den in der Nähe auf einem Stuhl sitzenden Esöb, der gerade in einer Schriftrolle las, die mit "Das Sally-Magazin" betitelt war: "Ähm habt ihr vielleicht kurz eine Münze oder ein Goldstück für mich? Ihr bekommt es auch gleich wieder."

Esöb sah kurz auf: "Ich soll dich wohl noch dafür bezahlen, dass du da drinnen sitzt? Vergiss es!"

Dann wandte er sich wieder seiner Schriftrolle zu. Auf einmal wurden seine Augen groß. Er drehte die Schriftrolle um 90 Grad. Seine Augen wurden noch größer. Esöb schaute wieder auf Karlmax und machte den Mund hastig auf und zu: "Ent…ent…oh…oooh….entschuldige mich, ich habe…oohhoohh…kurz was zu erledigen!"

Dann stand er schnell auf, rannte mit der Schriftrolle vor den Augen zunächst gegen eine geschlossene Tür, öffnete sie dann, ging hindurch und schloss sie wieder. Dann waren nur laute Oh..oohh…ohhohhhhoooohhhhs aus dem Raum dahinter zu hören.

Karlmax dachte weiter nach, wie er Kalessan aus seiner Lethargie reißen könnte. Da kam ihm eine weitere Idee.

Er ging zu Kalessan und öffnete dessen Mund und legte ein paar seiner Finger hinein.

"Na, schmeckt euch das?"

Keine Reaktion.

Zur Standardausstattung eines Bürgers, der in einer Stadt wie Neudorf wohnt, gehört immer ein Messer. Das ist so selbstverständlich, dass es nicht einmal von den örtlichen Bösewichten und Schurken bei Durchsuchungen abgenommen wird. Es gibt sogar ein Gesetz, das alle Bürger von Neudorf verpflichtet, immer ein Messer dabei zu haben. Wenn man jemandem sein persönliches Messer entwendet, droht dem Dieb darauf die Todesstrafe. Das reduzierte die Gerichtsverfahren wegen vorsätzlichem Mord ganz erheblich, da nun jeder Mörder auf "Verteidigung aus Notwehr" plädieren konnte.

Jedenfalls holte Karlmax sein ganz persönliches Messer aus dem Ärmel, zögerte kurz, biss dann die Zähne zusammen und schnitt sich in den Arm.

Dann ließ er das Blut in Kalessans geöffneten Mund laufen.

Zunächst gab es wieder keine Reaktion. Dann schloss sich Kalessans Mund plötzlich um die Wunde und begann zu saugen.

"AUA!", rief Karlmax, zog den Arm schnell weg und legte sich dann erschrocken die Hand auf den Mund, in der Annahme, Esöb könnte etwas gehört haben.

Kalessan starrte ihn zunächst an, als ob er ein saftiges Stück Fleisch wäre. Dann schaute er ihn völlig verwirrt an und schließlich betrachtete er ihn so, wie er ansonsten immer nur…Karlmax anstarrte. Sein Blick fiel auf dessen Schnittwunde.

Er runzelte die Stirn und schien erneut ins Leere zu starren. Als Karlmax schon dachte, seine schmerzhafte Aktion hätte doch keinen Erfolg gehabt, sagte Kalessan:

"Warum tust du das? Du hast mich vorher noch nie getroffen. Du weißt nicht mal mehr, ob ich die Wahrheit sage und wirklich ein Drache bin… Außerdem war ich nicht gerade nett zu dir – und dennoch machst du das alles hier mit, um mir zu helfen. Warum?"

Karlmax zuckte mit den Schultern: "Nun, sogar Saurudalf sagt, dass ihr ein Drache seid – warum sollte er sonst so etwas behaupten? Vielleicht helfe ich euch aber auch nur deswegen, weil ich schon immer einem Drachen begegnen wollte – weil ich schon immer mal auf einem Drachen reiten und die Welt von oben sehen wollte…ich bin wahrscheinlich nur wieder zu naiv…"

"Allerdings! Schon Pläne, wie wir hier herauskommen?"

"Nun…nein! Ich dachte vielleicht, dass ihr…"

"Kalessan! Karlmax!", rief eine Stimme von der Tür her, durch die sie den Raum betreten hatten. In ihr stand Smahug.

"Was macht ihr denn da drinnen?"

Kalessan antwortete: "Smahug! Geht es dir wieder besser?"

Der Drache kam näher an den Käfig heran: "Ging es mir denn je schlecht? Daran kann ich mich schon gar nicht mehr erinnern…"

Kalessan seufzte: "Nicht schon wieder…Smahug, sag mir: Was bist du?"

"Wie…was bin ich?"

"Welcher Spezies gehörst du an?"

"Ich bin natürlich ein Mensch! Was ist denn das für eine seltsame Frage?", antwortete Smahug fröhlich.

Kalessan senkte resigniert den Kopf und seufzte erneut – diesmal war sich Smahug anscheinend sicher. Dann schreckte er auf: "Karlmax, wo ist dieser Esöb hin?"

"Oh, der ist wahrscheinlich gerade auf der Toilette und schaut sich schmutzige Schriftrollen an…", antwortete dieser.

"Warum muss er dazu auf die Toilette? Warum geht er nicht in die Eingangshalle und nimmt eine der sauberen Schriftrollen?"

"Vergesst es! Smahug, könntet ihr bitte das Schlüsselbund dort nehmen und die Tür dort drüben abschließen? Das würde uns ein paar Probleme ersparen…", Karlmax zeigte auf die Schlüssel und die Tür.

"Was ist denn hinter…"

"Halt den Mund und tu es einfach! Wir wissen nicht, wann er wieder zurück kommt!", sagte Kalessan.

Smahug hob abwehrend die Hände: "Nein! Nicht in diesem Tonfall! Ich möchte zuerst das Zauberwörtchen hören!"

"Abrakadabra!"

"Du weißt, welches Wort ich meine!"

"Er hat es doch eben gerade gesagt!", stöhnte Kalessan und deutete auf Karlmax.

"Ich möchte es aber von dir hören!"

Kalessan seufzte: "Würdest du BITTE zu diesem Tisch dort gehen, BITTE das Schlüsselbund welches dort liegt aufnehmen, dich BITTE zu dieser Tür dort drüben bewegen und sie dann BITTE abschließen, WEIL UNSER VERDAMMTES LEBEN DAVON ABHÄNGT!"

"Aber natürlich, mein Freund!", antwortete Smahug fröhlich und setzte sich in Bewegung.

"Oh…das ist so erniedrigend!", stöhnte Kalessan.

Smahug probierte einige der Schlüssel aus und fand schließlich den richtigen. Kurz nachdem er ihn umgedreht hatte, wurde die Klinke von der anderen Seite heruntergedrückt.

Smahug rief: "Hahaahaaa, wir haben dich eingeschlossen, du Bösewicht!"

Esöb antwortete: "Och Mist…dann geh ich halt noch mal auf die Toilette…"

Kalessan und Karlmax befanden sich wieder auf dem Weg zur Oberfläche.

Hinter ihnen liefen die neun nun mehr als aufgeweckten Mitglieder des Rates. Sie benahmen sich wie Kinder, die gerade durch das größte Spielwarengeschäft der Welt liefen – und dabei war es nur eine stinkende Kanalisation…

"Was war eigentlich der Grund für ihren langen Aussetzer vorhin?", erkundigte sich Kalessan.

"Ich vermute, dass sie sich in einem inneren Konflikt befanden, in dem ihre alten Erinnerungen und ihr neues, menschliches Ich gegeneinander ankämpften. Eine Vergangenheit als Drache und eine Zukunft als Mensch lässt sich nunmal nicht unter einen Hut bringen. Nun, das Ergebnis dieses Konfliktes liegt hier gut sichtbar vor uns. Sie scheinen nun hyperaktiv zu sein und all die neuen Eindrücke in sich aufzunehmen, als müssten sie ihr verlorenes Gedächtnis mit Erinnerungen aller Art füllen…"

"Aber du bist dir sicher, dass sie ihre Erinnerungen von vor der Verwandlung alle wieder zurück erhalten?", fragte Kalessan.

"Ich bin mir in gar nichts sicher – ich bin mir nicht einmal mehr sicher, ob man sie überhaupt zurückverwandeln kann!", kam Karlmax‘ Antwort.

"Du wirst ja richtig aggressiv, Kleiner – so gefällst du mir!", erwiderte Kalessan mit einem Grinsen.

"Und warum geht es euch auf einmal wieder so gut? Ihr hört euch nicht so an, als wäret ihr noch vor einigen Minuten kurz davor gewesen, eure Existenz aufzugeben…", fragte Karlmax.

"Du hast Blutgruppe 0 negativ?"

"Woher…"

"Meine Lieblingsblutgruppe – lass es mich so sagen: Dafür lohnt es sich wirklich, weiter als Drache zu existieren!", antwortete Kalessan weiterhin grinsend. Dann wurde er schlagartig ernst, blieb stehen und sah Karlmax lange und seltsamerweise völlig ohne Aggressivität im Blick in die Augen.

"Danke!", sagte er dann – und ging weiter.

Karlmax sah ihm nach.

An der Oberfläche angekommen machten sie sich auf die Suche nach dem erstbesten Stall, der Pferde verleihen konnte. Auf dem Weg zu "Rudy’s Rappen" in der Stinkegasse, dem einzigen Pferdestall der auch richtige Pferde anbot, kamen sie einmal mehr an dem großen Platz vor der Magierakademie vorbei. Auf dem Platz stand eine derartig große Menschenmasse, dass es unmöglich war, den Platz zu überqueren, wenn man nicht gerade ein Bulldozer war.

Die Menge bestand nahezu ausschließlich aus menschlichen Männern im jungen bis mittleren Alter, die alle in voller Rüstung und bewaffnet waren. Sie standen halbkreisförmig um den Eingang der Magierakademie. Alle schauten einen kleinen Holzpodest vor dem Eingang an, auf dem ein Redner stand – es war Saurudalf.

Mit lauter Stimme verkündete er etwas: "…und deswegen benötige ich mindestens ein Viertel von euch, damit wir uns zusammen einen Weg durch die Armee schlagen können. Diejenigen unter euch, die diese Aktion überleben, werden reich belohnt werden!"

Karlmax fragte einen in der Nähe stehenden Soldaten: "Was ist denn los? Was für eine Armee meint er?"

"Neudorf wird von der Armee des Schräckelichen Haramasch belagert. Seine Truppen haben bereits die gesamte Stadt umzingelt und man kann nun weder in sie hinein noch aus ihr heraus…deswegen möchte der Bürgermeister jetzt losziehen, um Hilfe zu holen. Doch dazu braucht er halt ein paar Männer, um sich eine Schneise zu schlagen."

"Aber wie kann so eine Armee unbemerkt bleiben? Warum wurden wir nicht vorgewarnt?"

"Keine Ahnung…wahrscheinlich haben all die Händler, Kundschafter und Reisenden nur wieder vergessen, uns davon zu erzählen – das hatten wir schon einmal.", der Soldat zuckte mit den Schultern.

"Wie groß ist denn Haramaschs Armee?"

"So an die 1.000 Mann…"

"Hm, das geht ja noch.", erwiderte Karlmax erleichtert.

"Ja, wenn man die restlichen 99.000 Amazonenkämpferinnen seiner Armee nicht mitzählt – die sind alle anscheinend völlig begeistert von Haramasch…"

Karlmax klappte die Kinnlade herunter.

Kalessan sagte: "Diese Armee ist kein Problem für uns, sobald wir unsere Magie wieder haben. Komm mit!"

Er packte Karlmax am Ärmel und zog ihn mit sich durch die Menge – die anderen Drachen folgten brav. Wenigstens gab es diesmal wirklich was zum Glotzen…

Nach einigen Minuten voller Schubsen und Drängeln gelangte Kalessan mit seinem Anhang dem Holzpodest schon sehr nahe. Leider fielen die Drachen mit ihren farbigen Roben in der Menge so stark auf, wie ein Pottwal im häuslichen Wohnzimmer. Ihre Ankunft blieb bei Saurudalf also nicht unbemerkt.

"Ihr da! Bringt mir diese komischen Vögel in ihren bunten Roben hier her und haltet sie hier fest!"

Wenige Sekunden später sahen sich die Drachen mit Saurudalf konfrontiert und von einer Horde feindlicher Soldaten umzingelt.

"Ich weiß nicht, wie ihr euch befreien konntet…aber ich werde euren Tod nicht weiter hinauszögern! Soldaten! Bringt sie um! Hier und jetzt, vor meinen Augen!", rief Saurudalf.

"Aber Herr, warum sollen wir sie umbringen? Sie haben euch doch gar nichts getan!", erwiderte einer der Soldaten. Die anderen nickten zustimmend.

"Doch, haben sie – was wagt ihr eigentlich, meine Autorität in Frage zu stellen!?"

"Wir möchten ja nur wissen, was sie euch getan haben."

"Siiieee…sind bei mir eingebrochen und…und haben versucht mich zu bestehlen.", Saurudalf war sichtlich stolz darauf, dass er seinem Publikum zumindest eine Halbwahrheit präsentiert hatte.

"Wir wollten uns aber nur das zurückholen, was uns gehört!", schrie Kalessan den Magier an.

Einer der Soldaten sah den Drachen an und wieder zu Saurudalf zurück: "Stimmt das, was er sagt?"

Saurudalf lief rot an: "DAS IST DOCH WOHL VÖLLIG EGAL, JETZT BRINGT DIESE MISTKERLE ENDLICH UM!"

"Oh nein, so kommen wir erst gar nicht ins Gespräch.", antwortete der Soldat und wandte sich wieder an Kalessan, "Was hat euch Saurudalf denn abgenommen?"

"Wenn ich dir erzählen würde, dass ich und meine neun farbigen Kollegen hier Drachen sind, deren Magie von Saurudalf gestohlen wurde, wodurch sie jetzt in diesen Menschenkörpern feststecken – würdest du mir dann glauben?"

Der Soldat schrak zurück: "Das ist ja ein unglaubliches Vergehen! Werter Bürgermeister, bevor wir euch in eurem Vorhaben unterstützen können, muss ich euch eindringlich darum bitten, diesen Herren hier ihre Magie zurück zu geben!"

Saurudalf sah so aus, als würde er gleichzeitig kurz vor dem größten Heulkrampf und dem schwersten Wutausbruch in der Geschichte der Menschheit stehen.

So ist es äußerst bewundernswert, dass er es schaffte, sich zusammenzureißen. Jedenfalls schrie er nicht groß herum und brachte alles um, was ihm im Wege stand.

Vielmehr hob er beide Hände. Sie begannen zu leuchten.

"Vielleicht kann ich euch Drachen mit Magie nicht verletzten – aber eurem Freund und dem Großteil der anderen Menschen hier würden ein paar ordentliche Stromschläge sicherlich…schlecht tun. Deswegen tut ihr alle gut daran, mich jetzt durch zu lassen – und wehe euch, ihr versucht, mich anzugreifen oder ihr verfolgt mich…ihr möchtet nicht wissen, was dann passiert!", sagte er.

Kalessan schnaubte verächtlich. Sollte er jetzt der Beschützer dieser Menschen sein? Das wurde wirklich immer und immer besser… Er tröstete sich jedoch damit, dass seine eigene magische Immunität nun wahrscheinlich auch verschwunden sein würde und trat beiseite.

Eine kleine Gasse bildete sich in der Menge. Saurudalf bewegte sich zügig durch die Masse, die Hände leuchtend im Anschlag gehalten. Am Rande des Platzes angekommen, rannte er los.

"VERDAMMT!", schrie Kalessan und stampfte mit dem Fuß auf.

Karlmax versuchte, ihn zu beruhigen: "Ruhig Blut, Kalessan! Er kann ohne Hilfe nicht aus der Stadt raus, er ist uns hier ausgeliefert."

"Du vergisst den netten Herrn Haramasch und seine Feministentruppe, Kleiner. Allzu viel Zeit haben wir in dieser Hinsicht sicherlich nicht mehr."

Die Menge auf dem Platz begann sich langsam aufzulösen – die Soldaten waren anscheinend auf dem Weg, um die Stadtmauern zu bemannen und der aufkommenden Belagerung zu trotzen.

Karlmax sagte: "Das mit dem Krieg lasst mal meine Sorge sein!"

Er stieg auf den Podest und richtete sich lauthals an die Menge: "Ähm…Hallo? Könnte mir mal bitte jemand zuhören?"

Jemand in der Menge schien ihn tatsächlich bemerkt zu haben: "Hey Leute, schaut mal, da steht noch jemand auf dem Podest!"

Zustimmende Rufe ertönten aus anderen Teilen der Masse: "Ja, stimmt!", "Der hat sicher was zu sagen!", "Komm, sprich zu uns!", "Ja, genau, sprich zu uns!"

Der Platz füllte sich wieder genauso schnell mit Soldaten, wie er sich geleert hatte – anscheinend war jede Möglichkeit, die unangenehme Arbeit auf der Mauer noch ein wenig hinauszuzögern, äußerst willkommen.

"Ähm…hört mich an, oh Soldaten von Neudorf!", rief Karlmax in übertriebener Betonung.

Ein Blick in die Menge verriet ihm, dass diese Art der Rede nicht sehr gut ankam. Also machte er normal weiter: "Passt auf, ich weiß, wie ihr die Invasion auf unsere Stadt verhindern könnt!"

"Hört hört!", kam die Antwort aus dem Publikum.

"Diese letzten 24 Stunden hat mir eines klar gemacht: Die physische Projektion des eigenen Ich ist rückkoppelnd auf die Gedanken des betroffenen Individuums!"

Stille.

Kurze Ansätze eines halbherzigen "Hört…" waren zu vernehmen.

"Ähm…was ich sagen möchte, ist: Das, was man glaubt zu sein, das ist man auch. Das, was man weiß, das kann auch nicht falsch sein. Wenn wir jetzt einfach annehmen…nein, wenn wir wissen, dass diese Armee gar nicht da draußen steht – dann wird sie auch nicht mehr da sein, wenn wir nachsehen. Jetzt wissen wir noch, dass Haramasch mit seinen Horden da draußen wartet. Wenn wir jetzt anfangen zu wissen, dass alles seinen gewohnten Gang geht, dann kann doch gar keine Barbarenhorde existieren. Denn wir wissen, dass sie nicht existiert!", Karlmax‘ Versuch den Soldaten seine Gedankengänge zu erklären war ähnlich hilflos wie der eines Hochschullehrers, der Quantenphysik in einer Vorschulklasse unterrichten soll.

Dennoch sprangen die Soldaten auf seinen Vortrag an – wenn auch nicht so, wie sich Karlmax das vorgestellt hatte: "Hey, der Typ da scheint intelligent zu sein, das stimmt sicher, was der sagt!", "Ja, genau!", "Hey, ich weiß gar nichts von eine Barbarenhorde, die vor unserer Stadt campt und uns zu überrennen droht!", "Was für eine Barbarenhorde?"

Die Menge begann sich auf unter fröhlichem Gelächter aufzulösen.

Kalessan stellte sich neben Karlmax. Aus der absoluten Leere seines Gesichtsausdruck konnte man nur ansatzweise das herauslesen, was er über das eben Gesehene dachte.

Er sagte zu Karlmax: "Eine Frage…eine einzige Frage, dich mich Zeit meines Lebens beschäftigt hat: Ihr existiert erst seit wenigen Jahrtausenden. Ihr vermehrt euch schneller als die Karnickel. Ihr nehmt mit euren Städten und Burgen drei Viertel der gesamten Landmasse des Planeten ein. Ihr seid die erfolgreichste Spezies, die diese Welt je hervorgebracht hat…

Warum?"

Karlmax sah ihn an und lächelte – es war, als ob die Rollen getauscht wurden – und sagte: "Wir wissen halt sehr viel…"

Und dann stand Esöb vor ihnen. Er hatte eine riesige Armbrust in der Hand. Wie man unschwer erkennen konnte, war sie jedoch ein wenig modifiziert: Die Waffe war mit lauter Zahnrädern versehen und hatte statt einem Abzug eine große Kurbel, sowie ein langes, ledernes Band, welches an der Seite des Geschützes herunter hing und in dem viele weitere großkalibrige Armbrustbolzen steckten.

Er trieb die Drachen auf dem Podest zusammen und begann, böse zu grinsen.

