Artikel-Schlagworte: „Smahug“
Das Prettschett (Der Doktor)
Das Prettschett
Oder: Die durchaus erträgliche Leichtigkeit des Seins
Oder: Jäger des verlorenen Prettschetts
Oder: Drachen sind auch nur Menschen
Oder: Das drachige Dekadent
Oder…okay okay, ich fang ja schon an.
Es ist allgemein bekannt, dass Drachen einen schrecklichen Mundgeruch haben.
Doch…woher ist es bekannt?
Die allermeisten Menschen, die den Mundgeruch der Drachen aus nächster Nähe erleben konnten, durften danach sogar sein Innenleben betrachten – vorausgesetzt, sie hatten eine Lampe dabei. Außerdem beschränkte sich diese Betrachtung nur auf einen geringen Teil des Verdauungstraktes.
Der Rest der Menschheit konnte ja nicht wissen, ob Drachen beispielsweise explizite Zahnpflege betrieben – denen kann man ja schließlich alles zutrauen…
Also, warum konnten die Menschen so sicher sein?
Diejenigen, die eine Begegnung der draconischen Art überlebt hatten, reichten kaum aus, um diese Information über den gesamten Globus zu verbreiten – und außerdem, wer spricht schon über den Mundgeruch eines Drachen?
Fakt ist, das Wissen um diese Information war fest in den Köpfen der Menschen verankert.
Fakt ist, Drachen haben einen schrecklichen Mundgeruch.
Und das wirft die nächste Frage auf: Was war zuerst da? Der Mundgeruch oder das Wissen darum?
Und das wirft die Frage auf: Formt die Realität das Wissen oder formt das Wissen die Realität?
Smahug kümmerte sich nicht um solche pseudo-philosophischen Fragen.
Er wartete.
Sein golden geschuppter Körper räkelte sich auf dem hoch gelegenen Plateau des Versammlungsplatzes und glitzerte dabei im Licht der ersten Sonnenstrahlen.
Unvorsichtige hätten ihn für einen gigantischen Schatzhaufen halten können – sie hätten sehr bald herausgefunden, dass die allerwenigsten Schatzhaufen große, grüne Augen haben…
Und einen riesigen Kopf…
Und zwei große Flügel…
Und scharfe Zähne und Klauen…
Und schrecklichen Mundgeruch…
Er wartete auf die anderen.
Sie kamen im Laufe des Vormittags:
Adorelon, der Silberne.
Neidhöcker, der Bronzene – wenn er nicht gerade mal wieder mit Droca verwechselt wurde.
Droca, der Kupferne…oder doch der Bronzene?
Vasdendas, der Messingfarbene.
Morkulebus, der Schwarze, der aus den finsteren Sümpfen des schwarzen Todes kam, die noch nie von einem Menschen lebendig wieder verlassen wurden.
Er wurde von allen immer nur Morki genannt.
Glaureng, der Grüne.
Tjamat, der Blaue.
Schneeweißchen, die Weiße – ja, sie war der einzige weibliche Drache im Rat. Und ja, sie hatte wirklich so einen dämlichen Namen.
Und Kalessan, der Rote.
Kalessan war einem sofort sympathisch, wenn man ihn das erste Mal traf. Denn man wollte unter keinen Umständen zulassen, dass er unsympathisch wurde. Leider reichte bloßes Menschsein schon aus, um ihn sehr unsympathisch werden zu lassen…
"Es ist ungemein praktisch, ein Drache zu sein!", hatte er einmal gesagt, "Du musst dich gar nicht mehr um die Nahrungsbeschaffung kümmern, nein, die Nahrung kommt zu dir…und meistens bringt sie noch tolle Dinge zum Sammeln und Tauschen mit…"
Deswegen war es ihm auch ein besonderes Greuel, seinen geliebten Hort verlassen zu müssen – und darum war er auch der einzige, der nicht im Laufe dieses Vormittags, sondern des nächsten erschien. Den anderen machte das nicht viel aus, sie waren sein Verhalten schon gewohnt – und wenigstens konnten sie derweil die neuesten Nachrichten, Geschichten und praktische Tips zur effektiven Sklavenhaltung austauschen.