"So…ich denke mal, ich habe jetzt die Erlaubnis von Saurudalf bekommen, euch mit meinem kleinen Baby hier umzulegen. Noch ein paar obligatorische letzte Worte?"

Kalessan bemerkte ein vertrautes altes Aufblitzen über sich und sah nach oben. Dann rief er: "Ja: ALLE IN DIE AKADEMIE!"

Esöb sah ebenfalls nach oben – diesmal war das Blitzen nicht einfach, sondern gleich dutzendfach. Und während sich die Drachen in die Akademie zurückzogen, fluchte er seine eigenen letzten Worte: "Oh, diese verdammten Studenten!"

Und dann war da wieder dieses wundervolle Geräusch:


Wupwupwupwupwupwupflatschpling


wupwupflatschpling


wupflatschpflatschplingpling


wupwupwupflatschpling


Es sah aus wie eine realistische Version des Märchens vom Sterntaler.

Die Drachen beobachteten das Schauspiel teils angewidert, teils belustigt.

Kalessan sagte: "Diese Studenten gefallen mir…sie haben genau das richtige Timing!"

Zur gleichen Zeit, außerhalb der Stadt:

Die gigantischen Horden des schräckelichen Barbaren Haramasch bereiteten sich auf ihren Sturm auf Neudorf vor.

Junge Männer machten sich bereit, für ihren Führer in den gegnerischen Pfeilhagel zu laufen und schoben den riesigen Rammbock in Richtung des großen Holztores der Stadt. Hinter ihnen folgten die ersten Wellen von Kriegerinnen und Bogenschützinnen.

Über Steine und Äste rollte der gigantische Baumstamm, auf welchem vorne ein Eisenkopf in Form eines riesigen Geschlechtsteiles aufgesteckt war – das Zeichen des Schräckelichen Haramasch. Es hatte schon seine Gründe, warum ihm die Frauen wortwörtlich in Scharen hinterher liefen.

Die Männer hatten das Stadttor erreicht. Auf Kommando holten sie mit dem schweren Baumstamm aus und ließen ihn gegen das Tor krachen. Die Erschütterung und der Lärm mussten durch die gesamte Stadt zu hören sein.

Ein weiteres Mal schmetterte der eiserne Wille Haramaschs gegen die schutzlosen Tore Neudorfs. Da rief einer der Männer, die das Gerät bedienten: "STOP! STOP! Ist euch eigentlich nichts aufgefallen?"

"Hey, an dem Rammbock da vorne steckt ja ein…"

"Nein, das meine ich nicht, Idiot! Wir müssten doch jetzt eigentlich von siedendem Öl übergossen und von Pfeilen überschüttet werden, oder?"

Zustimmende Rufe ertönten von den anderen Männern. Der Redner ging ein paar Schritte zurück, hob die Hände trichterförmig vor den Mund und rief lauthals: "HAAALLOOO! IHR DA! GEHT ES LANGSAM MAL LOS HIER?"

Keine Antwort.

"IST ÜBERHAUPT JEMAND ZU HAUSE?"

Keine Antwort.

Der Mann stapfte wieder zurück zu seinen Kollegen.

"Na toll, keiner da. Da gibt es endlich mal eine Sache, für die man ordentlich sterben kann und dann…"

"Ja, genau! Ich hatte mich schon so gefreut, heldenhaft für die Eroberung dieser Stadt draufzugehen."

"Und meine Familie braucht das Geld von meiner Lebensversicherung!"

"Von deiner was?"

"Ähm…das ist, wenn…wenn…wenn du…nein…ähm, pass auf, das funktioniert so: Wenn du…ähm…stirbst und du…und du so eine Versicherung…ähm…äh…ach, vergiss es!"

"Was ist hier eigentlich los, ihr maskulinen Faulpelze?", brüllte eine heran marschierende Kommandantin.

"Die Neudorfer wollen nicht kämpfen!"

"Was?"

"Die reagieren einfach nicht auf unsere Attacken!"

"Ist doch wunderbar, da bleibt ihr noch ein bisschen länger am Leben."

"So macht es aber keinen Spaß!", sagte einer der Soldaten enttäuscht.

"Hm…da hast du auch wieder Recht.", stimmte die Kommandantin zu.

"Und was machen wir jetzt?"

"Tja, ich würde sagen, diese Party ist gelaufen…kommt, wir suchen uns eine andere Stadt – ich sage noch schnell Haramasch Bescheid!"

"In Ordnung!", "Bis nachher!", "Tschau!", "Ssih Juh!", "Wir sehn uns!", "Bai bai!"

Es war eine fröhliche Soldatentruppe.

Kalessan schaute vorsichtig über die Mauer.

"Ich glaube es einfach nicht – die ziehen tatsächlich ab! Woher zur Hölle wusstest du, dass das passieren würde?"

Karlmax zuckte mit den Schultern: "Einen Versuch war es doch wert, meint ihr nicht auch?"

Jemand zupfte ihn am Gewand: "Ähm…Entschuldigung?

"Was ist…Neidhöcker?"

"Mooooment! Woher willst du wissen, dass das da Neidhöcker ist und nicht Droca?", unterbrach ihn Kalessan.

"Aber ich bin Neidhöcker!"

Karlmax schaute Kalessan verwirrt an: "Das ist doch eindeutig. Er hat eine viel größere Nase als Droca, außerdem ist seine Stirn leicht gewölbt und er hat ein gut sichtbares Grübchen im Kinn. Mal ganz davon abgesehen, dass seine Haare blond und Drocas Haare eher dunkelblond sind… Das Einzige, was die beiden verbindet, ist die Farbe ihres Gewandes. Obwohl…Neidhöckers Robe ist eher bronze- und Drocas kupferfarben…"

"Ist dir gerade klar geworden, dass du das erste Wesen bist, das die beiden mit 100%iger Genauigkeit voneinander unterscheiden konnte?"

"Ähm…hallo?", sagte Neidhöcker, "Darf ich auch noch was sagen?"

"Jaja, nur zu…", antwortete Kalessan.

"Wir suchen doch nach diesem Saurudalf…wie wollen wir ihn jetzt finden?"

"Ich denke, wir sollten uns auf den Weg zu ‚Rudys Rappen‘ machen und versuchen, Saurudalf dort abzufangen."

Wenige Minuten später kamen sie an besagtem Ort an.

Es handelte sich…um einen Stall.

Ein ganz normaler Stall.

Er war im fackwerklichen Stil erbaut und hatte eine große, klassische Holztür als Eingang.

Keine architektonischen Verrücktheiten.

Keine durchgedrehten Menschen, die vor dem Stall herumliefen, noch durchgedrehtere Sachen machten und gar unaussprechliche Dinge taten.

Ein ganz normaler Stall.

Kalessan mochte den Stall.

An der Tür hing ein Schild:

Rudys Rappen

Inhaber: Rudy Maphrodit


Kalessan, Karlmax und der Rest betraten das Gebäude.

Es roch nach Pferd. Und auch ein wenig nach Eseln, Schweinen und zu groß geratenen Hunden. Sie alle standen in ihren Boxen rechts und links neben dem Hauptgang, welcher an einer Art Theke endete.

Dahinter stand ein muskulöser, ungewaschener und unrasierter Mann.

Der Stall war schon fast zu klassisch.

Karlmax sagte: "Hallo…ich nehme an, ihr seid Rudy?"

"Nennt mich Maphrodit!", kam die barsche Antwort.

"In Ordnung, Herr Maphrodit. Wir wollten nur fragen, ob hier vor kurzem ein junger, recht unauffällig gekleideter Mann vorbei gekommen ist."

"Geht’s vielleicht ’n bisschen präziser, Freundchen? Junge Männer, die unauffällig gekleidet sind, kommen hier nicht gerade selten vorbei."

"Ähm…wisst ihr zufällig, wie der Bürgermeister aussieht?"

"War vor ’ner Viertelstunde hier, der gute alte Saurudalf. Wollte mein schnellstes Pferd hab’n. Hab ihm hundert Goldstücke dafür abgeknöpft. Dabei sind se doch alle gleich schnell!", Herr Maphrodit lachte.

"Dann gebt uns euer zweitschnellstes Pferd!"

"Das kostet euch 90 Goldstücke!"

"20 Goldstücke!", warf Kalessan ein und setzte sofort seinen Lieblingsblick auf.

Herr Maphrodit zeigte sich allerdings als äußerst widerstandsfähig…

"Lass nich mit mir fälschen!"

Das verwirrte selbst Kalessan. Doch zum Glück kam ihm Tjamat zu Hilfe.

"Ooohhh, schaut mal, das süße Hündchen da!", sagte sie…er zu einem riesigen, bellenden Dobermann, der angestrengt an seiner Kette riss und versuchte, ihm die Kehle rauszureißen.

Der Fakt, dass da gerade eine Frau mit der tiefsten Bassstimme sprach, die Herr Maphrodit je gehört hatte, ließ dessen Unterkiefer runterklappen und brach seine psychische Widerstandskraft gegenüber Kalessans "Tu was ich die befehle!"-Blick. Diese taktische Schwäche wurde sofort ausgenutzt.

"10 Goldstücke!"

Herr Maphrodit nickte wortlos und murmelte: "Box 4…"

Kalessan sagte zu Smahug: "Du regelst das mit der Bezahlung. Zur Not bleibst du einfach so lange hier, bis ich wieder zurückkomme, ja?"

"In Ordnung, mein Freund!", antwortete dieser fröhlich.

Kalessan verzog säuerlich das Gesicht, drehte sich dann um und ging zur besagten Box. Karlmax folgte ihm.

"Was ist?", fragte Kalessan.

"Darf ich nicht mitkommen?"

"Zu zweit sind wir viel zu langsam – ich reite alleine."

"Aber ihr kennt nicht die geheime Abkürzung durch den Wald, so wie ich…", antwortete Kalessan mit einem Grinsen.

"Sag mal, woher kennst du eigentlich immer die beste Abkürzung, den exakten Weg zum Ziel und die richtige Erklärung für alles?"

"Wenn man nicht der Stärkste oder Schnellste ist oder enorme magische Fähigkeiten, sowie einen eisernen Willen oder wirtschaftliches Geschick hat, dann hat man in dieser Stadt keine Chance zu überleben. Also schafft man sich so viel Wissen an wie möglich, um den Großen und Starken nützlich zu sein."

Kalessan seufzte: "Wenn doch nur alle Menschen eine solche Einstellung hätten… Steig auf!"

Ihm gefiel diese Abkürzung nicht. Äste peitschten gegen sein Gesicht und Zweige rissen seine Kleidung auf. Warum musste er eigentlich reiten? Ach ja, weil Karlmax nicht reiten konnte – selbst er als Drache konnte das! Ein Transportmittel, das man fressen konnte, hielt er für eine praktische Erfindung.

Nach einer Ewigkeit, wie es Kalessan schien, kamen sie aus dieser Hölle von einem Wald heraus und auf offenes Gelände.

"Wohin jetzt?", rief Kalessan.

Doch sein Reitpartner antwortete nicht.

Der Drache drehte sich um, blieb jedoch bei der Hälfte der Drehung stecken. Genau parallel zu ihnen, vielleicht 50 Meter entfernt, ritt Saurudalf und starrte sie genauso dämlich an wie sie ihn. Dennoch reagierte er früher und gab seinem Pferd die Sporen.

Die Verfolgungsjagd ging nun über das offene Feld.

Saurudalf hatte sein Pferd anscheinend bereits ziemlich verausgabt, denn obwohl Kalessan und Karlmax zu zweit auf einem Ross saßen, gelang es ihnen, immer weiter und weiter aufzuholen.

Sie kamen näher und näher, bis auf eine Entfernung von 5 Metern, da schlug Saurudalf einen Haken und vergrößerte den Abstand wieder.

So ging das Spiel eine Zeit lang weiter. Immer wieder holten Kalessan und Karlmax auf. Ab und zu kamen sie sogar so nah heran, dass Karlmax nach Saurudalf greifen konnte. Doch dieser schlug immer wieder plötzliche Haken, was einmal sogar zur Folge hatte, dass Karlmax fast aus dem Sattel fiel.

Schließlich kamen Verfolger und Verfolgter an einen Fluss, der über eine Furt durchquert werden konnte. Saurudalf ritt vor und drehte am anderen Ufer um. Er hob etwas in die Luft – es war das Prettschett.

Er rief: "Wenn ihr ihn haben wollt – dann kommt und verlangt nach ihm!"

Karlmax rief zurück: "Heißt es nicht das Prettschett?"

Kalessan sagte zu ihm: "Können wir solche Debatten jetzt wohl mal bitte außen vor lassen?"

Dann ritt er los, durch die Furt. Auf halbem Wege hob Saurudalf auf einmal den anderen Arm und begann, einen seltsamen Singsang aufzusagen. Gleich darauf war ein lautes Rauschen zu vernehmen.

Kalessan ritt weiter, doch das Rauschen wurde schnell immer lauter und lauter. Mit letzter Kraft schob sich sein Pferd aus dem Fluss hinaus. Der Drache stürzte sich sogleich auf seinen Widersacher.

Die beiden Pferde gingen zu Boden.

Nach ein paar Sekunden legte sich der Staub.

Kalessan hatte Saurudalf am Boden festgenagelt. Dieser schaute ihn völlig verwirrt an: "Das…das ist aber nicht richtig! Ihr solltet voller Erstaunen in dem Fluss warten und dann hilflos von der gigantischen Flutwelle weggespült werden…"

Kalessan drehte sich um. Das Rauschen, das er gehört hatte, war nur der Wind gewesen. Doch da war auch eine Flutwelle. Sie war knapp einen Meter hoch.

"Ich bin beeindruckt…", sagte er. Dann holte er aus und schlug Saurudalf mit der Faust ins Gesicht, sodass dieser sofort bewusstlos wurde.

"Ähm…hallo? Könnt ihr mir mal helfen?", fragte Karlmax, der bäuchlings unter dem Pferd begraben lag.

Kalessan hörte nicht auf ihn. Er nahm das immer noch blau leuchtende Prettschett in die Hand und betrachtete es kurz.

Karlmax sah, wie er es zu Boden schmetterte und wie es zerplatzte. Das blaue Leuchten, das vorher immer so intensiv gewesen war ging in die Luft über und wurde sofort von Kalessans Körper aufgesogen. Die Bedienung des Prettschetts war doch einfacher, als er gedacht hatte…

Wie ein gigantischer Wirbelsturm rotierte die blau gefärbte Luft um den Drachen, ohne jedoch einen Ton hervorzubringen. Es war, als betrachtete man einen spektakulären Effektfilm, den man vorher auf "Stumm" geschaltet hat. Schon bald war nichts mehr von dem blauen Licht in der Luft um Kalessan vorhanden.

Und dann verschwand die Sonne.

Nein, sie verschwand nicht – sie war einfach weg.

An ihrer statt erhob sich eine riesige gelbe Mauer vor Karlmax‘ Augen. Es war Kalessans Unterbauch.

Der Drache hatte seine Flügel weit ausgebreitet und das Sonnenlicht schien durch die relativ dünnen Membranen.

Seine Arme hielt er so, als ob er die Welt umarmen wolle.

Die Augen waren geschlossen.

Es war die Pose, die Menschen einnahmen, wenn sie nach einem sehr langen und sehr unfreiwilligem Aufenthalt unter der Erde endlich mal wieder an die Erdoberfläche kamen und die Sonne sehen konnten.

Dann ertönte die Stimme des Drachen. Wie eine mächtige Orkanböe drückten die erzeugten Schallwellen Karlmax zu Boden.

"JAAAAA – DAS IST MACHT!"

Kalessan schlug die Augen wieder auf. Sein Blick fiel auf Karlmax. Mit einer Handbewegung schleuderte er das erschöpfte Pferd von seinem Körper herunter.

Der kleine Mensch rappelte sich auf und betrachtete den Drachen mit offenem Mund von oben bis unten.

"Ihr…ihr seid wunderschön…", hauchte er.

"Schön für dich, Wurm!", antwortete das gigantische Wesen in leiserem Tonfall, was allerdings auch schon ausreichte, Karlmax wieder zu Boden zu schmettern.

Der Drache machte nicht einmal eine Bewegung mit der Klaue, als er den Menschen in die Luft hob, welcher sich nun, von unsichtbaren Händen getragen, in einer Höhe mit Kalessans gigantischem Gesicht befand.

Das Gesicht grinste – Karlmax lächelte zurück.

"Du denkst also wirklich, ich hätte mich geändert…", sagte der Drache, diesmal in einem Tonfall, der in Karlmax‘ Ohren keine bleibenden Schäden hinterließ.

Das Lächeln auf dessen Gesicht erstarb sofort und wich einem verwirrten Blick.

"Was…was meint ihr damit?"

"Oh, komm schon – ich hatte dich für intelligenter gehalten. Denkst du wirklich, du kannst einen 3000 Jahre währenden Persönlichkeitszug von mir einfach umpolen? Ich dachte eigentlich immer, deine Naivität wäre nur oberflächlich. Jetzt hat sie dich in den Tod getrieben…"

"Ihr…ihr wollt mich jetzt umbringen? Einfach so umbringen? Ich habe euch das Leben gerettet! Ich habe euch eure Existenz bewahrt! Ohne mich wäret ihr gar nicht in der Gestalt, in der ihr euch momentan befindet!"

Kalessan lachte: "Oh, aber Selbstbewusstsein hast du dazu gewonnen – bravo! Weißt du…ich bin dir sehr dankbar, dass du mir mein Leben gerettet hast. Ich bin dir aber noch dankbarer für die erste richtige Mahlzeit seit langem, die du mir abgeben wirst. Und natürlich für dieses wunderbare Geschenk…diese unbändige Kraft, die nun durch meinen Körper fließt…"

"Ihr werdet den anderen Drachen ihre Magie doch zurückgeben…oder?"

"Ha, deine Naivität kennt wirklich keine Grenzen! Schau dir diese Trottel doch an! Einer ist unfähiger als der andere, kaum sind sie von dieser Kraft getrennt. Sie vergraben sich in sich selbst und akzeptieren ihr Schicksal – sie kämpfen nicht für ihre Existenz. Ich bin der Einzige, der würdig ist für diese Macht!"

"Aber…aber…", stammelte Karlmax, "Aber es ist nicht richtig! Es kann nicht einer alleine die gesamte Verantwortung übernehmen. Es kann nicht nur eine Meinung vertreten sein, eine Herrschaft oder ein überautoritäres Wesen."

"Deine kleinen Theorien können mir absolut egal sein, Wurm. Du warst zwar ein ganz schlaues Kerlchen, aber es kann mir egal sein, was die Welt über mich denkt. Was wollen sie denn alle gegen mich unternehmen? Endlich habe ich die Freiheit, zu tun und lassen, was ich will, unabhängig von den Entscheidungen irgendeines Rates und ohne die Möglichkeit, dass mir jemand in meine Angelegenheiten pfuscht!"

"Nun gut, dann fresst mich! Doch ich prophezeie euch eins: Wenn ihr nicht im Sinne eurer Untergebenen handelt, wovon ich stark ausgehe, dann werden sie sich eines Tages gegen euch aufheben – allesamt! Alle intelligenten Völker und Wesen dieses Planeten werden sich gegen euch auflehnen. Und dann habt ihr nur zwei Möglichkeiten: Entweder, sie finden einen Weg, euch umzubringen. Oder ihr schafft es, sie alle zu vernichten. Doch sagt mir: Lohnt es sich, alleine auf der Welt zu sein? Was nützt es, über die gesamte Welt zu herrschen, wenn es nichts mehr gibt, worüber man herrschen könnte? Eines Tages werdet ihr das einsamste Wesen auf diesem Planeten sein und dann werdet ihr wünschen, mich nicht gefressen und den Rat gerettet zu haben. Ich weiß, dass auch ihr von anderen Wesen abhängig seid. Ihr habt doch immer jemanden gebraucht, mit dem ihr euch auseinandersetzen konntet. Ich weiß, dass ihr die Konversationen und Streitigkeiten mit euren Kollegen im Grunde immer gemocht habt. Ohne sie wird es euch schnell langweilig werden."

Kalessan schnaubte: "Und woher willst du das wissen, Würmchen?"

"Ich weiß es einfach. So etwas habe ich im Gefühl! Und jetzt: Bringt es hinter euch!"

Karlmax Stimme zitterte kein bisschen – das tat schon sein Körper. Und sein Blick sah eisern in die gelb glühenden Abgründe seines Gegenübers, so wie es vor ihm noch niemand getan hatte.