Kalessan landete auf seiner Plattform, während die anderen ebenfalls ihre Plätze einnahmen – Smahug dabei, wie es die Tradition verlangte, in der Mitte des Felsplateaus.
Eigentlich waren es mehrere Plattformen: Eine große in der Mitte und zehn weitere, die kreisförmig um sie herum angeordnet waren. Die Drachen hatten keine Ahnung, wer dieses Bergplateau mitten im Gebirge erschaffen hatte. Aber weil sich Unwissenheit seitens der Mächtigen in der Öffentlichkeit niemals gut macht, wurde schnell eine schöne Geschichte erfunden. Nun hieß es offiziell, dass der allererste Rat der Drachen diesen Platz mittels mächtiger Magie aus dem höchsten Berg des Landes heraus gebrochen hatte, um dort in Zukunft seine Versammlungen abzuhalten, die fortan die Geschicke der Welt lenken sollten.
Solche Geschichten machen sich immer gut…
Jeder Drache saß nun auf seiner Plattform. Und sie saßen auch nur, weil nicht genug Platz war, um sich hinzulegen.
Der Rat der Drachen tagte einmal mehr. Und sein Vorsitzender, Smahug, erhob nun die Stimme:
"Schön, dass du es auch für nötig befindest, hier aufzutauchen, Kalessan!"
"Sei froh, dass ich überhaupt gekommen bin! Ich habe nämlich keine große Lust, wieder so einer sinnlosen Sitzung wie letztes Mal beizuwohnen!", erwiderte der rote Drache, was alle anderen zu Gekicher veranlasste – alle, außer Smahug.
"Nein, diesmal ist das Anliegen, weswegen ich euch zusammen gerufen habe, ein äußerst wichtiges!", antwortete dieser.
"Das hast du letztes Mal auch gesagt, als dein Lieblingsschmuckstück verschwunden war, wir deine gesamte Höhle danach abgesucht haben und es schließlich in deinem Ar…"
"Ja ja ja, das war sehr lustig damals, nicht wahr? Ha. Ha. Ha.", unterbrach ihn Smahug schleunigst, "Nein, diesmal ist es wirklich wichtig! Ich denke mal, ihr wisst alle, wo die Menschenstadt "Neudorf" liegt?"
Die meisten Drachen nickten.
"Gut, wir werden der Stadt heute einen kleinen Besuch abstatten. Und, um es gleich hinzuzufügen, wir werden die Stadt nicht zerstören oder sonst irgendwie beschädigen!", sagte Smahug mit einem Seitenblick auf Kalessan.
Ein teils erstauntes, teils erfreutes, teils enttäuschtes Murmeln ertönte aus den Reihen der restlichen Drachen.
Glaureng fragte: "Das wird doch nicht wieder so eine Wohltätigkeitsveranstaltung für Menschen, oder? Das wäre ja noch schlimmer als die Aktion vom letzten Mal!"
Wieder brach Gelächter aus.
Smahug unterbrach die Menge mit einem lauten Brüllen:
"Nein, das wird weder eine Zerstörungsorgie, noch eine Wohltätigkeitsfahrt. Und ich wäre sehr erfreut, wenn ihr mich nicht alle immer wieder an das kleine Missgeschick unserer letzten Zusammenkunft erinnern würdet, danke! Nein, wir werden uns tarnen und mit einem gewissen Menschen in dieser Stadt mal ein paar Worte wechseln. Droca hier…", er deutete mit einem Kopfnicken auf den Kupferdrachen.
"Ich bin Droca!", sagte der Drache, der auf der Plattform nebenan saß, "Das da ist Neidhöcker."
"Warum sitzt ihr eigentlich nebeneinander?", fragte Tjamat, "Man kann euch ja wirklich kaum auseinander halten!"
"Ihr könnt das seit den 450 Jahren die wir schon nebeneinander sitzen nicht – aber ihr habt euch nie darüber beschwert!", erwiderte Neidhöcker.
"Dann tue ich es halt jetzt!"
"Hättest du das nicht früher machen können? Ich habe mich schon so sehr an den Platz hier gewöhnt! Außerdem bist du ja nur neidisch, weil meine Plattform ein bisschen größer…"
"WENN ICH WOHL WIEder auf unser eigentliches Thema zurückkommen könnte?", rief Smahug dazwischen, worauf der Streit zwischen den beiden fürs erste verstummte.
"Also, Droca hat mir berichtet, dass ein Magier namens Saurudalf die Regentschaft über Neudorf übernommen hat. Dieser Magier verkündete, dass er sämtliche Drachen im Umkreis von Neudorf vernichten wolle – etwas, was wir natürlich nicht zulassen können!"
"Ich wusste, dass ich nicht hätte kommen dürfen!", stöhnte Kalessan, "Wozu brauchst du da uns alle? Warum kann Droca ihm nicht alleine einen kleinen Besuch abstatten und ihm den Kopf abbeißen? Hast du etwa Angst, er könnte dir weh tun, Droca?"
"Es wäre sehr nett, wenn du mich ausreden lassen würdest, Kalessan! Dieser Saurudalf hat nämlich laut Drocas Bericht irgendeine Maschine oder ein Artefakt geschaffen – extra zur Vernichtung von Drachen! Ich bin der Meinung, wir sollten uns dieses Artefakt im Rahmen einer kleinen Weiterbildung alle einmal ansehen – und diesem Saurudalf nebenbei noch eine kleine Lektion erteilen."
Als Smahug Kalessans interessierte Seitenblicke vernahm, fügte er hinzu: "Und wir werden ihn nur töten, wenn es sich wirklich absolut nicht vermeiden lässt!"
Irgendetwas in Kalessans Blick sagte ihm jedoch, dass Kalessan schon dafür sorgen würde, dass es sich nicht vermeiden lassen würde…
Die Reise verlief relativ schnell, gegen Nachmittag erreichten die zehn Drachen die Umgebung um Neudorf.
Aufgrund des Namens könnte man vielleicht vermuten, dass es sich nur um eine kleine Ansammlung von Hütten handelte, die mitten im Freien herumstanden und auch nur deswegen als "Dorf" bezeichnet wurden, weil der Abstand zwischen zweien von ihnen weniger als einen Kilometer betrug…
Nein, in Wahrheit handelte es sich um eine der größten Städte des Reiches, mit einer Einwohnerzahl von ungefähr 40.000 Wesen.
Bei der Namenswahl der Stadt war man halt anscheinend ein wenig…uninspiriert gewesen.
Droca, der der Stadt am nächsten wohnte, führte die Drachen zu einem nahe gelegenen Wald, in dem eine Lichtung lag, die groß genug war, um zumindest einem von ihnen Platz zu geben.
Da Glaureng als einziger mehr einem riesigen gefüllten Schleimbeutel als einer geflügelten Echse glich, musste er mit Hilfe von Magie fliegen, was ihn über längere Strecken nicht gerade wenig Kraft kostete. Darum landete er als Erster auf der Lichtung und verschnaufte ein wenig. Das prägte der Lichtung zwar schon Glaurengs charakteristischen Gestank auf und ließ bereits nach kurzer Zeit die ersten Blumen absterben, die restlichen Mitglieder waren diesen sehr speziellen Duft aber glücklicherweise bereits gewohnt. Während ihr Kollege sich noch ausruhte, kreisten die anderen Drachen weit über den Wolken, die über der Lichtung hingen und entzogen sich so eventuellen neugierigen Blicken. Dabei setzte sich eine der unterbrochenen Unterhaltungen vom Vormittag auf mentalem Wege fort.
Tjamat wandte sich – natürlich erst, nachdem er nachgefragt hatte – an Neidhöcker, den Bronzedrachen: "Sag mal, warum gibt es überhaupt eine Unterteilung zwischen Kupfer- und Bronzedrachen? Ich meine, Droca und du, ihr ähnelt euch beide wie ein Ei dem anderen! Ich wette, wenn man einen Schlüpfling von dir und ihm vertauscht, würde keiner von euch etwas merken."
"Pass mal auf, mein lieber, blauer Freund: Ich würde auch aus Tausenden von Kupferdrachenschlüpflingen einen Bronzedrachen herausfinden. Es gibt nämlich gravierende Unterschiede zwischen unseren beiden Rassen!"
"Als da wären…?"
"Nun…zum Beispiel leben Kupferdrachen in ländlichen Gegenden wie dieser hier, während wir Bronzedrachen schöne, felsige Küstenregionen bevorzugen."