Kalessan war beeindruckt.

"Ich bin beeindruckt!", sagte er, "Du versuchst nicht weiter, mich irgendwie umzustimmen. Du flehst nicht um dein Leben. Du bettelst nicht um Gnade oder um einen schnellen Tod, weil du weißt, dass es keinen Sinn hat. Ich bin nicht dumm, musst du wissen…und ich weiß, dass alles, was du gerade gesagt hast, vollkommen richtig ist."

"Also…was werdet ihr jetzt tun?", fragte Karlmax.

Kalessan lächelte.



"Sagt, werter Herr, was ist das da für ein Ding, was ihr in den Händen haltet?", fragte Tjamat den Herrn Maphrodit höflich.

"Dassis ’ne Armbrust, du Ausjeburt der Hölle! Noch ein Wort von dir und ich drück‘ ab!", antwortete dieser nicht ganz so höflich.

"Und was passiert dann?", erkundigte sich Smahug, der sich genähert hatte, um das interessante Gerät zu betrachten.

Herr Maphrodit wich sofort zurück an seine Theke.

"Und ihr andern bleibt mir auch fern, oder ’s setzt für euch auch was, ihr Diebe!"

"Was ist ein Dieb?", fragte einer der restlichen Drachen mit kindlicher Neugier.

"Seid’s ihr vollkommen bescheuert oder was? Ihr wisst jenau, dass ihr mir noch Geld schuldet…150 Goldstücke!"

"Geld?"

"Schon mal g’sehn?", fragte Herr Maphrodit sarkastisch, als er eine golden glänzende Münze aus der Tasche zog.

Die Drachen schraken sofort auf, wichen vor dem kleinen Geldstück zurück und betrachteten es furchtvoll.

"Nehmt dieses schreckliche Mordinstrument sofort weg von uns! Wollt ihr uns etwa Schaden zufügen?", rief Smahug ängstlich aus.

"Wat?"

"Wir haben vorhin gesehen, wie ein Mensch damit umgebracht wurde – bitte…tut uns nichts!"

Das löste bei Herrn Maphrodit einen Geistesblitz aus, wie er nur äußerst gerissenen und geldgierigen Geschäftsleuten kommen kann. Zur Probe hielt die Münze noch ein wenig weiter von sich, was sofort zur Folge hatte, dass die Drachen noch ein wenig weiter zurückwichen. Er legte die Armbrust auf seine Theke und bewegte sich langsam auf die Gruppe der neun verschüchterten Drachen zu, die Münze stetig von sich gerichtet.

"Ihr werdet mir jetzt all euer Ge…alle eure Waffen geben, ansonsten werde…ich meine hier benutzen!", rief er aus.

"Oh, bitte…wir sind unbewaffnet!"

"Wat, ihr habt kein Geld dabei?"

"Wir…wir sind friedliebende Leute, wir tragen keine Waffen bei uns!", stammelte Smahug.

"Nicht ma‘ mehr euer Messer?"

"Was auch immer das ist – nein!"

Und wie es der Zufall so will erspähte Herr Maphrodit just in diesem Moment durch die immer noch geöffnete Eingangspforte seines Stalles zwei Männer der Stadtwache vor seinem Laden. Schnell bewegte er sich auf die beiden zu und rief: "Hey, Wachen! Ich hab‘ hier neun Frevler, die ohne Messer herumlaufen und mir noch Geld schulden. Nehmt se sofort fest!"

Die beiden Männer reagierten nicht.

Sie schauten nach oben.

Genauso die vielen Menschen rechts und links neben ihnen.

"Hallo? Könnt’s ihr noch hören?"

Vielleicht lag es ja an der Münze in Herrn Maphrodits Hand…auf jeden Fall stürmte die kleine Menschenmasse, die sich vor seinem Laden angesammelt hatte, auf einmal laut schreiend auseinander.

Die Tiere im Stall begannen zu scheuen und zu schreien.

Die Erde erzitterte und ein lautes Krachen war von draußen zu hören.

"Wat zur…", setzte Herr Maphrodit an. Der Rest seines Satzes ging jedoch in einem ohrenbetäubenden Knirschen und Bersten unter.

Bretter und Holzsplitter fielen auf ihn, seine Tiere und seine neun Kunden herunter. Alle Anwesenden in dem Gebäude warfen sich zu Boden, bis der Holzregen aufgehört hatte.

Herr Maphrodit sah nach oben.

Das Dach des Hauses war nicht mehr vorhanden. Stattdessen türmte sich der Schatten eines gigantischen Drachen über das Gebäude, der sich anscheinend direkt in das Haus nebenan gesetzt hatte und den Inhalt des von ihm aufgebrochenen Stalls fies grinsend betrachtete.

"Da seid ihr ja alle, schön zusammengepfercht auf einen Haufen – wie praktisch!", donnerte seine Stimme über die Stadt und zerstörte noch ein wenig mehr von Herrn Maphrodits Stall.

Und während dieser noch überlegte, ob er von dem Drachen einen Schadenersatz fordern solle, wurde der Kunde, der eine goldene Robe trug, wie von Geisterhand in die Luft erhoben.

Herr Maphrodit beobachtete sprachlos, wie der Mensch immer weiter anstieg, auf den gigantischen Kopf und das riesige Maul des Drachen zu.

Saurudalf erwachte.

Er war anscheinend nicht tot.

Das war ja zumindest schonmal etwas…

Er richtete sich auf.

Anscheinend lag er immer noch neben der Furt, die über den Fluss führte.

Mein Prettschett!, dachte er panisch und betastete hektisch seinen gesamten Körper, sah sich um – und fand ein paar Meter neben ihm die übrig gebliebenen Scherben seiner Kreation.

Er kniete sich hin, nahm einige der Scherben mit beiden Händen auf und ließ sie durch seine Finger auf den Boden rieseln.

"Mein schönes, schönes Prettschett…wie konnte das nur passieren? Was habe ich falsch gemacht? Warum ich? Warum muss immer mir so etwas passieren? WARUM ICH?", schrie er letztendlich laut aus.

"Psst, nicht so laut! Ihr wollt doch nicht wilde Tiere anlocken oder?", ertönte eine Stimme.

"Oh, richtig…Verzeihung! Moment mal…", Saurudalf drehte sich um, "DU?"

"Warum duzt mich eigentlich jeder in dieser dämlichen Geschichte, während alle anderen geihrzt werden?", antwortete sein Sekretär.

"Bitte…was?"

"Ach, vergesst es!"

"Wo ist dieser unsägliche Drache hin? Ich möchte meine Magie wiederhaben!", rief Saurudalf wütend aus.

"Keine Ahnung, er hat mich einfach hier gelassen und ist weggeflogen. Ich bin nur noch hier, um euch einem Gericht zu verantworten, das eine angemessene Strafe über eure Taten verhängen wird."

"Ich habe keine Zeit für solche Spielchen!", knurrte Saurudalf entnervt und machte eine Handbewegung durch die Luft, die zur Folge hatte, dass Karlmax‘ Beine wortwörtlich unter seinem Körper weggefegt wurden.

Er gab einen kurzen Schmerzenslaut von sich und fragte Saurudalf dann erstaunt am Boden liegend: "Hey, wie habt ihr das gemacht?"

"Die Macht ist mit mir…ich bin Magier, du Vollidiot!"

Er machte weitere Handbewegungen. Karlmax drehte sich schnell, ein wenig über dem Boden schwebend, immer im Kreis.

"Du sagst mir jetzt, wo dieser Drache hin ist, ansonsten mache ich hiermit solange weiter, bis das gesamte Blut deines Körpers im Kopf und in den Füßen ist!"

Karlmax‘ Antwort war: "Hui! Juchuu! Das macht Spaß!"

Saurudalf zog ihn mit einer Handbewegung an sich heran und starrte ihn mit wütenden Blicken an.

"Du hältst das Ganze wohl für besonders komisch, nicht wahr? Nun, ich nicht. Also, wo ist der Drache?"

"Ich weiß es nicht!"

"Nun gut…dann brauche ich dich nicht mehr…"

Saurudalf schleuderte seinen Sekretär mit einer starken magischen Handbewegung mehrere Meter weit von sich weg und gegen einen Baum, wo dieser an einem spitzen Ast hängen blieb.

Der Magier lächelte, drehte sich um – und hörte wieder auf zu lächeln. Die Erde bebte kurz, als der gigantische rote Drache rund zehn Meter vor ihm aufsetzte.

Sie erbebte erneut. Direkt hinter ihm hatte sich ein weiterer Drache, diesmal mit goldenen Schuppen niedergelassen.

Dann bebte die Erde wieder.

Und wieder.

Und wieder.

Und immer wieder, als die anderen acht Drachen des Rates sich kreisförmig um ihn postierten und eine riesige, undurchdringliche Mauer aus schuppigen Leibern bildeten.

Der goldene Drache begann zu sprechen: "Seid ihr Saurudalf Roklem, Bürgermeister der Menschenstadt Neudorf und lehrender Magier an der dortigen Magierakademie?"

Aufgrund der für ihn eher ungewohnten Lautstärke wälzte sich der Mensch auf dem Boden hin und her, hielt sich die Ohren zu und schrie in einem hilflosen Versuch, gegen die geballte Dezibelkraft anzukommen, laut "AAAAAAAAAAAHHHH!".

"Was hat er gesagt?", fragte Smahug.

"Ich glaube, er sagte ‚Jaaaaaaaaaaaaa!’", antwortete Vasdendas.

"Müssen denn diese Formalitäten sein? Können wir ihn nicht einfach endlich umbringen?", seufzte Kalessan.

Smahug sagte: "Du hast ja Recht…also, Freunde – auf mein Zeichen! Eins, Zwei…"

Während Smahug diesen Satz sagte, rappelte sich Saurudalf wieder auf.

Ah, so ist es besser!, dachte er sich.

Blut strömte aus seinen Ohren.

Doch warum macht dieser Drache sein Maul auf und zu, ohne etwas zu sagen?

So sehr Saurudalf Rätsel mochte, dieses sollte ihm für den Rest seines Lebens zu schaffen machen und ungelöst bleiben. Unnötig zu sagen, dass dieser Rest nicht mehr sehr groß war.

Denn plötzlich öffneten alle zehn Drachen ihre Mäuler und hauchten ihn an. Ein tödlicher Regenbogen aus Drachenodems ging auf ihn nieder.

Fortan hätte man den Magier Saurudalf in ein Buch der Rekorde eintragen können, hätte es etwas derartiges schon gegeben. Er war der erste Mensch der Welt, der auf sechs verschiedene Weisen gleichzeitig starb.

Er wurde durch die Odems der Drachen gleichzeitig verbrannt, eingefroren, von Säure zerfressen, von einer Giftwolke erstickt, von einem Blitz gebrutzelt und in einer Wolke aus Wasserdampf gekocht.

Das hatte natürlich zur Folge, dass von ihm und einem großen Stück Land rings um ihn herum relativ wenig übrig blieb.

Smahug ergriff erneut das Wort: "So, gute Arbeit Freunde, das wäre erl…Vas? Vasdendas? Geht es dir gut?"

Der messingfarbene Drache saß bebend vor dem verkohlten Stück Land, das einmal Saurudalf gewesen war.

"Ich…ich habe gerade ein lebendes Wesen umgebracht…"

"Tut mir ja sehr leid, dass du so gegen deine Prinzipien ver…"

Vasdendas unterbrach ihn gleich wieder: "Es war…befriedigend…es…es hat mir etwas gegeben, diesen…diesen MISTKERL zu pulverisieren. Na? Gefällt dir das, du…du blöder Mensch du? Na? Willst du mehr davon?"

Und erneut spie er seinen korrosiven Atem auf das ohnehin schon gequälte Stück Land.

"Na? Jetzt bist du nicht mehr so stark, ohne dein Prettschett, hm?"

Er nahm die verbrannte Erde in seine Klauen, warf sie in die Luft und lachte dazu irre.

Während einige der anderen Drachen des Rates versuchten, ihn zu beruhigen, fiel Kalessan etwas ein: "Wo ist denn eigentlich Karlmax?"

"Der hängt da hinten an diesem kleinen Baum.", antwortete Smahug.

"Smahug?"

"Ja?"

"Du hast Recht, er hängt da an dem Baum. An einem spitzen Ast hängt er.", sagte Kalessan.

"Ja, und?"

"Der Ast ist durch seinen Brustkorb getrieben worden."

"Oh…ist er tot?"

Das Paradies war schön.

Karlmax hatte zwar nie an ein Leben nach dem Tod geglaubt, doch hier war es. Eine wundervolle, paradiesische Landschaft mit immergrünen Bäumen, wundervoll duftenden Blumen in den schönsten Farben, großartigem Wetter und idyllischen Seen.

Doch das war noch nicht alles. Als er das Paradies durchstreifte, noch immer in den Sachen, die er bei seinem Tod getragen hatte, traf er auf all die Personen, die ihm in seinem Leben wichtig gewesen waren.

Seine verstorbenen Eltern, seine Geschwister, seine gesamte Familie war dar. Und es bedurfte keiner Worte mehr, um zu kommunizieren – es herrschte einfach ein tiefes, wortloses Verständnis. Lächelnd und lachend zeigten ihm seine Verwandten die schönsten Ecken des Paradieses, führten ihn durch die idyllische Landschaft und durch heimelige Dörfer, in denen die Menschen in ewigem Glück leben konnten.

Und die ganz Zeit dachte dich Karlmax nur eines: Warum bin ich eigentlich nicht schon früher gestorben?

Irgendwann versammelten sich all seine Verwandten rings um ihn herum und lächelten ihn an. Doch etwas Trauriges schwang in diesem Lächeln mit.

Was…was ist?, wollte Karlmax fragen, doch auf einmal gab der Boden unter ihm nach und er fiel. Er konnte noch von unten die Gesichter seiner Liebsten sehen, wie sie ihm nachsahen.

Dann verschwammen ihre Köpfe.

Stattdessen starrten ihn zehn riesige Drachen an.

Und sie alle hatten schrecklichen Mundgeruch.

Außerdem lag er auf einem verkohlten Stück Land. Neben ihm standen ein paar verbrannte, verkrüppelte Bäume.

"Er kommt zu sich!", sagte einer von den Drachen.

"Was…wo…wo sind meine Eltern? Meine Verwandten? Die schöne Landschaft? Bin ich in der Hölle?", stammelte Karlmax.

"Du bist wieder in der Welt der Lebenden.", antwortete der Drache mit dem goldenen Kopf, "Du hast unser Leben gerettet, also retteten wir deines – ist doch ein faires Geschäft, nicht wahr?"

"Ja…", sagte der Mensch resigniert.

"Und so dankt er es uns. Hallo! Wir haben uns alle gerade angestrengt, um dich aus dem Reich der Toten zu holen!", sprach der grüne Drache…Glaureng war sein Name gewesen, richtig.

"Denen geht es irgendwie immer so mies, wenn man sie wieder zum Leben erweckt. Bis jetzt haben sich nur die wenigsten gefreut. Die waren aber genauso wenig dankbar…", erwiderte Adorelon, der Silberne.

So langsam kamen die Erinnerungen Karlmax‘ wieder zurück. Er wandte sich an Kalessan: "So seid ihr meinem Rat also gefolgt!?"

"Andernfalls wärest du bereits seit einigen Stunden verdaut."

"Und…" – Karlmax warf einen Blick auf die anderen Drachen – "Und die anderen hier haben wieder alle ihr Gedächtnis zurück? Sie sind wieder genauso wie vorher?"

"Ich denke schon.", antwortete Kalessan, "Sie haben jetzt nur erstmal keine große Lust, wieder in die Nähe von menschlichen Städten zu kommen…kann ich ihnen nicht verdenken."

"Und jetzt? Was passiert jetzt?"

"Wir werden jetzt alle nach Hause fliegen. Ich erkläre diese Sitzung als beendet! Wir sehen uns in ein paar Jahrzehnten zur Jahrhundertsabrechnung wieder, ja?", sagte Smahug.

Die meisten der Drachen riefen eine Zustimmung, verabschiedeten sich voneinander und schwangen sich in die Lüfte.

"Und das war’s? Mehr nicht? Keine große Abschlussfeier? Sie haben mir nicht einmal mehr gedankt!", rief Karlmax enttäuscht.

"Sie haben ihre Schuld an dich bezahlt. Du bist schließlich auch nur ein Mensch von vielen. In ein paar Jahren bist du eh tot.", erwiderte Kalessan, der noch dageblieben war, "Aber du kannst gerne mit zu mir kommen, dann zeige ich dir mal meine Höhle, wenn es dich froh macht."

Ein glückliches Aufblitzen in Karlmax‘ Augen verriet ihm, dass dies der Fall war. Kalessan senkte seinen Kopf.

"Also gut – steig auf!"

Karlmax ließ nicht lange auf sich warten.

"Nun gut, oh großer Anführer…man sieht sich!", sagte Kalessan zu Smahug.

"Kalessan, ich wollte dir noch sagen, ähm…danke! Du hast die richtige Entscheidung getroffen!", antwortete dieser.

"Dieses Urteil überlasse lieber mir, Smahug!"

Er stieß sich vom Boden ab und flog weg.

Smahug sah ihm nach und dachte sich: Irgendetwas bin ich auch ihm schuldig…vielleicht sollte ich demnächst damit aufhören, so offen über unsere Rasse zu plaudern…

Und während ihrem Flug nach Hause dachten auch die anderen über sich und die zurückliegenden Ereignisse nach.

Droca dachte darüber nach, ob er bei dem aufkommenden Theaterstück "Kerker und Drachen" eine Rolle übernehmen sollte.

Neidhöcker dachte: Ich habe jetzt mal wieder richtig Lust, an einer saftigen Wurzel zu knabbern!

Adorelon dachte: Der zeitliche Ablauf der letzten paar Seiten ist irgendwie vollkommen unlogisch, wenn man mal darüber nachdenkt…

Vasdendas dachte: Ich muss jetzt irgend etwas töten…jetzt sofort!

Glaureng dachte: War ich wirklich so böse, dass man mich so hässlich erschaffen musste? Das ist gemein!

Tjamat dachte ernsthaft darüber nach, demnächst bei sich zu Hause ein Ei auszubrüten.

Morkulebus dachte ernsthaft darüber nach, professioneller Krallenmasseur zu werden.

Schneeweißchen dachte: HED DSUEB SAHEZA KEIW JASHD AKEJES MEUNASJ KAOSLEJB!

Karlmax erfreute sich an der absoluten Freiheit des Fliegens, genoss den Wind, der durch seinen Bart rauschte und dachte: Vielleicht ist das Leben ja doch nicht so schlimm!?

Und Kalessan? Der dachte nur: Oh, hab ich einen Hunger! Irgendwo muss doch hier etwas zum Essen sein! Ein Dorf, eine kleine Stadt…irgendwas!

Tja…das Sein verdirbt das Bewusstsein.