"Und daran könntest du die Kleinen unterscheiden, aha… Weißt du was? Ich glaube, diese Einteilung ist nur vorgenommen worden, weil die zehn Plätze die sie da oben auf dem Versammlungsplatz vorgefunden hatten alle gefüllt werden mussten…"
"Da hätte man euch Blaue auch weglassen können und uns dafür dreimal unterteilen können!"
Bevor Tjamat zu einer scharfen Gegenantwort ansetzen konnte, übermittelte ihnen Smahug folgendes: "Glaureng ist fertig da unten. Du bist dran, Tjamat!"
"Wir sprechen uns noch, Höcki!", sagte Tjamat mit einem Knurren und drehte dann ab, um spiralförmig abzusteigen.
So ging es dann immer weiter. Wenn einer der Drachen fertig war, übermittelte er den oben fliegenden Kollegen eine entsprechende Botschaft und der nächste war dran. Smahug war der letzte, der absteigen sollte. Er schraubte sich tiefer und tiefer, bis er die Wolkendecke durchbrach und die Lichtung sichten konnte. Mit angelegten Flügeln legte er einen schnellen Sturzflug nach unten hin und breitete sie kurz vor dem Aufprall wieder aus, was seinen Flug rapide abbremste.
Jedem normalen Wesen von diesem Gewicht und dieser Geschwindigkeit hätte es die Flügel kurzerhand ausgerissen und den Flug kein bisschen gebremst, aber, wie Kalessan bereits sagte, es ist wirklich ungemein praktisch, Drache zu sein – man muss sich um keinerlei physikalische Gesetze mehr kümmern. Wozu gibt es denn Magie?
Smahug drehte der Physik eine lange Nase und landete sanft wie eine Feder auf der großen Lichtung, die für seine stattliche Größe von 50 Metern schon fast wieder zu klein war. Er faltete seine Schwingen zusammen und begann, sich zu konzentrieren und damit die Verwandlung einzuleiten. Wären jetzt Menschen dabei gewesen, hätte Smahug wahrscheinlich eine optisch beeindruckende Schau mit viel Blitz und Rauch vorgelegt – Menschen brauchten so etwas. Da dem aber nicht so war, verschwand der Drache einfach und statt dessen stand an seiner Stelle ein älterer Mann mit weißen Vollbart, langen, ebenfalls weißen Haaren und einer goldfarbenen Robe. Das Assoziationsvermögen eines jeden Menschen würde bei seinem Anblick sofort "Magier" schreien…
Er sah zum Rand der Lichtung. Neun andere Menschen bewegten sich auf ihn zu. Und jeder von ihnen trug eine Robe von einer anderen Farbe.
Alles in allem sah es aus, als wären die Farben aus dem Malkasten eines Grundschülers herausgesprungen und hätten menschliche Gestalt angenommen. Farben hätten sich jedoch wahrscheinlich unauffälliger gekleidet als die Drachen es taten…
Smahug ließ seinen Blick nochmals über die Gruppe schweifen. Vor ihm standen sieben menschliche Männer und zwei Frauen. Es war also alles in Ordnung, alle waren anwesend. Er wollte gerade den Arm in Richtung Neudorf heben und einen Standardspruch á la "Na dann, lasst uns diesem Magier mal zeigen, wer hier der Boss ist!" loslassen, stockte aber. Sieben Männer und zwei Frauen?
Smahug sah sie sich nochmals an. Die eine Frau trug ein weißes Gewand – das musste Schneeweißchen sein… Die andere war blau bekleidet.
"Tjamat, ich denke, ich kann sagen, dass ich mich mit Menschen ganz gut auskenne…und du hast dich versehentlich in eine menschliche Frau verwandelt!"
Tjamats sehr männliche Stimme antwortete ihm: "Wieso ‚versehentlich‘? Sehe ich etwa nicht gut aus?"
Die anderen neun starrten sie…ihn nur an.
"Was ist? Ist irgendwas nicht in Ordnung?", fragte der verwirrte Tjamat.
"Du verwandelst dich in eine menschliche Frau und behältst deine männliche Drachenstimme bei?", fragte Adorelon ungläubig.
"Was dagegen? Wir gehen doch nur da rein, regeln unsere Angelegenheit mit diesem Saurudalf und gehen dann wieder raus oder? Ich werde schon nicht mit jedem zweiten Menschen in dieser Stadt reden…und selbst wenn, was soll uns schon groß passieren?"
Smahug schüttelte den Kopf und seufzte: "Ja, gut, du hast Recht. Es wird nicht lange dauern. Rein und wieder raus, nichts besonderes, ein Kinderspiel für uns, ja… Also, verschwenden wir nicht weiter unsere Zeit mit dieser Angelegenheit sondern ziehen endlich los – hat noch jemand von euch Fragen?"
Er schaute fragend in die Runde – die anderen schauten fragend zurück.
Smahug hob den Arm in Richtung Neudorf und sprach: "Na dann, lasst uns diesem Magier mal zeigen, wer hier der Boss ist!"
Eine derartige Gruppe hätte beim Passieren des großen Stadttores eigentlich auffallen müssen. Doch die Bewohner und damit auch die Torwächter der Stadt waren solcherlei Gefolge schon gewohnt – wenn eine der größten Magierakademien des Reiches mitten in der Stadt steht, ist man so einiges gewohnt…
Die Häuserwände türmten sich rechts und links hoch auf. Zwischen ihnen lag ein gewaltiger Strom aus Menschen, Handelskarren und anderen sich bewegenden Dingen, unter ihnen die zehn Drachen des Rates, die wie ein großer Regenbogenfisch durch das Gedränge schwammen.
Die breite Straße – wahrscheinlich hieß sie auch "Breite Straße" – führte direkt auf den großen Marktplatz der Stadt, der sehr bekannt für…seine Größe war.
Von hier aus zweigten etliche Dutzend große und kleine Straßen in sämtliche Himmelsrichtungen ab, jedoch keine davon so auffällig breit und dicht befahren wie der Weg, auf dem sie in die Stadt gekommen waren.
"So, und wo geht es nun zum…", wollte sich Smahug an Droca wenden, stockte aber einmal mehr. Die zwei Menschen in rotbraunem Gewand, die vor ihm standen, waren für einen Drachen kaum zu unterscheiden. Denn was ist zwischen zwei Menschen schon groß anders? Manchmal ist das Fell auf dem Kopf länger, mal kürzer, mal in der einen Farbe, mal in einer anderen – sehr viel mehr Unterschiede, von weiteren auffälligen Merkmalen wie Größe oder Statur mal abgesehen, konnten Drachen an Menschen nicht ausmachen…oder hatten keine Lust dazu.
Einer von den beiden antwortete auf die abgebrochene Frage: "Folgt mir einfach, ich kenne den Weg zum…", wurde aber seinerseits unterbrochen. Und zwar von einer Menschenfrau, die gerade vorbei lief, dann aber stehen blieb, um den Drachen näher zu betrachten:
"Verzeiht…seid ihr nicht Droca, der Schauspieler?"
"Ähm, nun ja…", antwortete dieser und begann, recht nervös nach rechts und links zu blicken.
"Oh, ich habe das Stück gesehen. Es war großartig! Ihr habt mit solcher Hingabe gespielt, mit solcher Emotion, mit solchem Talent! Eure Verkörperung des Newob hatte so viel Tiefe, so viel Kraft, so viel Liebe…", ergoss sich der Redeschwall der Frau über den Drachen, in dessen Blick jetzt eine Spur von Panik lag, während ihn seine Kollegen nur mit offenen Mündern anstarrten.
Irgendwie gelang es Droca, sich selbst zu überwinden und ein paar Worte hervorzustammeln: "Gute Frau, ich weiß nicht, wovon…"
Die Frau schien ihn nicht zu hören. Sie brach ihren Redeschwall zwar ab, aber nur um einer Gruppe anderer Frauen in der Nähe zuzuwinken und laut zu schreien: "Trixi, Daisy, Peggy, kommt her, seht mal, wen ich gefunden habe! Es ist Droca! Der Droca!"