Der Doktor, http://www.die-subkultur.net 

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The Sacrifice (deutsch) (Der Doktor)

The Sacrifice

Teil 1: Aufbruch

Sie öffnete ihre Augen…
In ihrem Zimmer herrschte Halbdunkel, da die Sonne noch nicht ganz aufgegangen war. Denya stand auf und ging zum Fenster, um sich nach dem Lärm zu erkundigen, der sie aufgeweckt hatte. Es schien sich um eine große Menschenmenge auf dem Platz unter dem Fenster ihres Hauses zu handeln…
Nun, es war nicht wirklich ein "Haus" – es war mehr eine Burg. Denya war die Tochter von Baron Leoric und Baronin Margareth, den Herrschern kleiner Ländereien irgendwo im Osten des Kontinents.
Als sie an ihr Fenster kam, sah sie die vermutete Menschenmenge auf dem Platz vor dem Burgtor. Es sah so aus, als würden die Soldaten ihres Vaters sich auf irgend etwas vorbereiten…
Sie zog sich an und ging hinunter zum Thronsaal (natürlich war er nicht so groß, wie die Thronsäle der Könige, aber besser als gar nichts), wo sie schon ihre Eltern entdeckte, die hektische Anweisungen an unzählige Leute erteilten – sie sahen sehr beschäftigt aus.
Ihr Vater Leoric hatte seine besten Jahre bereits hinter sich. Er war 53 Jahre alt, hatte langes schwarzes Haar und einen gleichfarbigen Bart – graue Strähnen waren im Haar des strengen, aber gutherzigen Mannes noch nicht zu erkennen.
Ihre Mutter Margareth sah nicht sehr anders aus: Sie war zwei Jahre jünger als ihr Mann und ein wenig kleiner, doch auch sie trug lange schwarze Haare und, wie ihr Mann, eine schwarze Robe – Schwarz war die Lieblingsfarbe der beiden.
Noch eine Sache, die sie beide gemeinsam hatten, waren ihre magischen Fähigkeiten. Da es im gesamten Königreich keine talentierteren Magier gab als Denyas Eltern, wurden sie oft für entsprechendes Entgelt von anderen Baronen oder gar Königen gerufen, um die verschiedensten Aufträge auszuführen, die normalerweise unmöglich gewesen wären. Dennoch, sehr häufig mussten sie ihre magischen Fähigkeiten nicht einsetzen.
Nun, ihre Eltern hatten sehr viel Zeit für sie und gaben ihr nahezu alles, was sie sich wünschte. Sie durfte frei in der Stadt umherwandern und tun und lassen, was sie wollte. Mit einer Ausnahme: Sie durfte niemals und unter keinen Umständen die Stadt verlassen.
Sicherlich war die Stadt nicht allzu klein und es gab viel zu entdecken, doch manchmal stand sie einsam auf den Stadtmauern und ließ ihren Blick in die Ferne schweifen. Sie war nicht unglücklich in der Stadt, doch der Wunsch, hier hinaus zu kommen war immer da gewesen. Natürlich hatte sie darüber nachgedacht einfach wegzulaufen, doch sie verwarf den Gedanken immer wieder – sei es, weil es keinen unbewachten Ausgang aus der Stadt gab oder weil sie ihre Eltern, die immer so nett zu ihr waren, nicht betrügen wollte – sie hatte versprochen, niemals zu fliehen.
Also lebte Denya ihr Leben in der Burg für 20 lange Jahre – bis heute…
"Guten Morgen, Mutter, Vater! Sagt mal, was macht ihr hier?" fragte sie.
Ihr Vater drehte sich um und sagte mit seiner tiefen, vollen Stimme: "Guten Morgen, Schatz! Gut geschlafen?"
"Ja, danke, aber sag mir: Was soll das alles hier? Habt ihr wieder einen Auftrag bekommen?"
Er lächelte. "Ich denke, du erinnerst dich an dein Versprechen, diese Stadt niemals zu verlassen?"
"Natürlich… wieso fragst du?" fragte sie verwirrt.
"Heute werden wir dir erlauben, es zu brechen."
Sie verstand nicht. "Was meinst du?"
Ihre Eltern grinsten nur.
"Ihr meint, ich darf aus der Stadt raus? Heute? Oh, Mutter, Vater, das ist wundervoll!"
Margareth sagte: "Wir haben dich zu lange in diesem alten verstaubten Gebäude festgehalten. Es ist nun Zeit, hier raus zu kommen und die Welt zu sehen."
"Aber ihr habt immer gesagt, es wäre zu gefährlich dort draußen…"
"Oh ja, ist es auch noch! Wir werden natürlich auch mit dir kommen. Du musst dich vor absolut nichts fürchten, Denya!"
"Aber… wieso gerade jetzt? Wieso haltet ihr mich hier 20 Jahre lang fest, nur um mich dann einfach so gehen zu lassen?" fragte sie skeptisch.
"Du bist nun alt genug. Es sind zwar immer noch böse Menschen dort draußen – aber du bist nun so erfahren, dass du auf dich selbst aufpassen kannst. Außerdem wollten wir dir zu deinem 20. Geburtstag ein ganz besonderes Geschenk machen – und der ist ja schließlich in 6 Tagen."
Damit war alle Skepsis beseitigt.
"Oh, das ist das schönste Geschenk, das ihr mir je gemacht habt."
Mit diesen Worten umarmte sie ihre beiden Eltern und brach in Tränen aus.

Am Nachmittag gab ihr Vater noch eine Rede vor der Stadtbevölkerung, in der er den Grund ihres Aufbruchs beschrieb und ihre Rückkehr in 12 Tagen ankündigte. Er übergab die Stadt einem seiner Ratgeber für die Zeit ihrer Abwesenheit und dann brachen sie auf. Denya bekam eine Gänsehaut, als sie durch die großen Stadttore ritten – das war es, wovon sie all die Jahre geträumt hatte. Aber es ging so schnell… 20 Jahre – und nun, einfach so? Außerdem fragte sie sich, wieso ihre Eltern 20 ihrer Wachen mit sich nahmen – normalerweise reisten sie alleine. Sie fragte ihren Vater.
"Deine Sicherheit ist unser größtes Anliegen. Wir könnten es nicht ertragen, wenn dir etwas zustößt. Und wir können nicht immer bei dir sein – selbst Magier müssen schlafen." Er lächelte.
"Es ist nur zu deiner Sicherheit", wiederholte er.
"Aber ihr habt gesagt, ich wäre alt genug, um auf mich selbst aufzupassen!" protestierte sie.
"Wir sind immer noch besorgt um dich – und wir wollen natürlich nichts riskieren, Denya."
Obwohl es ihr etwas seltsam erschien, zuckte sie nur mit den Schultern, ritt weiter und genoss ihre neue Freiheit.

 

Teil 2: Reise

Sie reisten nun schon seit zwei Tagen auf dieser Straße, immer in Richtung der Berge. Sie schliefen immer im Wald und abseits der Straße. Denya fragte sich, warum, doch ihr Vater sagte nur, es sei zu gefährlich, direkt am Straßenrand zu rasten, da viele Räuber sich hier nachts umhertreiben würden und dass es zu teuer wäre, mit 23 Mann in einer Taverne zu übernachten. Es war zwar nicht sehr komfortabel, in einem Zelt zu schlafen, aber da dies eine völlig neue Erfahrung für Denya war, verdrängte eine Sache die andere.

Thomas hatte Wache. Die Bäume ragten hoch über ihm als dunkle Schatten auf und die Geräusche des nächtlichen Waldes umgaben ihn. Seine Wachperiode war fast vorbei – bald würde er gehen, Daniel wecken und ihm die Wache übergeben. Er war sehr müde und freute sich bereits darauf, in einem warmen Schlafsack zu liegen, so unangenehm dieser auch sein mochte.
Doch plötzlich hörte er ein Geräusch aus dem Gebüsch links von ihm – ein seltsames Grunzen. Ein Wildschwein? Oberste Priorität hatte die Sicherheit von Denya… und Wildschweine können sehr gefährlich sein. Er weckte Daniel.
"Hey, Daniel!"
"Wasislos?" murmelte Daniel noch halb im Schlaf.
"Ich glaub da ist irgendein Tier dort drüben in den Gebüschen. Vielleicht ein Wildschwein."
Schon wieder dieses Grunzen. Daniel war sofort wach.
"Nein… nein, das ist kein Wildschwein! Ich war bereits auf Wildschweinjagden, die klingen ganz anders, glaub mir."
"Nun, was könnte es dann sein?"
"Ich weiß nicht" – er pausierte – "Lass es uns rausfinden!"
Thomas war nicht sehr erfreut darüber, in den dunklen Wald zu gehen – aber er wollte nicht erleben, wie Margareth und Leoric reagieren würden, wenn ein wild gewordenes Wildschwein durch das Lager rennt und alles demoliert.
Sie entzündeten ihre Fackeln, zogen ihre Schwerter und gingen in die Richtung, aus der das Geräusch kam. Nach 100 Metern kamen sie an eine Felswand, in der ein Höhleneingang zu sehen war.
"Denkst du, es kam von da drinnen?" fragte Thomas.
"Ich weiß genauso viel wie du, Daniel! Aber ich würde zu gerne wissen, was in dieser Höhle ist…", antwortete er mit einem neugierigen Unterton – und ging hinein.
"Daniel, bist du wahnsinnig? Komm zurück! Lass uns lieber gehen und die anderen wecken!" flüsterte Thomas – vergeblich.
Schon bald wurde Daniel von der Dunkelheit verschlungen und später auch das Licht seiner Fackel, während Thomas noch unschlüssig vor dem Höhleneingang stand. Einerseits hatte er zu große Angst, in die Höhle zu gehen, andererseits wollte er seinen Freund nicht alleine lassen.
Plötzlich sah er einen hellen Lichtblitz im Inneren.
"Daniel! …Oh, verdammt!!!"
Thomas schluckte seine Angst hinunter und ging in die dunkle Höhle.
Der Gang wurde immer breiter und höher, bis er schließlich 8 Meter hoch und 6 Meter breit war. Schon bald sah er auch das Licht von Daniels Fackel. Er rannte los und rief: "Daniel, was ist…"
Er brach seinen Satz abrupt ab. Daniel konnte ihn nicht mehr hören. Die Fackel lag auf dem Boden – neben den verbrannten Überresten von Daniels Körper. Thomas stand einfach nur da. Einen Moment… Zwei… Dann kniete er sich neben der Leiche nieder. Der Geruch von verbranntem Fleisch stach ihm in die Nase und er fühlte, als ob er sich bald übergeben müsste.
Was zur Hölle hatte das getan?
Nun verfluchte er sich nochmals – er hätte Hilfe holen sollen, bevor er in diese Höhle ging. Das Wesen, das Daniel so zugerichtet hatte, musste immer noch hier in der Nähe sein. Wahrscheinlich, um dasselbe mit ihm zu tun… Er stand hastig auf – nur, um etwas zu sehen, was er vorher noch nie erblickt hatte. Seine Augen weiteten sich voller Schrecken. Er konnte nicht schreien. Er konnte sich nicht bewegen – er war wie versteinert.
Es herrschte eine schreckliche Stille.
Danach das grässliche Geräusch splitternder Menschenknochen.
Und wieder Stille…

Kampfgeräusche weckten Denya. Sie lag in ihrem Zelt und hörte die Schreie der Soldaten ihres Vaters, der Pferde und von etwas anderem, etwas sehr seltsamen. Ein Geräusch wie ein lautes, wütendes Quieken. Sie stand auf, um draußen zu sehen, was los wäre – nur um von ihrem Vater zurück ins Zelt gedrängt zu werden.
"Geh rein und bleib da, das hier ist nichts für unerfahrene Jugendliche wie dich!", schrie er. Und schon war er wieder draußen und rief irgend etwas.
Also setzte sie sich hin und wartete, ein wenig verletzt durch die Worte ihres Vaters. Was hatten sie noch vor zwei Tagen gesagt? "Du bist nun alt genug, um auf dich selbst aufzupassen!"?
Plötzlich konnte sie einen grellen Lichtblitz durch die Zeltplane hindurch sehen. Danach kam wieder das Quieken – diesmal ein Laut des Schmerzes. Dann Stille. Ihre Mutter kam herein. Sie hatte Schweiß auf ihrer Stirn.
"Du kannst jetzt rauskommen – es ist nun sicher."
Als sie nach draußen ging, offenbarte sich ihr eine schreckliche Szenerie: In ihrem Lager lagen die Leichen einiger Wachen. Der süßliche Geruch des Todes hing in der Luft. Und in der Mitte des Rastplatzes lag der Körper des größten Wildschweins, das sie je gesehen hatte. Es war mindestens doppelt so groß wie die Wildschweine, die von den Jägern immer in die Stadt gebracht wurden.
Das Tier war mit Pfeilen gespickt – doch das Wildschwein war nicht durch die Pfeile gestorben, sondern durch den magischen Blitz ihrer Eltern, der seine Seite getroffen hatte.
"Oh, ihr Götter!" flüsterte sie.
In der Nähe standen ihre Eltern und sprachen mit einem der Wächter.
"Wie viele haben wir verloren?" fragte ihr Vater den Mann.
"Fünf sind tot. Und wir sind immer noch auf der Suche nach Daniel und Thomas.", antwortete der Soldat, Barlic war sein Name, erinnerte sie sich.
"Verdammt!"
"Gibt es hier viele solcher Biester?" fragte Denya.
"Ich denke nicht", sagte Barlic, "dies ist bei weitem das größte Wildschwein, das ich je gesehen habe!"
"Aber wieso sollte es herkommen und uns angreifen? Und was ist mit Daniel und Thomas?" – die beiden hatten sie oft bei ihren Ausflügen auf die Stadtmauer begleitet und waren zwei ihrer besten Freunde.
"Wir denken, dass Thomas Daniel aufweckte, dann mit ihm in den Wald ging, wo dann dieses Wildschwein… Es tut mir leid, ich weiß, sie waren eure Freunde. Wir suchen noch ihre Leichen", antwortete er traurig.
Alle waren still, als ein Ruf von der anderen Seite des Lagers kam: "Wir haben sie gefunden!"
Sofort gingen Denyas Eltern und Barlic in diese Richtung. Sie folgte ihnen. Als sie näher kam, sah sie dann die Leichen von Daniel und Thomas.
Daniels Körper war ganz verbrannt und stank fürchterlich. Ein schrecklicher Anblick. Doch Thomas‘ Leiche war viel schlimmer: Thomas war an seiner Taille in zwei Hälften gerissen worden. Eingeweide hingen aus seinem Körper – aber nicht nur seine Leiche war schlimm anzusehen… es war der Blick in seinen Augen… Reiner Schrecken und Todesangst lag in den weit aufgerissen Augen. Sie ertrug es nicht: Sie drehte sich um und erbrach auf den Boden. Ihre Mutter kam zu ihr.
"Tut mir leid für dich – es muss schrecklich sein, so früh mit dem Tod konfrontiert zu werden… und auf diesem Art und Weise…"
"Hast du den Blick in seinen Augen gesehen?" fragte Denya.
"Ja…", antwortete Margareth leise.
"Ein Wildschwein kann so etwas doch nicht machen!?"
"Ich weiß nicht…"
"Ein verdammtes Wildschwein kann nicht einfach so Leute verbrennen!" rief sie und zeigte auf Daniels verbrannte Leiche.
Auf einmal fragte ihr Vater Barlic: "Wo habt ihr sie gefunden?"
"Ähm… in einer Höhle in dieser Richtung", antwortete dieser mit einer entsprechenden Geste.
"Ich möchte sie mir ansehen… jetzt!"
Der Soldat war kurz irritiert, dann befolgte er den Befehl ihres Vaters und ging in den Wald. Leoric folgte ihm. Margareth wandte sich wieder Denya zu: "Ich werde mit ihnen gehen. Du bleibst hier, hier ist es sicher!" Versprichst du mir das?"
Zuerst wollte sie widersprechen. Dann rollte sie jedoch mit den Augen und sagte: "Ja, Mutter."
"Gut!" Damit ging Margareth in den Wald.
Es schien alles irgendwie nicht zusammen zu passen: Der verbrannte Körper von Daniel, der Blick in Thomas‘ Augen, das Riesenwildschwein… Das seltsame Verhalten ihrer Eltern nicht zu vergessen.
Irgend etwas stimmte hier nicht!

Eine Stunde später kehrten ihre Eltern zurück.
"Also, habt ihr irgend was rausgefunden?" fragte Denya neugierig.
"Die Höhle war leer", antwortete Leoric.
"Nun, was könnte dann Daniel und Thomas getötet haben?"
"Ein Mensch natürlich, wahrscheinlich irgendein Magier. Woran dachtest du denn?"
"Kein menschliches Wesen könnte einem Soldaten wie Thomas solche Angst einjagen! Geschweige denn, ihn in zwei Teile reißen!"
"Unterschätze einen Magier nicht! Wir wissen nicht, was Thomas gesehen hat – und vielleicht werden wir es auch nie wissen! Also denk nicht mehr darüber nach!" antwortete Margareth. "Wir brechen bald auf, also pack deine Sachen zusammen!"
Denya war mit den Antworten ihrer Eltern überhaupt nicht zufrieden. Warum sollte ein Magier mitten im dunkelsten Wald zwei Menschen attackieren? Und was war jetzt mit dem Wildschwein? Doch sie fragte nicht mehr, sie kannte ihre Eltern zu gut – sie würde jetzt keine Antworten mehr bekommen.

Die 13 noch übrigen Wachen waren bald damit beschäftigt, das Lager abzubauen und sich für die Weiterreise vorzubereiten. Doch es herrschte eine drückende Atmosphäre zwischen ihnen. Sie hatten einige ihrer Freunde verloren und ihre Herren wollten nun einfach weiter reisen, als ob nichts passiert wäre. Es kam ihnen sehr seltsam vor, doch Denya konnte ihre Eltern ziemlich gut verstehen – auch sie wollte so schnell wie möglich weg von diesem schrecklichen Ort.
Schließlich beerdigten sie ihre Kameraden und hielten eine Schweigeminute. Dann ging es mit ihrer Reise in die Berge, die am Horizont bereits zu sehen waren, weiter. Aber heute waren alle in einer miesen Stimmung und es wurde wenig geredet – am wenigsten über die Ereignisse der letzten Nacht.

Am vierten Tag reisten sie durch ein mittelgroßes Dorf. Einige der Leute sahen von ihrer Arbeit auf, um die Reisenden zu beobachten. Denya sah Bauern, Schmiede, Händler, junge Mädchen und Kinder, die auf den Straßen spielten – alles ging seinen gewohnten Gang. Doch eine Person stach aus der Menge heraus: Ein alter Mann mit weißem Vollbart und roter Robe. Er sah aus wie ein Magier. Und er sah sie mit einem Ausdruck im Gesicht an, den sie noch nie zuvor gesehen hatte: Sein Gesicht drückte nichts aus. Nichts! Kein Zeichen von Interesse, Hass, Liebe oder sonstigen Gefühlen. Er sah sie nur mit seinem kalten Gesichtsausdruck an. War dies der Magier, der Daniel und Thomas getötet hatte? Hatte er das Wildschwein in ihr Lager gesendet?
Auf einmal wurde ihr Pferd unruhig und bäumte sich auf. Sie versuchte, es schnell mit guten Worten zu beruhigen. Doch als sie wieder in die Richtung des alten Mannes sah, war dieser verschwunden.
"Schatz, was ist denn passiert?" fragte ihre Mutter.
"Nichts, nichts, mein Pferd wurde nur kurz unruhig. Alles in Ordnung… hast du diesen komischen alten Mann mit der Robe dort drüben gesehen?"
"Nein – alter Mann?"
"Er stand einfach nur da", sie zeigte auf den Punkt, wo der Mann eben noch gestanden hatte, "und sah mich seltsam an."
"Hm… wir verhalten uns besser vorsichtig – vielleicht war es ja nur ein verrückter alter Mann… aber man weiß ja nie."
Dann wollte sie nichts mehr sagen und schien für den Rest des Tages in Gedanken versunken.

Diese Nacht verbrachten sie in einem Gasthaus direkt an der Straße. Denyas Vater sagte, es wäre nun doch zu gefährlich, in den Wäldern zu schlafen – vielleicht war er doch besorgter über den alten Mann, als er zugab.