Die drei angesprochenen Frauen sahen auf, kreischten laut und rannten auf den Drachen zu. Anscheinend waren diese vier aber nicht die einzigen, die den Drachen zu kennen schienen, denn nun erschollen weitere laute Rufe und immer mehr Menschen kamen heran, um ein Auge auf den Drachen werfen zu können. Es entstand ein riesiges Gedränge um die Drachengruppe, mit Droca in ihrem Mittelpunkt. Die Leute schrien Dinge wie "Nur ein Stück von seinem Gewand!", "Eine Locke seiner prächtigen Haare!" oder "Oh bitte, lasst mir auch was von ihm übrig!" und die Menschen begannen an ihm zu ziehen und zu zerren.
Auf einmal blitzte ein helles rotes Licht auf, welches den Marktplatz für den Bruchteil einer Sekunde im Licht der nachmittäglichen Sonne noch einmal extra erhellte.
Stille.
Eine große Masse an Menschenaugen starrte sie ausdruckslos an.
Smahug steckte den kleinen Stock mit dem rötlich glühenden Punkt am Ende wieder in eine Tasche seiner Robe.
"Was glotzt ihr alle so? Haut endlich ab! Hier gibt es nichts zu sehen! Los, geht weiter euren Geschäften nach!", rief er laut.
Gemurmel und Bewegung entstand wieder und die Menschen kehrten zu ihren vorherigen Aktivitäten zurück.
"Was…was war das?", fragte Droca.
"Eine kleine Spielerei, hab ich mal vom Elfenkönig Emballasilvarandarlessadar dem MCXXIX. bekommen. Es stimuliert die Nervensynapsen des menschlichen Großhirns und löscht so ihr Kurz…"
Smahug bemerkte die Verständnislosigkeit in Drocas Augen.
"Ach, vergiss es! Sag du mir lieber, was das hier gerade war! Wie hat sie dich nochmal bezeichnet? Als Schaumspüler?"
"Schauspieler. Ähm, wisst ihr, die Menschen haben hier eine Tradition namens ‚Theater‘. Ich habe da mal mitgemacht. Eine Gruppe von Menschen, die Schauspieler, tun so, als wären sie jemand anders und erzählen so auf der Theaterbühne eine Geschichte. Und viele andere Menschen schauen dabei zu."
"Und was hat das Ganze für einen Sinn?", fragte Morkulebus.
"Nun, es ist ein…direkteres und anschaulicheres Mittel, um Geschichten glaubwürdig erzählen zu können, würde ich sagen."
"Und was für eine Geschichte habt ihr da erzählt?", fragte Adorelon.
"Oh, ich kann euch sagen, dass war eine ganz fantastische Geschichte! Es ging um einen Drachentöter, der sich mit dem letzten Drachen zusammenschließt, um einen bösen König zu bekämpfen."
"Und du hast dich vor all den Menschen in deiner wahren Gestalt gezeigt?", fragte Vasdendas.
"Neinneinnein, ich habe den Drachentöter gespielt. Der Drache war ein großes Gerüst auf Rädern – sah zwar nicht unbedingt wie ein Drache aus, aber die Phantasie musste sich den Rest einfach nur dazu denken, dann wirkte es gar nicht mal so schlecht. Ich sage euch, die Menschen waren hin und weg von dem Stück!"
"Das ist ja sehr erfreulich für dich, lieber Droca! Schön, dass du den Ruf unserer Rasse so in den Dreck ziehst. Schön, dass du so bekannt bist und so viel Aufmerksamkeit auf dich ziehst. Schön, dass du unsere gesamte Aktion hier gefährdest!", rief Smahug.
"Ach komm schon, reg dich ab – was soll uns hier bitteschön passieren?"
Bevor Smahug zu einer Gegenantwort ansetzen konnte, schob sich Kalessan dazwischen: "Uns kann hier gar nichts passieren. Aber unser Anführer hier hat Angst, dass arme, unschuldige Menschen zu Schaden kommen könnten, wenn etwas schiefgeht – ist es nicht so, oh großer, weiser Anführer?"
Smahug starrte ihn nur wütend an.
Dann antwortete er endlich: "Das Thema haben wir schon so oft durchgekaut, Kalessan! Diesen Disput verschieben wir auf später, ja? Ich möchte erstmal die Angelegenheit in dieser Stadt bereinigen, ja? Also, Droca, wo lang geht es denn jetzt zu diesem…Rathaus?"