Und diese Nacht hatte Denya einen Traum:
Sie sah zwei Magier einen magischen Kampf austragen. Einer davon war ihr Vater Leoric. Den anderen kannte sie nicht, aber sie glaubte, ihn von irgend woher zu kennen.
Dann sah sie den alten Mann mit der roten Robe aus dem Dorf. Er sprach zu ihr ohne seine Lippen zu bewegen: Komm zu mir… Komm… Komm zu mir, Denya… Denya…
Dann sah sie einen dunklen Berg bei Nacht. Der große volle Mond stand direkt über der Bergspitze, hell scheinend. Doch plötzlich färbte er sich rot, so als ob jemand Blut über die Oberfläche des Mondes gießen würde. Und Stimmen erklangen, flüsternd: "Tod…Tod…Tod". Und als der Mond immer mehr mit Blut überzogen wurde, stieg auch die Lautstärke der Stimmen. Schließlich schien ein blutroter Mond auf den Berg und die Stimmen schrien:
"TOD"
Das Geschrei war unerträglich laut.
"TOD"
Sie wollte sich die Ohren zuhalten.
"TOD"
Sie wachte auf…
"Tod"
Es echote in ihrem Kopf.
"Tod…"
Ihr Atem ging schnell.
Ihr Herz pochte, als ob es aus der Brust springen wollte.
Ein seltsamer Traum, dachte sie.
Sie hörte ein Geräusch von draußen – ein Rascheln. Sie ging zu ihrem Fenster. Doch das Einzige, was sie sah, war der Rand des Waldes vor ihr. Aber war da nicht ein Schatten in den Büschen? Sie versuchte, genauer hinzusehen, doch eine große Müdigkeit überfiel sie auf einmal, genauso wie der Gedanke, dass es gut wäre, wieder ins Bett zu gehen. Ihr letzter Gedanke vor dem Einschlafen war: Nur ein Traum! Nur ein Schatten in den Wäldern! Nichts wichtiges…

Am nächsten Tag reisten sie durch offenes Gelände. Es war ein klarer, sonniger Tag und die Gemeinschaft war in guter Laune, ohne irgend welche Gedanken bei den Geschehnissen der vergangenen Tage. Sogar Denyas Eltern, die sich bis jetzt sehr still und zurückgezogen verhalten hatten, waren in scherzhafter Stimmung und sie lachten mit Denya und ihren Soldaten. Ihr Traum war schon fast vergessen. Immer noch hallte der Gedanke Nur ein Traum! Nichts wichtiges… in ihrem Gedächtnis. Deswegen, und weil sie nicht die Stimmung ihrer Eltern verderben wollte, erzählte sie keinem etwas davon. Also reisten sie weiter, mit den Bergen vor und der Trauer hinter sich.
Um die Mittagszeit reisten sie wieder auf einer Straße am Rande eines Waldes, als auf einmal etwas sehr beunruhigendes passierte:
Eine dunkle Wolke erschien direkt über ihren Köpfen – aus dem Nichts. Sie begann zu wachsen und schon bald erstreckte sich ein weiter dunkler Teppich über ihren Köpfen und grollender Donner war zu hören. Alle saßen auf ihren Pferden, den Kopf im Nacken, jeder mit einem alarmierten oder leicht verängstigten Gesichtsausdruck – besonders Denyas Eltern.
Dann setzte ein schwerer Regen ein und sie alle waren binnen Sekunden bis auf die Haut durchnässt.
"Das… das ist nicht gut!" sagte einer der Soldaten.
Ein anderer erwiderte: "Hey, das is nur’n Sturm! N‘ bisschen Regen und Donner werden uns schon nich umbringen!"
Es war bittere Ironie, dass gerade dieser Mann vom ersten Blitz getroffen wurde. Der Blitz war eine lebende Verbindung zwischen den dunklen Wolken und dem armen Pferd und seinem Reiter, welcher zuckte und schrie. Nach einigen Sekunden sanken beide, Reiter und Pferd, qualmend und tot zu Boden.
Und dann brach Panik aus…
Die Pferde drehten durch und rannten voller Panik durcheinander – die Soldaten verhielten sich nicht anders.
Sie konnte Leoric schreien hören: "ZIEHT ALLE METALLISCHEN GEGENSTÄNDE AUS UND WERFT EUCH FLACH AUF DEN BODEN!"
Ein anderer Soldat wurde vom Blitz getroffen. Die Wolke, die sicherlich nicht natürlichen Ursprungs war, schien sich ihre Opfer auszusuchen, als ob sie von irgend einer unbekannten Kraft gelenkt werden würde.
Denyas Pferd bäumte sich auf und warf sie in den Schlamm, wo sie wegen den Anweisungen ihres Vaters auch liegen blieb. Sie beobachtete das Chaos um sie herum – alles schien wie in Zeitlupe abzulaufen: Sie sah einige Wachen, die versuchten, von ihren Pferden herunter zu kommen und ihre Rüstungen abzulegen – einige von ihnen waren nicht schnell genug und wurden von den mächtigen Blitzen getötet oder von ihren eigenen Pferden nieder geritten.
Plötzlich sah sie ein wild gewordenes Pferd direkt auf sich zustürmen. Sie rollte sich zur Seite, nur den Bruchteil einer Sekunde, bevor einer der Hufe direkt neben ihrem Gesicht auf den Boden schlug und Schlamm aufwirbelte.
Dann stoppte der Regen.
Sie sah auf – die dunkle Wolke war weg… einfach verschwunden! Sechs Wachen hatten die magische Attacke überlebt. Die anderen waren verbrannt, nieder geritten worden oder waren geflohen. Sie sah ihre Eltern auf sie zu rennen.
"Denya, geht es dir gut?", fragte ihre Mutter mit besorgter Miene.
Aber Denya antwortete nicht. Sie starrte nur geradeaus, direkt zwischen ihre Eltern hindurch. Was sie sah verursachte aus irgend einem Grund eine unaussprechliche Furcht in ihr.
"Mutter? Vater?"
Sie drehten sich um und sahen es auch. Der alte Mann in der roten Robe stand ungefähr 50 Meter von ihnen entfernt und schaute ihnen zu.
Dann explodierte er.
Er zerplatzte zu einer großen Wolke aus roten Partikeln, die sich im Kreis zu drehen begannen, wie ein bizarrer Tornado.
Sie hörte die erstaunten und angstverzerrten Schreie der Wachen – hatte aber nur für das wundervolle Spektakel ein Auge.
Bald schon war eine Silhouette in der Wolke zu erkennen. Ein großer Schatten.
Dieser Schatten schien mehr und mehr an Konsistenz zu gewinnen, während die Wolke an Dichte verlor. Sie konnte schon einige Details in dem riesigen Schatten erkennen – und begann an sich selbst zu zweifeln.
Nein… Nein! Das… das ist unmöglich! Das ist nicht wirklich!, dachte sie – aber sie beobachtete die Transformation, die sich vor ihren Augen abspielte, weiter. Wurde sie verrückt? Sie sah kurz zu ihren Eltern hinüber – aber deren Gesichter sagten ihr, dass sie alle dasselbe sahen.
Es waren nur ein paar Sekunden – ihr kam es vor wie mehrere Stunden – bis die Verwandlung beendet und sie sich sicher war, keine Halluzinationen zu haben.
Das war real! Ein lebendiger roter Drache stand 50 Meter entfernt von der kleinen Gruppe Menschen. Er war 30 Meter lang und hatte riesige, fledermausartige Flügel, deren Spannweite mindestens ebenso lang war. Er hatte viele Stacheln auf seinem Rücken, lange Hörner auf dem Kopf, einen langen Hals, scharfe Klauen… Ja… das IST ein wirklicher Drache, dachte sie. Keine Täuschung, keine Magie, keine Illusion – Realität!
Und der Drache sah SIE an.
Das einzige, was Denya tun konnte, war, in die smaragdgrünen Augen der Kreatur zu starren. Sie wusste nicht, was sie aus diesem Blick lesen sollte. Er war nicht sehr angsteinflößend oder hasserfüllt. Er war nur in gewisser Weise faszinierend. Auf einmal breitete der Drache seine Flügel aus und begann in ihre Richtung zu fliegen.
"OH IHR GÖTTER, ER WIRD UNS ALLE TÖTEN! FLIEHT! FLIIIEEEHT!" schrie einer der Soldaten und verursachte eine weitere Panik zwischen seinen Kameraden. Die Wachen begannen in verschiedene Richtungen zu rennen. Dann kam der Drache. Er öffnete sein Maul und spie eine weiße Flamme, die den Soldaten Barlic und einen anderen Mann in Asche verwandelte.
Das war zu viel für sie. Sie drehte sich um und lief voller Panik in den Wald. Sie konnte nicht mehr sehen, wie ihre Eltern zum magischen Gegenschlag mit Feuerbällen ansetzten, was dem Drachen nichts ausmachte. Und sie konnte nicht sehen, wie der Drache ihr interessiert zusah, als sie in den Wald floh.
Sie rannte, wie nie zuvor in ihrem Leben. Zweige peitschten ihr ins Gesicht und hinterließen blutige Schnitte – sie beachtete den Schmerz nicht und rannte weiter. Weg von dem Tod, weg von dem Feuer. Schließlich fand sie sich auf einer Lichtung im Wald wieder. Sie war völlig außer Atem, legte die Hände auf die Knie und atmete tief durch. Doch irgend etwas war falsch… sie hörte nichts – keine Tiere, keine Vögel…nichts! Nur der Wind, der in den Bäumen raschelte. Doch… da war kein Wind. Die Bäume bewegten sich nicht.
Denya war wie versteinert, als der gigantische Schatten über ihr auftauchte.
Das Letzte, woran sie sich erinnerte, bevor sie ihr Bewusstsein verlor, war, wie sie von zwei riesigen Klauen durch die Luft getragen wurde…

 

Teil 3: Prophezeiung

Ein roter Mond…
Der Gestank des Todes…
Das Feuer…
Die grünen Augen…
Große, grüne Augen…
Sie lag auf hartem aber ebenem Felsen. Zunächst war sie praktisch blind. Dann gewöhnten sich ihre Augen an die Dunkelheit. Sie lag in einer Höhle, starrte an die Wand vor ihr und versuchte, sich zu erinnern, was passiert war – und wieso sie hier lag. War alles nur ein böser Traum gewesen?
Sie hörte ein Geräusch hinter sich und drehte sich um. Da lag der große rote Drache, den Eingang der Höhle blockierend und sie beobachtend. Sofort überschwemmten sie die Erinnerungen. Sie stand schnell auf und ging langsam rückwärts, bis sie mit dem Rücken an die Höhlenwand stieß. Der Drache beobachtete sie einfach nur. Dann hörte sie sich selbst denken:
Habe keine Angst!
Aber sie hatte Angst! Warum dachte sie so etwas?
Ich werde dir nichts tun.
Warum dachte sie solch seltsame Dinge? War sie nun vollkommen durchgedreht? Doch da kam ihr eine Idee:
"Sprichst… sprecht ihr mit mir?", fragte sie den Drachen und kam sich ein wenig lächerlich dabei vor.
Sie dachte…
Nein…der Drache sagte: Ja
"Ihr sprecht zu mir… durch meine Gedanken?"
Ich habe keine Stimmbänder so wie deine Spezies, also muss ich mich auf andere Weise für dich verständlich machen, Denya.
Es kam ihr vor, als würde sie mit sich selbst reden. Doch dann erinnerte sie sich an ihre Situation.
"Woher wisst ihr meinen Namen? Warum habt ihr mich hierher gebracht? Wieso habt ihr uns angegriffen?", fragte sie ärgerlich.
Deine Rasse stellt immer so viele Fragen auf einmal…, dachte sie ein wenig amüsiert – das war verrückt!
Nun, ich weiß viel über dich, Denya, und ich habe dich hergebracht, weil ich dich beschützen will – ich musste die anderen Menschen dafür leider töten.
"Aber ich war die ganze Zeit über in Sicherheit – bis ihr mit euren magischen Tricks aufgetaucht seid! Ihr wart die einzige Gefahr auf meiner Reise!"
Es wurde immer verrückter: Sie stand vor einem echten Drache, der sie jederzeit auf 1001 verschiedenen Wegen umbringen konnte – und sie war drauf und dran, ihn zu beschimpfen und so sehr wütend zu machen. Aber sie hatte seltsamerweise keine Angst – und nun war es sowieso zu spät, um damit aufzuhören. Doch zu ihrem Erstaunen wurde der Drache nicht wütend, sondern…lächelte! Nun, das Zeigen seiner großen scharfen Zähne schien ein Lächeln zu sein – obwohl es wahrscheinlich selbst im Herzen des mutigsten Kriegers eine Panik verursacht hätte.
Du bist wütend – ich verstehe das, Denya. Aber du musst mir glauben!
"Wieso sollte ich euch glauben, Drache? Ihr habt mich entführt, mich von meinen Eltern getrennt und ihr haltet mich in einer dunklen Höhle gefangen!"
Zu allererst: Du bist nicht gefangen. Wenn du gehen willst: Dort ist der Ausgang aus meiner Höhle.
Er zeigte mit einer seiner Klauen auf den Höhleneingang, durch den ein wenig Tageslicht einströmte.
Doch bevor du gehst, solltest du noch etwas über deine Eltern erfahren.
Zuerst war sie nur erstaunt: Der Drache entführte sie, nur um sie kurze Zeit später wieder laufen zu lassen?
"Ihr würdet mich gehen lassen? Einfach so?"
Der Drache nickte.
Sie dachte nach.
"Was sollte ich über meine Eltern wissen?"
Leoric und Margareth sind nicht deine Eltern.
Sie sagte zunächst nichts.
Das ist nicht wahr… nein, das ist nicht wahr! Der Drache lügt… ja, es muss eine Lüge sein…, dachte sie. Aber sie war nicht ganz so überzeugt davon, wie sie hätte sein sollen…
VERDAMMT, DENYA, DAS KANN EINFACH NICHT WAHR SEIN!, scholt sie sich selbst – wie konnte sie sich durch so eine billige Lüge in Zweifel bringen lassen?
Nachdem sie eine Zeit lang still mit sich selbst gerungen hatte, fragte sie dann trotzdem: "Könnt ihr diese Aussage beweisen, Drache?"
Ich denke schon… doch dazu musst du mir vertrauen!
"Ich frage euch noch mal, Drache: Wieso sollte ich euch trauen, nach all dem, was passiert ist?"
Nun… ich habe dich nicht getötet…
Das war ein guter Grund… Wenn er sie töten wollte, warum sollte er solche Spiele spielen?
"Und wie wollt ihr es beweisen?", fragte sie tonlos.
Ich kenne einen magischen Spruch, der dir bereits vergessene Erinnerungen zurück bringen kann.
"Aha… aber sagt mir: Wie soll das beweisen, dass meine Eltern nicht meine Eltern sind?", fragte sie ärgerlich.
Ich kann dir dabei helfen, die Erinnerung an deine wirklichen Eltern und wie sie von Leoric und Margareth umgebracht wurden, zu suchen.
"Meine… sie töteten meine "richtigen" Eltern? Das ist absurd!", sie lachte – doch es klang nicht sehr überzeugend.
Tu es oder lass es – es ist deine Entscheidung… doch ich verspreche, dass ich dir nichts tun werde.
Sie dachte drüber nach… was könnte er schon mit ihr machen? Was würde passieren? Es würde schon nicht von Nachteil sein…
"Nun gut – zeigt mir, was ihr mir zu zeigen habt. Obwohl ich bezweifle, dass ihr die Wahrheit sprecht."
Ich kann dir nur zeigen, was du schon weißt, was jedoch tief in deinem Gedächtnis vergraben liegt. Leg dich hin!
Sie zögerte einen Moment – dann tat sie, wie der Drache gesagt hatte und legte sich auf den harten Boden. Der Drache bewegte eine seiner Krallen in ihre Richtung. Plötzlich überkam sie eine Panik. Ihr Herzschlag und ihr Atem wurden schneller. Sie dachte: Er wird mich töten, oh ihr Götter, er wird mich in tausend Stücke zerfetzen…
Ich muss deinen Kopf berühren, um den Spruch ausführen zu können. Hab keine Angst!
Und sie beruhigte sich wirklich. War das eine Art von Magie?
Nun entspanne dich und schließe deine Augen, Denya!
Da sie sich nun aus irgendeinem Grund wieder beruhigt hatte, war es kein Problem für sie, sich zu entspannen. Und als sie ihre Augen schloss, beachtete sie die Klaue des Drachen, die ihr Gesicht sanft berührte, überhaupt nicht mehr.

Sie fand sich selbst in einer Art Korb liegen. Es schien wie eine Erinnerung aus ihrer frühen Kindheit… Sie konnte sich nicht bewegen und nicht sprechen – nur der Szene, die sich vor ihr abspielte, zusehen: Sie sah einen großen, schlanken Mann in einer weißen Robe, der vor ihrem Korb stand. Er sah sie nicht an, sondern schien sich auf einen Punkt außerhalb ihrer Sichtweite zu konzentrieren. In ihren Augenwinkeln sah sie eine Frau, die ihren Korb hielt und ihr beruhigende Worte ins Ohr flüsterte. Dann sah sie einen anderen Mann in ihrem Sichtfeld erscheinen – es war ihr Vater, Leoric. Er sagte etwas:
Du Narr, du hast keine Chance gegen meine arkanen Kräfte! Gib mir das Kind jetzt gleich und vielleicht werde ich dein wertloses Leben und das deiner Frau verschonen.
Der andere Mann antwortete:
Nein! Du wirst mich schon umbringen müssen, um Denya in deine dreckigen Pranken zu bekommen, Bastard!
Denya konnte sich nicht helfen, sie KANNTE diese Stimme von irgendwoher. Leoric sprach wieder:
Es wird mir ein Vergnügen sein, dich zu töten, Narr!
Die beiden Männer begannen sich zu umkreisen. Dann sah sie das Gesicht des fremden Mannes. Es war der gleiche Mann wie in ihrem Traum gestern Nacht – und die gleiche Szene. Und wieder erschien er ihr seltsam vertraut. Mit einem konzentrierten Gesichtsausdruck starrte er in die Augen seines Feindes. Leoric auf der anderen Seite lächelte böse und schien von dem Verhalten seines Opfers amüsiert.
Dies war nicht ihr Vater, wie sie ihn kannte…
Aber der andere…
Er sah kurz in ihre Richtung, lächelte entschlossen – und dann überwältigte Denya die Erkenntnis, wer ihr wirklicher Vater war… in diesem Blick lagen Gefühle für sie – ehrliche Gefühle… die Gefühle eines Vaters. Und nun schleuderte er einen Feuerball in Leorics Richtung, fest entschlossen, seine kleine Tochter zu verteidigen. Leoric wich blitzschnell aus und begann nun seinerseits, ihren Vater mit Zaubersprüchen zu bombardieren. Doch Denya konnte weder dem magischen Kampf, noch den Schreien ihrer Mutter Aufmerksamkeit schenken. Sie war in Trance, nicht in der Lage, klar zu denken. Ihr Kopf war leer – so unglaublich leer.
20 Jahre Betrug…?
Was ihre Aufmerksamkeit wieder auf sich zog, war Leoric, wie er zu Boden sank.
Gibst du auf?, fragte ihr Vater.
Lass mich drüber nachdenken…, antwortete Leoric mit einem seltsamen Lächeln auf den Lippen.
Denya wollte ihren Vater warnen, doch sie konnte nichts tun. Einen Moment später wurde er von einem Blitz in den Rücken getroffen, welcher ihn sich auf dem Boden vor Schmerzen winden ließ. Margareth erschien von links.
Hm… nein!, sagte Leoric sarkastisch und stand auf.
Dann zog er einen Dolch, ging zu ihrem Vater und zog seinen Kopf bei den Haaren zurück. Ohne ein Wort zu sagen, schnitt er ihrem Vater die Kehle durch. Ihr Vater röchelte und ein Schwall warmen, roten Blutes ergoss sich auf die Erde. Er sank zu Boden, wo er starb – ertrunken an seinem eigenen Blut.
Denya wollte schreien, sie wollte ihre Augen schließen, sie wollte diesen Alptraum anhalten – doch sie war immer noch machtlos. Dann sah sie ihre Mutter, wie sie sich vor dem Korb aufstellte. Denya wusste, was nun kommen würde, doch alles, was sie tun konnte, war Oh nein! Nein, bitte, nicht! zu denken. Doch ihre Mutter wurde von Leoric hart zur Seite gestoßen. Sie war nun für Denya außer Sicht, doch sie konnte ihren "Vater" sehen, wie er sich neben dem Korb hinkniete. Seine Hände begannen zu glühen und er senkte sie beide mit einem Blick sadistischer Erwartung nach unten. Dann hörte sie die Schreie ihrer Mutter. Die Schreie waren nicht mehr menschlich, als Leoric sie zu Tode folterte. Denya dankte den Göttern, dass sie diese schreckliche Szene nicht mit ansehen musste. Dann kam Margareth wieder in ihr Sichtfeld. Sie beugte sich über ihren Korb und lächelte.
Hallo Denya, meine kleine Tochter!

Sie war wieder in der Drachenhöhle. Doch sie war immer noch wie versteinert. Aber sie wollte sich nicht bewegen, nicht sprechen, nicht schreien. Der Drache sah ihr zu, als eine Träne ihr Gesicht herab lief und auf dem Boden des harten Felsens der Höhle zerplatzte.
Ich weiß, das muss hart für dich sein. So früh mit Tod und Gewalt konfrontiert zu werden… es tut mir leid.
Margareth hatte vor ein paar Tagen fast dasselbe zu ihr gesagt. Nein… er wusste nicht, wie hart es für sie war… er konnte den inneren Schmerz, den sie fühlte, nicht nachempfinden.
Dein Vater war ein guter Mann. Ich habe ihn schon vor deiner Geburt gekannt.
Sie sah auf.
Er rettete mein Leben, als deine Mutter gerade schwanger war. Ich hatte schlimme Verletzungen, als dein Vater mich in den Wäldern fand. Er pflegte mich eine Woche lang, bis ich wieder geheilt war. Ich war ihm natürlich dankbar und wollte mich bei ihm revangieren. Doch das Einzige, was er von mir haben wollte, war ein Versprechen. Ich musste ihm versprechen, sein Kind nach dessen Geburt zu beschützen – dich!
Sie sah ihn ungläubig an.
"Und wo wart ihr dann die 20 Jahre meines Lebens? Wo wart ihr, als meine Eltern starben?", Tränen füllten wieder ihre Augen.
Ich kam zu spät…
Sie schrie: "Aber ihr gabt das Versprechen, mich zu beschützen! Warum seid ihr nicht bei meinen Eltern geblieben? Warum habt ihr sie alleine gelassen?"
Mit Menschen zusammen leben. Das ist keine Leben für einen Drachen!, diesmal waren wütende Emotionen in seinen Gedanken.
Und ich habe geschworen, dich zu beschützen, nicht sie. Du warst die letzten 20 Jahre in Sicherheit. Doch jetzt nicht mehr – also habe ich dich vor Leoric und Margareth gerettet.
"Sie waren beide immer freundlich zu mir… ich kann das nicht glauben! Wieso sollten sie mich wie ihr eigenes Kind behandeln? Und warum muss ich gerade jetzt vor den beiden "gerettet" werden?"
Das ist noch eine Sache, die du über dich wissen musst… Ich bin sicher, dass deine Eltern dir nie über die "Prophezeiung" erzählt haben!?
Noch mehr schreckliche Dinge, die ich erfahren muss…, dachte sie.
"Nein, haben sie nie…"
Lass mich erzählen:
Vor 30 Jahren hatte jede Kreatur mit magischen Fähigkeiten auf diesem Planeten, seien es Magier, Zwerge, Elfen oder auch Drachen, den gleichen Traum: Einer der alten Götter sprach zu uns. Er sagte, dass da ein Kind geboren werden würde. Ein Kind, das jedem die Gabe der Unsterblichkeit geben würde, wenn er es in der Nacht zu dessen 20. Geburtstag auf dem alten Druidenberg opfern würde. Und wenn es geboren wird, würde jeder wissen, wo er das Kind finden könnte. Und wirklich – 10 Jahre später fühlten alle eine extrem starke magische Präsenz, die alle Magier in ihre Richtung zog.

"Ich bin dieses Kind…" – es war keine Frage.
Der Drache lächelte ein trauriges Lächeln.
Ja…
Ich weiß nicht, warum die Götter das taten. Ich würde sagen, es ist eines ihrer grausamen Spiele mit dieser Welt. Vielleicht dachten sie, es wäre spaßig, zu sehen, wie sich Menschen, Zwerge, Elfen und Drachen gegenseitig abschlachten, nur um ein Kind in die Finger zu bekommen und es später zu opfern… Doch sie rechneten nicht mit der Macht von Leoric und Margareth. Die beiden belegten dich mit einem Spruch, der diese attraktive Kraft blockierte. Und der magische Kontakt zu dir wurde von allen verloren. Doch die Götter reagierten nicht, – niemand kennt die Wege, die sie gehen – also bliebst du 20 Jahre lang unentdeckt. Ich wusste, wo du zu finden warst, doch selbst ich kann gegen eine ganze Stadt voll Soldaten und Magiern nichts ausrichten. Darum musste ich bis jetzt warten.

Irgendwie wusste Denya, dass der Drache die Wahrheit sagte. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass diese Kreatur log. Und die Geschichte passte auch perfekt zu ihrem Traum von letzter Nacht…
Sie wusste, dass ihr Leben sich durch die Dinge, die sie gerade gesehen und gehört hatte, komplett verändern würde, doch es hörte sich an wie kompletter Nonsens: Ihr Vater, der ihren Vater umbrachte… ein Drache, der sie vor ihrem eigenen Vater beschützte… eine Prophezeiung, die ihren Vater veranlasste, sie zu ermorden… Doch es war gar nicht ihr Vater!? Sie war sich immer noch nicht sicher. Sie erinnerte sich an Leoric mit seinem bösen Grinsen… Dann an den anderen Mann mit seinem milden Blick… Und wieder an Leoric, wie er seine Kehle durchschnitt…
Wenn meine Eltern wirklich so grausam sind, waren sie die letzten 20 Jahre über verdammt gute Schauspieler…, dachte sie.
Sie war ausgelaugt und erschöpft – physisch und emotional.
So viel war passiert…
In Gedanken versunken lag sie so auf dem Boden der Höhle – und schlief erschöpft ein…

Als sie aufwachte, sah sie den Drachen ein paar Schritt neben sich schlafen. Es schien später Nachmittag zu sein, denn der Himmel außerhalb der Höhle färbte sich langsam rot. Sie ging zum Eingang, um sich die Landschaft anzusehen. Die Höhle lag im Inneren von einem der Berge. Der Fels vor ihr fiel nahezu senkrecht ab. Keine Chance für ein Wesen ohne Flügel, hier hoch zu kommen.
Netter Ausblick, hm?, dachte sie sich… und brauchte einige Sekunden, um zu bemerken, dass sie das gar nicht denken wollte. Sie drehte sich um.
Die smaragdgrünen Augen beobachteten sie.
"Ja, es ist sehr schön…" Den Ausblick hatte sie gar nicht so sehr beachtet…
Stille.
"Ich habe über alles, was ihr mir erzählt habt, nachgedacht. Wieso habt ihr alle Männer meines… von Leoric getötet? Warum habt ihr mich nicht einfach bei Nacht geholt oder als ich alleine war?"
Ich wollte nichts riskieren. Du warst nie richtig alleine, immer waren Soldaten um dich herum. Und wäre mein Versuch fehlgeschlagen, wäre es noch schwieriger geworden, dich zu retten – ich musste mich so spät offenbaren, wie möglich.
Sie dachte noch einmal drüber nach – musste sie wirklich vor ihren "Eltern" gerettet werden? Wollten diese sie wirklich töten?
Laut sagte sie: "Unsterblichkeit… nur indem man das Leben einer anderen Person nimmt… es klingt noch immer unglaublich. Wieso muss gerade ich diese Person sein?"
Die Götter haben dich ausgewählt. Ich kann es aus dieser Nähe sogar durch den mächtigen Spruch deiner Eltern hindurch spüren.
"Und wieso seid ihr so sicher, dass diese Unsterblichkeitsgeschichte wahr ist? Warum sind sich Leoric und Margareth so sicher?"
Du verstehst nicht, Mensch! Leoric und Margareth hatten diesen Traum! Ich hatte vor dreißig Jahren diesen Traum! Andere Drachen hatten ihn auch! Selbst dein richtiger Vater… Denkst du immer noch, das ist alles Zufall?
Wütende Emotionen trafen ihre Gedanken und beeinflussten ihre Gefühle.
"Nennt mich nicht "Mensch"! Ihr wisst, dass ich einen Namen habe. Wo wir gerade dabei sind, wie ist eigentlich euer Name?"
Grmpf… nenn mich T’Sana!
"T’Sana… das ist ein seltsamer Name…"
Nenn mich Drache, nenn mich T’Sana – es macht keinen Unterschied!
Sie war wieder still.
Dann sagte sie: "Es tut mir leid. Ich bin immer noch verwirrt von allem… Was würdet ihr sagen, wenn eine Kreatur, die 100mal größer als ihr ist, euch erzählt, dass eure Eltern nicht eure Eltern sind und dass die gesamte Welt euch jagt, nur weil ihr ein wenig Unsterblichkeit mit euch herum tragt!"
Auf einmal kam etwas, wie Fröhlichkeit in ihre Gedanken. Und dann begann der Drache – zu lachen! Es klang zwar mehr wie ein befremdliches Grunzen, doch in ihrem Kopf ertönte trotz ihrer Wut ihr eigenes, helles, klares Lachen – es schien, als würde sie für den Drachen emotional lachen, während er nur die passenden drakonischen Gesten und Töne machte.
"Wieso lacht ihr? Was ist so lustig daran?"
Es ist nur niedlich, dich hier vor mir zu sehen, immer noch mit Angst im Herzen, aber bereits streitend, als wären wir ein altes Ehepaar.
Du siehst gut aus in Rot!, fügte er dann mit einem Grinsen hinzu.
Sie drehte sich wütend um. Der Drache fuhr mit dem Lachen fort und seine Emotionen bekämpften die ihren. T’Sana gewann den Kampf und Denya begann zuerst wider Willen, aber dann ehrlich und herzlich mit ihm zu lachen.
Das ging eine Minute so – bis Denya komplett außer Puste war und sie ein lautes Rumpeln in ihrem Körper vernahm.
"Sagt mal, habt ihr irgend was zu Essen in eurer Höhle?"
Der Drache wurde sofort ernst.
Nein, habe ich nicht. Und ich werde auch nicht jagen gehen. Jemand könnte mir folgen.
"Und was ist mit Wasser? Ihr müsst wissen, dass ich ohne Wasser nicht lange überleben kann…"
Sehr witzig! Tiefer in der Höhle ist eine Quelle, da kannst du dich waschen und etwas trinken.
Sie sah tiefer in die Höhle hinein – oder sie versuchte es zumindest. Denn da war nur ein großes, schwarzes Loch in der Wand.
"Ich kann überhaupt nichts sehen!"
T’Sana grummelte.
Menschen… Nimm das hier!
Ein gelber Ball erschien auf einer seiner Klauen. Er schien wie eine Fackel. Sie nahm ihn – obwohl er wie eine Flamme brannte, war er kalt wie ein Stein.
"Wow!" war alles, was sie heraus brachte.
Dann ging sie tiefer in die Höhle, die sie nun einigermaßen gut ausleuchten konnte, hinein.
Je tiefer sie eindrang, desto wärmer wurde es. Dann fand sie einen kleinen See. Sie legte das Licht auf den Boden und tunkte ihre Zehenspitzen in das Wasser – es war angenehm warm. Zuerst trank sie ein wenig, – trotz seiner warmen Temperatur schmeckte es frisch und sauber – dann zog sie sich aus, ließ sich in den kleinen See gleiten und genoss die Wärme. Als sie wieder aus dem Wasser kam, merkte sie, dass sie nichts zum Abtrocknen besaß. Also würde sie warten müssen. Sie kniete sich hin und sah sich ihr Spiegelbild auf der ruhigen Wasseroberfläche an. Ihr Gesicht war völlig zerkratzt. Denya konnte sich nicht erinnern, jemals so ausgesehen zu haben. Es war verrückt… alles war verrückt.
Eure Körper sind…so zerbrechlich…
Diesmal dauerte es nicht lange, bis sie bemerkte, dass es T’Sana war, der sprach. Sie drehte sich um und versuchte, bestimmte Teile ihres Körpers zu bedecken, als sie den Drachen im Eingang der unterirdischen Höhle sah.
Denkst du, ich finde deinen nackten Körper attraktiv? Ich bin kein Mensch! Außerdem bin ich genauso "nackt" wie du. Und bedecke ich meine Genitalien, wenn ich einen anderen Drachen sehe? Oder einen Menschen? Die Natur hat uns beide so erschaffen, wie wir hier stehen. Aber ihr Menschen müsst immer diese Kleidung tragen, um das zu verbergen, was ihr seid: Tiere! Tiere wie Pferde. Tiere wie Schweine. Tiere wie Elfen oder Zwerge. Tiere wie Drachen…
Sie war verwirrt: "Was… was habe ich denn getan?"
Ein Seufzen ging durch ihren Kopf.
Nichts… es ist nur so, dass ich euch Menschen wohl nie verstehen werde…
"Ihr mögt Menschen nicht besonders, oder?"
Du hast Recht…
"Aber warum? Was ist so schlecht an Menschen?"
Haben Leoric und Margareth dir je etwas über Drachen erzählt?
"Ja, natürlich!"
Dann haben sie dir sicherlich von Drachen erzählt, die schreckliche und brutale Wesen sind, die es mögen, Menschen und Tiere nur zum Spaß zu jagen und zu töten?
"Nun… ja, sowas in der Richtung…"
Und siehst du so einen Drachen vor dir?
"Nun… nein!"
Und das ist der Punkt! Zuerst jagten sie uns, weil wir "ihre" Rinder fraßen. Als ob sie ihnen gehören würden! Die Menschen, die Drachen bekämpft und diese Kämpfe überlebt hatten, verbreiteten Geschichten über die "schrecklichen Bestien" und veranlassten damit noch mehr Menschen, die Welt von dieser "Krankheit", wie sie es nannten, zu befreien. Die Geschichten wurden immer fantastischer: Die Sache, dass Drachen große Schätze hüten… kompletter Schwachsinn! Doch er ließ Tausende von Menschen ausziehen, um Drachen zu töten – alle nur auf der Suche nach Ruhm und Schätzen, die nicht existierten. Die Menschen glaubten alles, was man ihnen erzählte: Dass Drachen nur Jungfrauen fressen würden und dass sie Männer und Kinder als Sklaven hielten. Sie rotteten beinahe unsere gesamte Rasse aus. Nur eine Handvoll von uns sind übrig… Und alles nur wegen ein paar falschen Gerüchten und Geschichten…
Zunächst war er so wütend, dass sie sich instinktiv duckte, doch als er fortfuhr wurde seine Stimme in ihrem Kopf immer trauriger – so traurig, dass sich ihre Augen mit Tränen füllten.
"Würdet ihr mich auf dem Berg opfern, wenn ihr könntet?", fragte sie dann.
Der Drache sah sie eine Weile mit seinen tief grünen Augen an.
Ich weiß nicht… doch ich gab ein Versprechen. Und Drachen halten ihre Versprechen – sogar gegenüber Menschen. Ich würde mein Leben geben, um dich vor dem Tod zu retten.
"T’Sana?"
Ja?
"Wenn das hier vorbei ist, werde ich allen Menschen die Wahrheit erzählen. Ich werde ihnen sagen, wie ihr Drachen wirklich seid! Ich werde sie bitten, euch nicht mehr zu jagen. Das verspreche ich!"
T’Sana lächelte.
Das ist zwar nett von dir, aber meine Erfahrung lehrt mich, dass Menschen ihre Versprechen eher selten halten.
"Ich werde mein Versprechen halten!"
Wir werden sehen…
Das magische Licht T’Sanas begann zu flackern.
Ich denke, wir gehen besser wieder nach oben. Dort ist besseres Licht für dich. Und ein schöner Sonnenuntergang.
Denya zog sich wieder an und zusammen gingen sie nach oben, die junge Frau und der alte Drache. Doch als sie die obere Höhle, die bereits von dem abendlichen Himmel in tiefes Rot getaucht war, erreichten, blieben sie beide abrupt stehen. T’Sana knurrte.
"Hallo, Schatz!"
Leoric und Margareth standen im Eingang der Höhle.
Denya stand da wie angewurzelt.
"Wie… wie seid ihr hier hoch gekommen?", fragte Denya.
"Nicht nur Drachen können sich in andere Lebewesen verwandeln", war ihre Antwort, wobei sie einen Blick auf die gigantische Kreatur warf. Denya wunderte sich, wieso T’Sana nichts erwiderte.
"Was wollt ihr?"
Margareth lachte seltsam: "Oh, Denya, bist du nicht froh, uns zu sehen? Wir haben dich den ganzen Tag lang gesucht! Wir haben uns Sorgen um dich gemacht! Diese Kreatur hätte dich töten können!"
"Hat er aber nicht! Und nebenbei zeigte er mir, wer ihr wirklich seid, Mörder!"
Jetzt zeigte sich ein wirklich besorgter Ausdruck auf dem Gesicht von Margareth. Kann das gespielt sein?, fragte sich Denya, es wirkt so echt!
"Was meinst du, Schatz? Warum bezeichnest du deine Mutter als Mörderin?"
"Du bist nicht meine Mutter!"
Sie schrie fast.
Doch jetzt sah sie richtig verzweifelt aus und flüsterte fast: "Oh, Denya, Liebling! Was…was ist mit dir los? Was hat diese Kreatur mit dir angestellt?"
"Sie zeigte mir, wer meine echten Eltern getötet hat! Ihr verdammten Bastarde, ich habe euch GELIEBT!"
Ihr Gesichtsausdruck ist so echt…
"Merkst du denn nicht? Er zeigte dir eine Illusion! Etwas, das nie passiert ist…"
Es schien, als würde ihre Mutter gleich weinen.
"Nein, hat er nicht. Ich weiß es!"
Doch sie war sich nicht mehr so sicher.
"T’Sana hat mir über euch und das Opfer erzählt! Ihr habt mich 20 Jahre lang aufgezogen… nur um mich jetzt umzubringen?"
"Oh, Denya, bitte sag mir, dass du das nicht ernst gemeint hast! Bitte sag mir, dass du das nicht so gemeint hast! Nie, niemals würden wir dir ein Leid zufügen! Niemals, Denya… Und das weißt du!"
Denya war nun völlig verwirrt von der Situation. Jetzt konnte sie nicht mehr glauben, dass ihre Eltern sie betrogen, doch es waren immer noch Bilder von ihrer ein paar Stunden zurückliegenden Vision in ihrem Kopf. Sie stand nun genau zwischen T’Sana und Margareth. Ihre Gedanken schienen sich selbst zu bekriegen: In diesem Moment sah sie ihre Leoric und Margareth und was sie für sie getan hatten, dann kamen Bilder von ihnen, wie sie ihren Vater umbrachten. Sie fühlte sich in eine Richtung gezogen, dann wieder in die andere… als ob T’Sana und ihre Eltern einen mentalen Kampf in ihrem Kopf austragen würden…
Ihre Mutter sah sie besorgt an, während sie unentschieden zwischen T’Sana und Margareth hin und her sah.
So lange, bis Margareth auf einmal lächelte und ihre Hände ausstreckte – es war dasselbe Lächeln, das sie ihr vor 20 Jahren gegeben hatten, bei ihrem allerersten Treffen…
Plötzlich war ihr Kopf frei.
Sie machte einen Schritt in die Richtung des Drachen. Dann noch einen.
Das Lächeln auf dem Gesicht ihrer Mutter erstarb abrupt.
"Falsche Entscheidung, Liebling!"
Nach diesen Worten zauberte ihr Vater, der die ganze Zeit so ruhig gewesen war wie T’Sana, einen mächtigen Blitz auf den Drachen, welcher voller Schmerz aufschrie. Ihre Mutter beschoss ihn ebenfalls mit Blitzen, so dass er bald völlig in ein Netz aus zuckenden Blitzen eingehüllt war. Dann stoppte er mit dem Schreien und fiel in sich zusammen, wobei der Boden ein wenig zitterte.
Sie flüsterte: "Nein!"
War sie denn dazu verdammt, allen Wesen, die sie mochte, den Tod zu bringen? Sie drehte sich, mit Tränen in den Augen, zu ihren Eltern um und schrie: "IHR MIESEN SCHWEINE!!!"
"Schschsch, Denya! Du möchtest doch morgen keine schlechte Laune haben. Es ist schließlich dein Geburtstag. Schlaf jetzt!", sagte ihre Mutter mit ihrem typischen kalten Lächeln. Dann berührte sie Denyas Augen mit ihren Fingern, die darauf von seliger Dunkelheit überfallen wurde…

 