"Folgt mir einfach!"
Nachdem sich durch einige weitere größere Straßen durchgearbeitet hatten, kamen sie auf einen kleineren Platz. Nur ein einzelner, kleiner und noch dazu ziemlich dreckiger Springbrunnen zierte die Fläche. Neben den üblichen Häusern und Geschäften war der Rand des Platzes noch von einem großen, prächtig verzierten Fachwerkhaus gesäumt, welches seine Nachbarn von der Ästhetik her in den Schatten tiefster und vollkommenster Hässlichkeit stellte.
"Sieht so aus, als wären wir am Ziel. Warum müssen die Mächtigen unter den Menschen ihre Potenz eigentlich immer in solchen Prunkbauten ausdrücken? Wenn sie das Geld schon ausgeben müssen, können sie das auch für nützlichere Zwecke machen…", sagte Smahug.
"Ähm, das ist die örtliche Taverne und nicht das Rathaus…", erwiderte Droca.
"Die örtliche…was?", antwortete Smahug ungläubig, "Warum hat eine Taverne bitteschön eine so teure Aufmachung? Ist das etwa die einzige Taverne in der Stadt? Dann könnte ich es ja verstehen…"
"Neinnein, der ‚Rumstehende Esel‘ ist bei weitem nicht das einzige Gasthaus hier. Nur Wirt Brennessel ist der einzige, der es irgendwie geschafft hat, eine Versicherung für Einrichtungsschäden zu ergattern…"
"Eine was?"
Droca suchte nach Worten und wedelte dabei suchend mit den Armen in der Luft: "Ähm…das ist, wenn…wenn…wenn du…nein…ähm, pass auf, das funktioniert so: Wenn jemand dein…ähm…dein Eigentum beschädigt und du…und du so eine Versicherung…ähm…äh…ach, vergiss es!"
"Also, wo ist jetzt das verdammte Rathaus?", fragte der langsam ungeduldig werdende Kalessan.
"Da drüben!"
"Das Haus sieht aber aus wie alle anderen!", sagte Vasdendas enttäuscht.
"Die Stadt hat halt nicht viel Geld – selbst du dürftest mehr in deinem Hort haben, als die hier in ihrer Stadtkasse, Vas.", entgegnete der Kupferdrachen.
"Da scheint es ja wirklich schlimm um die Stadt zu stehen. Was haben die denn gemacht, um sich so groß zu verschulden?", fragte Neidhöcker.
"Ich bin nicht verschuldet!", sagte Vasdendas.
"Keine Ahnung! Gestern war die Kasse noch voll und nichts deutet auf eine finanzielle Katastrophe hin und am nächsten Tag liegt in der Schatzkammer nur noch ein Schuldschein mit einem riesigen Betrag drauf – beeindruckend, wie menschliche Politiker das so hinbekommen…", erklärte Droca.
"Ich bin nicht verschuldet!", sagte Vasdendas.
Kalessan schnaubte verächtlich: "Typisch Menschen, die können weder mit sich selbst, noch mit Geld richtig umgehen – und sowas favorisierst du, Sma…"
Kalessan stockte.
Smahug stand mit geschlossenen Augen da. Er atmete ruhig ein und aus. Ein Zeichen, dass die anderen Drachen sofort zu deuten wussten. Als er die Augen wieder aufmachte, sah Smahug, wie sie in voller Bereitschaft an der Tür des Rathauses standen und ihn halb ängstlich, halb erwartungsvoll betrachteten. Er ging auf sie zu und sagte kühl: "Gut. Keine Unterhaltungen mehr. Keine Plaudereien. Keine Diskussionen. Kein Blödsinn. Wir gehen jetzt da rein. Ich werde reden. Niemand sonst. Verstanden?"
Neun Köpfe bewegten sich simultan auf und ab, erleichert darüber, den Wutausbruch abgewendet zu haben.
Smahug öffnete die Tür.
"Ah, Hallo! Mister Saurudalf hat euch bereits erwartet. Bitte setzt euch doch kurz, ich sage ihm dann gleich Bescheid, ja?", ertönte eine näselnde Frauenstimme, welche Smahug den Schwung seines Auftretens nahm und ihn verblüfft im Raum stehen ließ.