Teil 4: Opfer

Es war Nacht und der volle Mond schien über ihr.
Sie wusste nicht, wie lange sie geschlafen hatte – und sie konnte sich nicht bewegen. Denya war auf einer Art Altar festgebunden. Zu ihrer Linken schien eine Klippe zu sein, da der Boden dort einfach aufhörte. Rechts von ihr standen ein paar alte Bäume auf harter, steiniger Erde. Zwischen ihnen brannte ein Feuer. Sie konnte ihre Eltern hören.
"Und du bist sicher, dass der Spruch funktioniert?" das war Margareth.
"Ja – die Energie wird sich spalten und in uns beide fließen. Sei ohne Sorge, es wird klappen, ich bin mir da sehr sicher… oh, schau nur, unser Mädchen ist aufgewacht!"
Mit diesen Worten erschien Leoric in ihrem Sichtfeld. Sein Gesicht war so ernst wie immer.
"Hast du gut geschlafen, Schatz?"
Sie drehte ihren Kopf von ihm weg.
Er seufzte: "Denya, sag mir eins: Würdest du an meiner Position etwa nicht das Gleiche tun? Stell dir mal vor: Du könntest tun und lassen, was du willst! Du hättest Macht – endlose Macht! Und du müsstest nie mehr irgend jemanden fürchten… oder irgend etwas."
"Aber ich würde niemanden töten, den ich 20 Jahre lang geliebt habe!"
"Oh, Denya, du bist ja so naiv. Lass mich dir eins sagen: Wir haben dich niemals geliebt! Nie!"
Sie drehte sich wieder zu ihm um: "Das ist nicht wahr! Ich weiß, dass ihr mich geliebt habt! Ich konnte es fühlen, ich konnte es zwanzig Jahre lang fühlen! Ihr könnt nicht sagen, dass ihr mich nicht geliebt habt! Nein, das könnt ihr nicht…"
Er lachte laut auf: "Oh, Mann! Margareths telepatische Kräfte sind doch besser, als ich gedacht habe. Du musst wissen, sie hat dich die ganze Zeit über manipuliert. Sie gab dir mental ein, nie die Burg zu verlassen – also bist du auch nicht geflohen. Sie gab deinem Unterbewusstsein das Gefühl, wir würden dich lieben – also hast du das auch 20 Jahre lang gedacht. Sie hat dich manchmal Sachen machen lassen, die du überhaupt nicht wolltest – und ohne, dass du es je erfahren hättest!"
"Aber… ich… ich wollte die Burg nicht verlassen, weil… weil… ich dachte ihr würdet…", sie brach in Tränen aus. Sie war nicht mehr in der Lage zu sprechen. Es war ein Schock: 20 Jahre – ein Spiel, ein Drama, ein Theaterstück von zwanzig Jahren Länge. Und sie war die Hauptfigur gewesen.
Leoric fuhr fort: "Du musst wissen, als ich von der Prophezeiung träumte, konnte ich es natürlich nicht glauben. Aber als ich mit Margareth und einigen anderen Menschen sprach, die allesamt genau den selben Traum gehabt hatten, wurde es immer und immer wahrscheinlicher, dass du geboren werden würdest und die Prophezeiung wahr ist. Und dann, eines Nachts, spürten wir die ungeheure Energie – die reine magische Energie, die von dir ausging. Wir wurden nahezu magnetisch in deine Richtung gezogen.
Der einzige Moment in meinem Leben, an dem ich dich liebte, war, als wir dich in deinem Korb fanden und ich die Bestätigung erhielt, dass es dich gibt…"
"Nachdem ihr meine Eltern getötet habt, Mörder!"
Er runzelte die Stirn.
"Ich kannte deine Eltern nicht, aber ich kann offen und ehrlich sprechen, wenn ich sage…"
Er brach seinen Satz abrupt ab. Seine Augen weiteten sich. Er stöhnte… und brach dann tot zusammen. Hinter ihm stand Margareth mit einem blutigen Dolch in der Hand. Und mit ihrem typischen Lächeln sagte sie: "Tut mir leid Leoric, aber ich möchte lieber auf Nummer Sicher gehen… doch du verstehst mich bestimmt."
Dann sah sie auf.
"Ich weiß nicht genau, wie spät es ist, aber dein Geburtstag ist mehr als nah, Denya! Ach ja, wie er die gerade erzählt hat: Es war schon eine harte Zeit mit dir. Immer, wenn du in unserer Nähe warst, musste ich mich konzentrieren. Es hat fünf Jahre gedauert, bis du uns ganz akzeptiert hast… und dieser Drache zerstörte alles binnen weniger Stunden! Er war mächtig – aber nicht so mächtig, wie wir dachten. Er war leicht zu besiegen. War er dein Freund?"
Denya nickte abwesend.
"Oh, tut mir leid! Ich bin mir sicher, du wirst ihn bald schon wieder treffen. Aber bitte, sei ehrlich: Hast du ihm voll und ganz vertraut? Du wusstest doch nichts über ihn. Er hätte dich jederzeit töten können – einfach so! Du weißt nicht, was du dir als Freund auserkoren hast! Ein wildes Tier…"
"NEIN! DU weißt nicht, was ich mir als Freund auserkoren habe! Du weißt nichts über Drachen, gar nichts! Du kennst nur die Klischees von ihnen – du weißt nicht, wie sie wirklich sind! Und du bist noch viel schlimmer, als dieses wilde Tier!"
"Ich denke, ich sollte dir sagen, dass der Drache ähnliche Kräfte hatte, wie ich. Ich denke, er manipulierte deine Gedanken, wie ich es die Jahre davor getan habe. Ich weiß nicht, was er dir erzählt hat, aber ich denke, das Wenigste davon war wahr. Ich denke, er war ein Lügner, wie Leoric und ich. Er hätte dich gegen Mitternacht hierher gebracht und dich getötet. Seine Höhle ist ja schließlich ganz in der Nähe… Aber er ist tot – genauso wie Leoric. Ich bin der letzte Lügner, der übrig ist! Ich bin der Gewinner im großen Spiel der Götter! Und ich werde ihnen gleich sein, wenn ich diese Welt für mich eingenommen habe!"
Die letzten Sätze schrie sie beinahe – dann wurde sie wieder ruhig und beugte sich herab, um in ihr Ohr zu flüstern. "Ich muss dir danken, Denya. Denn du wirst mir die Gabe dazu geben – die Macht!"
Dann küsste Margareth sie auf die Stirn und hob ihren blutigen Dolch.
"Einen schönen Geburtstag wünsche ich dir, Denya", schrie sie.
Doch der Dolch kam nicht herunter. Margareth stand einfach nur da, völlig regungslos. Denya konnte durch ein großes, rundes Loch in ihrem Bauch sehen. Dann materialisierte sich eine große Klaue in diesem Loch – und hinter ihr T’Sana, der rote Drache. Er hatte Margareth einfach auf eine seiner scharfen Klauen aufgespießt. Sie röchelte und spuckte Blut – dann hob sie der Drache hoch und warf sie in die Luft, holte tief Luft und spie eine große weiße Flamme in ihre Richtung, noch während sie flog.
Nur Asche kam wieder zu Boden.
Er drehte sich zu Denya und lächelte.
Unsichtbarkeit – sehr nützlich…
"T’Sana, ich dachte du wärst…"
Tot? Oh, es braucht schon ein wenig mehr, als ein paar lächerliche kleine Blitze, um einen Drachen zu töten! Geht es dir gut?
"Ja, danke." Nun lächelte sie auch. "Ich dachte schon, das wäre mein Ende…"
Ich habe doch gesagt, dass ich dich vor ihnen beschützen würde!
Der Drache lächelte noch ein wenig breiter.
Aber du darfst dich jetzt entspannen – es ist vorbei!
"Ja… endlich…", sie seufzte und versuchte sich zu entspannen.
Dann wurde sie von einer Vision überwältigt.

Sie flog.
Es schien der gleiche Spruch zu sein, den T’Sana schon in seiner Höhle auf sie gesprochen hatte. Doch er hatte sie diesmal nicht mit seiner Klaue berührt! Außerdem konnte es keine von ihren Erinnerungen sein… es war eine von T’Sanas Erinnerungen! Sie war in seinem Körper, sie konnte sehen, was er sah, sie konnte fühlen, was er fühlte, sie teilte sogar seine Emotionen – sie war ein Drache! Denya flog hoch über den Wolken und eine wunderschöne, weiße Landschaft breitete sich unter ihr aus. Und sie fühlte eine magische Präsenz. Eine magnetische Kraft, die sie in eine bestimmte Richtung zog. Sie brach durch die Wolken. Unter ihr lagen Wälder, Flüsse, Wiesen und eine Straße, die sich am Rande des Waldes durch die Landschaft schlängelte. Und dann fand sie, wonach sie gesucht hatte. Zwei Menschen waren auf der Straße – ihre scharfen Augen erkannten einen Mann und eine Frau… die Frau trug irgend etwas. Ein Kind… das Kind, nach dem sie suchte.
Denya’s Unterbewusstsein wusste, was nun kommen würde – aber es war nur eine leise Stimme, die sie nicht beachtete. Sie war von den Gefühlen des Drachen überwältigt. Es war so schön, zu fliegen… es war die pure Freiheit!
Nun war sie den beiden Menschen schon recht nahe, also ging sie in einen Gleitflug, um die beiden nicht zu früh zu erschrecken. Doch ein paar Sekunden bevor sie landete, fiel ihr Schatten über die beiden Menschen. Sie drehten sich um. Die Frau schrie laut und die Augen des Mannes fielen fast aus seinem Kopf. Das Baby, ihr Ziel, begann ebenfalls zu schreien. Aber Denya war von den neuen Gefühlen von T’Sanas Körper noch immer zu fasziniert, um die Stimmen zu beachten, die ihr sagten, dass sie die beiden Gesichter vor ihr kennen würde. Ihr Vater sah noch immer so aus, wie der Mann, den sie in ihren Visionen zuvor gesehen hatte. Sie landete genau vor ihnen, was die Menschen veranlasste, ein paar Schritte rückwärts zu machen.
Der Mann reagierte zuerst: "Was wollt ihr, Drache?" Er hatte Mut.
Sie konnte T’Sana denken hören… oder war es sie, die dachte?
Ich will das Kind.
"Nein! Ihr werdet es niemals bekommen! Niemand wird es je bekommen! Es ist mein Kind und ich werde es vor jedem beschützen, der hier ankommt und es für dieses verdammte Opfer stehlen will! Kommt schon, Drache, kämpft gegen mich! Ich habe keine Angst!"
Sein Geruch sagte aber etwas anderes.
Narr! Denkst du wirklich, du kannst solch einen Kampf gewinnen? Gib mir das Kind und vielleicht lasse ich dich und deine Frau leben!
Der Mann sah sie hasserfüllt an. Dann hob er eine Hand – und aus seinem Finger schoss ein magischer Pfeil, der ihre Brust traf und sie einfror. Der Schmerz war unerträglich. Er war es auch, der sie aus ihrer Lethargie holte. Sie war nicht T’Sana, sie war nur in seinem Körper… und der war drauf und dran, ihre Eltern umzubringen!
Für den Moment konnte sich T’Sanas Körper nicht bewegen. Sie sah ihren Vater wie er sagte: "Ha! Ihr denkt, ich bin so einfach zu besiegen, wie die anderen Menschen? Ihr denkt, es würde einfach werden, das Kind der Unsterblichkeit in die Finger zu bekommen? IHR seid der Narr, Drache!"
Mit diesen Worten zauberte er einige magische Sprüche auf sie, die schreckliche Schmerzen durch ihren gesamten Körper schickten. Sie wollte, dass es aufhört, doch sie hatte keine Kontrolle – sie konnte nur zusehen, denken und leiden.
Doch dann machte ihr Vater einen gravierenden Fehler: In seiner Wut zauberte er einen Feuerball, der das Eis schmelzen ließ und den Drachen befreite. Blitzschnell hob er eine Klaue und drückte Denyas Vater zu Boden.
Und sie konnte nur zusehen.
Ich denke, die Antwort auf die Frage "Wer ist hier der Narr?", hat sich wieder verändert – aber ich denke auch, dass sie sich nicht noch einmal ändern wird…
Und was jetzt kam, war der reinste Horror für sie.
Denn sie holte tief Luft. Sie wollte es nicht sehen, sie wollte ihre Augen schließen oder wegsehen – alles nutzlos. Dann spie SIE eine helle Flamme, die gerade noch heiß genug war, um ihren Vater ein paar Sekunden lang voller Qual schreiend leben zu lassen. Als seine Schreie verstummten, wurde das Feuer, das SIE spie, nahezu weiß und verbrannte ihn letztendlich zu Asche. Sie fühlte T’Sanas tiefe Zufriedenheit – und sie wollte schreien und aufwachen… doch die Folter ging noch weiter.
T’Sana suchte nach der Frau – sie rannte die Straße hinunter. Denya warf sich in die Luft und folgte ihr. Plötzlich stolperte die Frau und fiel der Länge nach hin. Denya brüllte triumphierend, während sie Nein, nein, bitte nicht… dachte. Sie landete vor ihrer Mutter. Die relativ junge Frau rappelte sich auf und starrte in die Augen von Denyas drakonischem Körper. Das Kind war nirgendwo zu sehen…
Wo ist das Kind, Mensch?
Sie konnte die Angst in den Augen ihrer Mutter sehen… sie konnte ihre Angst riechen. Doch die Frau sagte: "Ich werde euch nichts sagen! Ihr werdet sie nie bekommen! Nicht in eintausend Jahren!" Dann spuckte sie auf den Boden vor dem Drachen. Ärger überkam Denya. Dann öffnete SIE ihr Maul und schloss es über ihrer Mutter. Sie hob ihren Kopf und verschlang ihre eigene Mutter, die noch immer zappelte und schrie.
Bei dieser Aktion schrien alle von Denyas Gedanken in psychischer Agonie – doch ihre Gedanken waren die genauen Gegensätze zu ihren Gefühlen ihres Körpers: Sie konnte das Blut ihrer Mutter schmecken – es war köstlich! Doch gleichzeitig erweckt der Geschmack eine unerträgliche Übelkeit in ihr. Und nachher kam wieder dieses Gefühl vollkommener Zufriedenheit – und dazu entstand in ihr ein bodenloser Selbsthass.
Diese gegensätzlichen Gefühle machten sie wahnsinnig – doch die Vision ging immer noch weiter.
Plötzlich konnte sie Pferde hören. Sie mussten noch eine oder zwei Meilen weit weg sein. Sie schlug mit ihren Flügeln, erhob sich in die Lüfte und spähte in die Richtung, aus der die Geräusche kamen. Zwei Pferde mit zwei Reitern kamen die Straße herauf – sie kannte die beiden Menschen nur allzu gut: Es waren Leoric und Margareth. Eine Welle des Zorns überkam sie. T’Sana war durch ihren Vater zu sehr geschwächt, um es mit den beiden Magiern aufnehmen zu können. Er beobachtete sie, wie sie die junge Denya im Wald neben der Straße fanden und wie sie zurück zu ihrer Burg ritten.
Doch den Rest ihrer Vision beachtete sie nicht mehr. Nur ein einziger Gedanke begleitete sie:
Ich habe meine Eltern getötet…
Ich habe meine Eltern getötet…
Ich habe meine Eltern getötet…
ICH HABE MEINE ELTERN GETÖTET!

"ICH HABE MEINE ELTERN GETÖTET! IHR GÖTTER, ICH HABE MEINE ELTERN GETÖTET! ICH HABE…"
HALT DIE KLAPPE!
Sie war sofort ruhig. Sie wollte zwar weiter schreien, doch etwas verbot es ihr. T’Sana lächelte noch immer sein drakonisches Grinsen – doch nun erkannte sie es als das böse Lächeln, das es die ganze Zeit über gewesen war.
In gewisser Weise hast du Recht, meine liebe Denya: Du hast deine Eltern wirklich getötet! Dein Geburt… Ja, deine Existenz hat sie umgebracht!
"Warum? Warum du? Was… was ist mit deinem Versprechen?"
Närrisches Kind! So ein Versprechen existiert natürlich nicht! Und warum ich das hier mache, weißt du gut genug.
"Rache?"
Teilweise, ja! Hauptsächlich kann ich nicht mit deiner Spezies auf einem Planeten zusammen leben. Ihr verbreitet euch über die gesamte Welt und bezeichnet euch selbst als ihre großen Herrscher. Aber ihr seid schwach! Sieh dich an! Was bist du, ohne irgendwelche Waffen oder Zaubersprüche? Fleisch! Das seid ihr Menschen für mich! Es hat mich sehr viel Überwindung gekostet, dich nicht gleich umzubringen, als du in meiner Höhle warst. Und es hat mich sogar noch mehr Überwindung gekostet, mit dir wie ein süßes kleines Haustier zu reden! Doch ich denke, das, was jetzt kommt, ist all den Trubel wert! Stell dir das mal vor: Millionen von Menschen werden sterben – nur wegen dir!
Er hob eine Klaue und setzte sie auf ihre Brust.
Sie schloss ihre Augen…

 

Epilog

T’Sana stand auf der Klippe. Er konnte die Macht fühlen, die durch seine Adern strömte. Es war also Wirklichkeit. Er war unsterblich! Es war nicht nur ein Gefühl – es war eine innere Gewissheit! Er genoss die pure Macht, die ihn durchfloss. Dann fragte er sich, was er mit dieser Macht anstellen wollte. Er hatte es angesichts des überwältigenden Gefühles einfach vergessen. Da sah er unter sich auf der Straße einige Lichter. Es war eine Zigeunerkarawane. Oh, ja… jetzt wusste er wieder, was er mit seiner neuen Macht machen wollte. Er breitete seine Flügel aus und flog den Berg hinunter.

Eine schlaffe Hand hing vom Altar, noch immer vom Feuer auf dem Berg beleuchtet. Doch die Flamme war schon weit herunter gebrannt und würde nicht mehr sehr lange leuchten.
Als die Schreie der sterbenden Menschen den Berg herauf klangen, begann das Feuer stark zu flackern. Es war nicht der Lärm eines Kampfes – es war der Lärm eines Massakers. Männer, Frauen, Kinder, sogar Babys – sie alle schrien und starben in Schmerz und Leid. Nur das triumphierende Brüllen des Drachen war lauter als die schrecklichen Schreie.
Und als die letzten Geräusche von sterbenden Kindern über den Berg hinweg hallten, ging das Feuer aus…

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Der Drachentöter (Melanie Möller)

In glänzender Rüstung steht er da,
unter seinem Helme schimmert sein güldenes Haar.
Stolz bewaffnet mit dem Schwert in der Hand
und einem hölzernen Schild wie man es nur selten gekannt.

Getroffen hat es ihn wie Schläge, wie Hiebe
als man ihm nahm seine einzig‘ wahre Liebe
als Opfer wurde sie dem schrecklichen Untier überlassen
wie sollte er des Königs Entscheidung da nicht hassen.

Doch gegen des Königs Wille kein einfacher Herr kann bestehen
nun muss er selbst als mutiger Mann seinen Helden stehen.
Und als er der Kreatur gegenüberstand, sah er rot
mobilisierte seine ganzen Kräfte und stach das Tier tot.

– der Drachentöter

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Der chinesische Drache (Melanie Möller)

Bin des Kaiser Symbol für Stärke und Macht
und schütze ihn auf seinem Thron.
Bringe Glück und Weisheit in die Welt,
Ehrung und Anbetung sind mein Lohn.
Bin Herrscher über Elemente und die Natur
behüte und schütze sie wie meinen Sohn.

Ich bin ein Drache.

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Der Feendrache (Melanie Möller)

Ein Wesen gar lieblich und klein
sein Herz ist edel und rein.
Sein Gemüt ist von Güte und Sanftmut
in den Blättern der Bäume es friedlich ruht.

Wurzeln, Obst und Nüsse sind seine Speisen,
mit den Elfen und Feen geht es auf Reisen.
Auf seinem Rücken sind schimmernde Schwingen
ist selig und glücklich mit seinem Sinnen.

Sein Körper hat kleine seidene Härchen
seine Existenz ist verankert in Legenden und Märchen.
Mühelos fliegt es durch Zeit und Raum
ist viel mehr als nur ein Kleinmädchentraum

– der Feendrache

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Der Wasserdrache (Melanie Möller)

Er lebt im feuchten, kalten Nass
in unterirdischen Stollen, Höhlen und Grotten
am Leid der anderen hat er Spaß
bekannt ist er auch bei den Schotten

Er schimmert in Grün, Türkis und Blau
fordert als Tribut jährlich eine junge Frau
mit Vorliebe ein schönes Wesen von Güte und Fleiß,
das ist für die Dörfler stets ein sehr hoher Preis.

Doch verliebt sich das Wesen und wart den Schein
kann sich die Jungfrau sicher sein
das sie weg ist die Gefahr und die Härte
und er wird zum poetischen, treusorgenden Gefährten

– der Wasserdrache

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Der Feuerdrache (Melanie Möller)

Hörst Du es brodeln, kochen und speien
dann kannst Du Dir sicher sein
das in der Nähe ein Dorf lichterloh brennt
und ein Bewohner in Panik rennt.

Am Himmel steht der Mond
und eine Kreatur, die im Vulkane wohnt
fliegt über ein verkohltes Moor
hindurch durch des Dörfchens kleines Tor.

Der Mensch rennt und ihm ist Angst und Bange
ob er den Lauf durchhält ? Wohl nicht mehr lange!
Ein Wesen in den Farben Gelb, Orange und Rot
bringt es dem Unglückseligen gleich den Tod.

– der Feuerdrache

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Der Erddrache (Melanie Möller)

Hört ihr den Donner grollen in der Ferne
wo am Himmel leuchten die Sterne
fliegt geschwind wie der Wind
Mutter Erde liebstes Kind

Ein Wesen, das Jungfrauen gefangen hält,
und erretten vor ihm will sie der Held
möchte auch die Sorgen der Dörfler lindern und ihre Not
bringt dem grausamen Ungeheuer den Tod.

Seine Haut ist voll Schuppen und Falten,
er wohnt in dunklen Höhlen und Felsspalten.
Ist der Wächter von Metallen und Edelsteinen
liebevoll zur eignen Brut und bös‘ zu den Seinen

– der Erddrache

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Das Sternbild des Drachen (Karin Roth)

Das Sternbild des Drachens
ist mein zu Haus
dort flieg ich in Gedanken
so oft hinauf

Das Sternbild des Drachens
wo die Phantasie lebt
und meine Seele
weit in den Himmel hebt

Das Sternbild des Drachens
ein Ort voll von Magie
ein Funkeln und Leuchten
das man vergessen kann nie

Das Sternbild des Drachens
es bringt mich zum schreiben
es inspiriert meinen Geist
läd ein mich zum bleiben

Das Sternbild des Drachen
ist in mein Herz gebrannt
hat mich voller Güte
zum Hüter von Legenden ernannt

Das Sternbild des Drachens
ist in jedem meiner Worte
und trägt diese Werke
an viele weit entfernte Orte

Das Sternbild des Drachens
ist mein Ziel in jeder Nacht
es hütet auch dich
und hält über dich wacht

Das Sternbild des Drachens

für Dragonslayer

@ Aquamarin 2.12.2003

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Fluss aus Tränen (Karin Roth)

Von einem Berg,
weit weg von dieser Welt
handelt die Geschichte
die euch nun hier wird erzählt

Einen See es dort gab
aus schillernden Drachentränen
ein Rinnsal daraus sprang aus dem Fels
in schillernden Wasserfontänen

Das plätschern dieses Wasser
erklang als sanfte Melodie
wurde im Lauf des Flusses
eine mächtige Symphonie

Die Menschen nun vernahmen
des Flusses klingende Weisen
und liebten es auf Booten
seine rauschenden Wellen zu bereisen

Die Menschen die dort wohnten
lebten heiter und ohne Not
denn durch die Tränen des Drachens
verdienten sie ihr täglich Brot

So priesen sie den Drachen
und seinen See aus Tränen
und taten sich für immer
im sicheren Wohlstand wähnen

Doch Menschen niemals vergaßen
wer ihnen ihren Wohlstand gab
und brachten reiche Gaben
zu des Drachens steinernen Grab

Doch irgendwann im Frühjahr
der Drache im Stein wurde geweckt
und nun ein lebendiger Drache
sich auf dem Bergrücken reckt

Keine neuen Tränen mehr flossen
der Fluss nun langsam verschwand aus der Welt
die Menschen dort am Ufer
sie bangten um all ihr Geld

So wurden sie laut und zornig
verfluchten den Drachen am Berg
und machten sich auf den Weg
zu verrichten ein Grausig Werk

Sie kamen um zu töten
die Drachin die da einst war im Stein
vergaßen in ihrer Rage
was die Tränen ihnen einst brachten ein

So kamen sie mit Äxten,
mit Schwertern und mit Beilen
um den Drachen dort am Berg
gar schrecklich zu verurteilen

Doch als sie dann am Berge
verrichten wollten ihre Tat
da hörten sie in Gedanken
einen leisen geflüsterten Rat

Oh hört mich an ihr Menschen
die ihr so undankbar seid
warum nur seid ihr so schnell
zu so schrecklichen Dingen bereit

Jahrzehnte lang da hab ich
euch Wohlstand nun gegeben
nun wo ich endlich erwachte
wollt ihr mir mein Leben nehmen

Aus meinem Leid da habt ihr
gefrönt in Völlerei
woher der Segen kam
war euch doch einerlei

Nun solltet ihr euch schämen
das ihr so egoistisch seid
und doch einmal überlegen
was das Leben für euch hält sonst noch bereit

Nun zieh ich meiner Wege
und lasse euch hier zurück
denn nun ist die Zeit gekommen
wo ich mir selber suche mein Glück

Euch geb ich noch einen Rat
den ihr befolgen solltet
und niemals auf anderer Schmerzen
aufbauen das Glück eurer Herzen

So ging die Geschichte zu Ende
Die Mär ,die ist nun aus
doch solltet auch ihr, die ihr sie gelesen
einmal prüfen euer innerstes Wesen

© Aquamarin 11.12.2003

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Zwischenreich (Karin Roth)

Morgendämmerung zwischen den Welten, die Zeit in der Dämmerung und Licht sich vereinen und die Zeitzonen im ätherischem Licht erglühen lassen.
Hier, im Reich zwischen den Welten, stand SIE nun vor dem großen Teich der Seher.
SIE, die eine, die Welten erschuf und deren Schicksal bestimmen konnte, blickte hinab auf ihre Kinder.
In warme ledrige Schwingen gehüllt rief sie die Zeiten herbei…  und was sie sah, lie0 ihr innerstes erschaudern.

Bruder und Schwester bekämpften sich erbittert,
Stahl gegen Fleisch und Schuppen,
Lanzen gegen Zähne, Klauen und heißes Feuer.

Zu lange so dachte sie,
habe ich diese meine Welt vernachlässigt.
Traurig sah sie in den Gezeitenstrom und beobachtete durch Äonen hindurch den Kampf von Menschen und ihren geflügelten Brüdern.
Sie sah den Beginn der Welt, in der sich die Wesen auf diesem Planeten noch klar darüber waren das sie aus einem Blut geschaffen wurden.
Sah Menschenwesen und Geflügelte in Harmonie und Eintracht leben.
Bewacher und Schützer waren die Großen Drachen der Menschheit , doch dies alles geriet in Vergessenheit.
Ein Mantel aus Schweigen und Furcht überzog den Planeten und die alten Werte waren verschüttet konnten nicht mehr wieder auferstehen.
Sie sah die Menschheit wachsen und gedeihen und im selben Maße wurde das Volk der Drachen aus der Welt gedrängt.
Kein Platz mehr um zu überleben.. kein Platz mehr um ihre Magie zum tragen zu bringen.. kein Platz mehr für die Liebe die diese beiden Völker einst verband.

SIE.. als Geschöpf beider Völker trauerte um den Verlust der dieser Welt beschert war.
Sie blickte sich selbst im Teich an
Ihr große beeindruckende Menschengestalt … rote Augen in denen das Feuer der Lava glühte das durch ihre Adern floss.. Schwingen, die wenn sie zusammengefaltet waren, sich hoch über ihren Kopf erhoben.
Ledrig.. tiefschwarz und mit starken Muskelsträngen durchzogen,
 die sie wie eine Feder durch die Lüfte tanzen ließen.

SIE ein Wesen in denen beides vereint war,
SIE blickte auf ihre vergessene Welt und weinte heiße Feuertränen aus Trauer darüber was aus ihren Kindern wurde.
Doch da..
Sie konnte es nicht glauben..
Ein Hoffnungsschimmer
Es gab noch Menschen die ihre Brüder nicht verachteten.
Sie hatten zwar die Sprache des Herzen verlernt
Konnten sich nicht mehr ausdrücken ihren großen Brüdern und Schwestern gegenüber
aber
sie hatten einen Weg gefunden.
In Träumen.. in Wünschen, in Sehnsüchten.. in Schriften
Sie besangen ihre Brüder in Geschichten
Schrieben Fabeln und Legenden über sie
Und ließen nie Sterben die Magie der alten Welt.

Beruhigt wandte sie sich ab vom großen Teich,
ein Lächeln ließ ihr Gesicht erstrahlen,
denn sie wußte
solange noch Phantasie in den Herzen der Menschen lebte
solange noch der Glaube an Magie existierte
solange
ist immer noch die Möglichkeit das diese Welt nicht untergehen wird
solange noch Hoffnung auf Erden lebt
werden Menschen und Drachen leben
leben in jedem Wesen
und deren Magie wird die Welt erobern wie es in alten Zeiten vorherbestimmt war
©Aquamarin 2001

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Traumflug (Karin Roth)

Ich sah dich fliegen
am glühenden Firmament
man erkannte das es war
dein ureigenstes Element

Frei wie ein Adler
flogst du den Sternen entgegen
aus Ehrfurcht vor dir
konnte ich mich nicht mehr bewegen

Deine Gestalt
war mächtig und elegant
du schimmerst am Himmel
wie ein feuriger Trabant

Immer wieder
blieb mein Blick an dir hängen
unterlagst du doch dort oben
keinerlei Zwängen

Ich bewundere
deine glänzende Gestalt
und mein Herz wusste
in dir ist kein Funken von Gewalt

Wesen wie du
brachten mich zu meinen Träumen
umgeben mich
wie sanftes Meeresschäumen

Solange ich dich
in meinen Träumen fliegen sehe
weiss ich genau
das ich dir Rechten Wege gehe

Nun fliege weiter
oh Traumdrache mein
wirst immer ein Stück
von meiner Seele sein

© Aquamarin 12.8.2003

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Tal der Tränen (Karin Roth)

Als die Nacht sich hernieder senkte ,
begrüßte das Tal seinen neusten Bewohner.
Eine Wölfin ..
Jung an Jahren war sie,
Ihre Muskeln zeichneten sich deutlich unterm dem nachtschwarzen, wie Rabenfedern schimmernden  Fell ab.
Wenn sie lief,
tat sie es mit einem geschmeidigem ,
federnden Gang der allen Wölfen eigen war.
Ihre Augen glänzten Bernsteinfarbig über dem strahlendweißem Gebiss aus Raubtierzähnen.
Sie war eine wunderschöne Vertreterin ihrer Art.
Doch..
Sie kam alleine,
ohne Rudel,
ohne Gefährten,
wollte sich in ihrer Trauer ob dem Verlust des Rudels zurückziehen
und hier im Tal der Tränen das letzte Mal die wundersame Scheibe am Himmel anheulen und ihre Reise zu den Sternen antreten.
Sie suchte sich zwischen den mächtigen Granitblöcken die dort lagen  einen Platz,
ließ sich auf die Hinterläufe nieder
hob ihr Stolzes Haupt und begann die Uralte Klage der Wölfe anzustimmen.
Als ihre kraftvolle Stimme im Tal wiederhallte,
verstummten alle Geräusche im Tal und jedes Lebewesen dort,
lauschte der Klage der Wölfin voller Andacht und Trauer.
Stunden über Stunden saß sie dort,
klagte über ihre Einsamkeit,
klagte über den Verlust ihres Rudels
und klagte über ihr Schicksal.
Dann,
als langsam die Sonne begann über den Gipfeln der Berge ihren Blutroten Schein erstrahlen zu lassen,
vernahm die Wölfin ein fernes Rauschen und ein merkwürdig Summen erklang in ihren hellhörigen Ohren.
Dort.. über dem höchsten Berg ,
wurde das glühen der Sonne unterbrochen und sie sah einen mächtigen Leib der sich in den Himmel schwang.
Furchtlos blicke die Wölfin in den Himmel und betrachtete das Wesen das mit langen Flügelschlägen sich ihr näherte.
Blau wie der Ozean schimmerte es,
Schwingen aus Leder und Schuppen,
Krallen so scharf wie der Berggrad den es eben überflogen hatte
und einen Kopf der alleine größer war als ihr ganzer Körper.
Die Schwingen entfachten um sie einen Sturm,
 der sie fast von den Läufen gefegt hatte als der Drache landete.
Er faltete seine Flügel auf den Rücken,
senkte sein Haupt
und blickte mit den selben Bernsteinaugen die sie selber hatte in die ihren.
Stolz wie sie war,
hob sie den Kopf und blickte in seine Augen.
Was störst du mich fragt die Wölfin,
ich möchte alleine sein mit meinem Kummer und mit dem Schmerz über meinen Verlust.
Ich hörte dein Klagen ,
hörte den Gesang,
der über die Berge hinauf zu meinen Hort schallte
sprach nun der Drache die Wölfin an.
Du sangst von Einsamkeit,
von Verlust
und von vielen Schmerzen.
Es hat mich gerührt dein Klageruf sprach der Drache nun weiter,
Wisse du Wesen der Erde.
du bist uns Drachen verbunden.
Wir sind beide freie Geister,
wir leben nach unseren eigenen Gesetzen
durch diese Verbundenheit im Geiste
kannst du niemals einsam sein.
Du magst dein Rudel verloren haben,
magst im Augenblick alleine über deine Erde streifen,
doch deine Seele fliegt,
dein Gesang trug sie zu mir und hat sich verbunden mit mir ,
so wie nur freiheitsliebende Seelen sich finden können.
Selbst wenn ich weiterfliegen mag zu meinem eigenen Horizont,
selbst wenn ich weit von dir meine Flügel die Wolken streifen lassen werde,
so wird in Zukunft immer ein Teil von mir in deinem Herzen über die Steppen dieser Erde wandeln und uns beide verbinden.
So wandere nun zurück meine kleine Schwester,
trage den Kampf deines Lebens von neuem aus
und vergiss nie das dir eine Drachenseele zur Seite stehen wird.
Mit diesen Worten breitete der Drache seine Schwingen aus
und hob sich mit einem mächtigen Schwung hinauf in die Wolken.
Lange noch saß die Wölfin dort und dachte über diese Worte nach.
Sie spürte in sich eine neue Kraft.. das Wissen um Freundschaft und Verbundenheit erwärmte ihr Herz und sie machte sich auf, so wie der Drache sagte
und begann aufs neue den Kampf des Lebens,
immer in der Gewissheit das sie,
auch wenn von vielen verlassen,
einen Freund hatte der zu ihr stand und immer in den schweren Zeiten ihres Lebens
einen Teil seiner Seele opfern würde um bei der ihren zu sein.
Denn durch die Macht der Freundschaft,
ist niemand alleine,


© Aquamarin 3.2003

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Kinder des Himmels (Karin Roth)

Kinder des Himmels,
wurden sie einst genannt,
bis Habgier und Neid,
sie aus unserer Welt verbannt.

Kinder des Himmels,
ein Volk rein und klar,
sie waren für die Menschheit,
immer verzaubert und wunderbar.

Kinder des Himmels,
verschwanden aus unserer Welt
nun ist es öde und leer,
das blaue Himmelszelt.

Kinder des Himmels,
wir möchten euch wieder lieben,
möchten mit euch träumen
und mit euch auf Wolken fliegen.

Kinder des Himmel,
kehrt doch zurück in euer altes Heim,
lasst uns mit unseren Sorgen und Ängsten
bitte nicht länger allein.

Kinder des Himmels,
ihr Drachen aus alter Zeit,
ich glaube die Menschheit ist
nun endlich soweit.

Kinder des Himmels,
wir sind nun etwas weiter,
wir stiegen hinauf
die Evolutionsleiter.

Kinder des Himmels,
ich bitte euch kommt zurück
und bringt den Menschen
wieder Hoffnung und Glück

© Aquamarin 2.03

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Hüter der Legenden (Karin Roth)

Als Kinder des Himmels
habe ich euch einst beschrieben
zurück ist nur
die Erinnerung geblieben

Wo ist der Hauch
eurer einstigen Eleganz
wo ist das Spiel
der Schuppenlichterglanz

Wo ist das Spiel
der Schwingen in der Luft
sind den alle Legenden
in der Vergangenheit verpufft

Wo ist der Frohsinn
das holprige Drachenlachen
war denn niemand da
um euren Seelen zu bewachen

Wo sind die Hüter
die eure Geschichten erzählen
habt ihr noch die Kraft
zwischen den Dimensionen zu wählen

Ihr wurdet wie Geister
taumelnd zwischen Raum und Zeit
wartet bis wieder
die Welt ist für euch bereit

So fange ich nun an
 zu träumen vom freien Flug der Drachen
auf das ein Mensch noch
wird eure Legendenwelt bewachen

Ich werde schützen
und hüten eure Sagen
damit die Winde
euer Geheimnis weit in die Welt tragen

So sehe ich mich
als Hüter eurer Legenden
werde mein bestes tun
um eure Botschaft auszusenden

© Aquamarin 3.09.2003

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Drachentränen (Karin Roth)

Ein Himmel wie von Gottes Hand erschaffen sah dieser neue Morgen..
Wundervoll anzusehen,
Winde die in Rot und Violett Tönen schimmerten, Wolken wie aus Watte die am Horizont schwebten wie eine Mauer rund um die Welt..
Die Sonne stand als glühender Ball am Firmament und begrüßte den neuen Tag mit ihren kraftvollen Strahlen und mit ihrer Wärme.
Die Berge erglühtem im Rot der Strahlen und ließen die Welt unwirklich erscheinen in ihrem sanften Licht.
Nebelschwaden hingen in den Tälern und ließen den Tau auf den Blätter glitzern wie Sternschnuppen.
Der Dunst der vom See aufstieg gab all dem einen verzauberten Hauch von Unwirklichkeit.
Es war ein ätherischer Ort voller Schönheit und Zartheit fern aller Realität und fern allen Leides..

Dachte man..

Was allerdings der neue Tag noch sah, war ein Wesen aus einer anderen Zeit..
Groß und Ehrfurchtgebietend flog es einst am Himmel entlang..
Der Schlag der Schwingen entwurzelte einst Bäume und entfachte Orkane über den Wäldern.
Das donnernde Brüllen aus ihrer Kehle ließ ganze Völker erstarren vor Furcht und ließ die Menschen erschaudern aus Angst.
Der heiße Strahl der ihrer Kehle entrann, konnte Legionen niedermähen in seinem Zorn und in seinem Toben.

Doch nun sah der neue Tag dieses Wesen auf einer Klippe sitzen..
Geschwächt..
Müde..
Ausgebrannt..

Und aus ihren  großen .. dunklen Augen sprach die Traurigkeit und die Not eines ganzen Lebens..
Glitzernde Tropfen flossen über die Schuppen ihrer Schnauze entlang..
rannen über den matt gewordenen Panzer aus einst Stahlgrauen glänzenden Schuppen und bildetet am Fuße ihrer einst scharfen Krallen einen kleinen Teich aus Drachentränen.
Ihrer Kehle entrang sich kein Brüllen mehr..
Keine Schwingen mehr die sich kraftvoll bewegten..

Ein Gesang ertönte nur
eine Melodie die vom Schmerz der Welt kündete..
Eine Melodie,
die sang von Schönheit die einst war in ihrem Leben..

eine Melodie
die sang von der Liebe die einst beherrschte ihren Flug
eine Melodie
die sang von Sehnsucht die in ihrem Herzen herrschte

Still war die Welt um sie herum, die Geschöpfe des Waldes hielten ein in ihrem Tun und hörten auf die Stimme dieses Wesens..
Lange saß sie da auf dieser Klippe und lange war ihr Gesang an die Welt
In ihr ein Hoffen,
ein sehnen das ihr Gefährte ihren Gesang vernahm..
das er erkannte was ihr fehlte
das er erkannte warum sie nicht mehr den Spiel des Windes folgen konnte und sich nicht mehr erheben konnte in die Weiten des Firmamentes um mit langen Flügelschlägen ihre Welt wieder zu erobern.

Nach langer Zeit erkannt sie , das sie vergebens ihr Lied gesungen hatte..
Das ihr Mühen sinnlos war
und ihre Melodie im Nichts verklungen war..
das sie die einzige war aus ihrem Volke die noch am Leben war
So wob sie schweren Herzens einen Zauber um sich selber,
der ihren Leib in Stein verwandeln sollte..
ausharrend am Rande dieser Zeit..
bis sie einst geweckt werde
Geweckt von einem Zauberwesen wie sie eines ist..

So verklang leise ihre Melodie und ihr Körper verwandelte sich langsam zu Stein
Nur ganz oben.. einem Rinnsal gleich..
Entsprang diesem neuen Felsen hoch oben  ein Bächlein..
Drachentränen,
Aus Stein geboren, auf das sie zum Wasser des Lebens werden das die Menschheit erinnern sollte an Zeiten die einst waren
So wartet sie heute noch ..
Doch immer noch fließt das Wasser den Berg hinab ,
als schillernde
Drachentränen

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