Das Zimmer war klein und stickig. Die Wände waren grau gestrichen und die Einrichtung bestand aus einer von Holzwürmern durchlöcherten Tür gegenüber des Eingangs, einem von Holzwürmern durchlöcherten Tisch auf dem zahlreiche Papierstapel und ein Tintenfass standen und einem von Leinenwürmern durchlöcherten Bild an der Wand dahinter, welches einen Ritter zeigte, der gerade einen kleinen Drachen mit einer Lanze aufspießte.
Hinter dem Tisch saß ein Skelett. Nein, bei näherem Hinsehen handelte es sich tatsächlich um eine lebendige, wenn auch schon recht alte Frau. Sie hatte nur einen Hüftumfang, der ein jedes der gängigen Topmodels wie eine Tonne auf Beinen aussehen lassen würde.
Smahug fing sich langsam wieder: "Was…habt ihr gerade gesagt?"
"Ich sagte, ihr sollt euch kurz setzen, während ich Saurudalf…"
"NIEMAND…sagt MIR…was ICH zu tun habe!", schrie Smahug sie mit vor Zorn weit geöffneten Augen, die fast aus dem Kopf quollen, an. Dann schritt er auf die Tür zu und öffnete sie mit einem entschlossenen Tritt, was zur Folge hatte, dass sie laut krachte und mehrere Meter weit in den nächsten Raum hinein flog.
Smahug blieb abermals stehen, während die anderen Drachen aufrückten und ihm den Rücken sicherten – zumindest würden sie ihre Aktion so bezeichnen.
Vor ihnen tat sich eine Halle auf. Sie war nicht sehr groß – Kalessan, der mit über zwei Metern der Größte von ihnen war, musste nur den Arm ausstrecken, um die Decke zu berühren – aber das machte sie in ihrer mehrere Dutzend Meter messenden Länge wieder wett. Ein breiter, roter Teppich erstreckte sich über die gesamte Halle. Rechts und links neben ihm standen zwei ebenso lange und diesmal seltsamerweise nicht von Holzwürmern durchlöcherte Tische. Der Teppich endete an einem roten Sessel – und auf diesem Sessel saß ein junger Mann. Er hatte die Beine übereinander geschlagen und las in einem großen Buch, welches auf seinem Schoß lag. Er war ebenfalls mit einer Robe bekleidet, wäre in einer Menschenmenge aber wohl kaum so aufgefallen wie der Rat.
Er sah auf: "Cassandra, habe ich nicht gesagt, dass ich nicht gestört werden…möchte…aahh, ich verstehe, ihr seid es!"
"Ja, wir sind es – und wer zur Hölle seid ihr?", entgegnete der bereits sehr aufgebrachte Smahug.
"Erlaubt mir, mich vorzustellen…", setzte der Mann an.
"Ich habe es euch befohlen, nicht erlaubt!", schrie Smahug ihn an.
Damit hatte er ihn ein wenig aus dem Konzept gebracht, denn der Mensch schaute jetzt nervös hin und her und leckte sich mit der Zunge über die Lippen. Bevor er jedoch weiterreden konnte, ertönte wieder die Stimme der alten Frau neben ihnen: "Es tut mir leid, Mister Saurudalf, aber diese Herren haben sich einfach vorgedrängelt, bevor ich etwas unternehmen konnte!"
"Ähm, schon gut Cassandra, bitte…nehmen sie sich den Rest des Tages frei, ich denke, ich brauche sie heute nicht mehr!"
"Aber die Akten müssen noch…"
"Bitte gehen sie jetzt!", sagte Saurudalf mit leicht erhobener Stimme.
"Ja, Mister!", ertönte die leise Antwort. Danach war die Frau verschwunden und die Tür wurde zugeschlagen.
"Ihr seid also Saurudalf? Gut, dann seid ihr auch der, den wir suchen…aber anscheinend wurden wir auch schon erwartet?", meldete sich jetzt Smahug wieder zu Wort.
"Oh, äh…ihr gehört doch zu der Abenteurergruppe, die die Handelskarawane aus Kleinstadt begleitet hat oder?", kam die Antwort.
"Nein, sind wir nicht. Wir kommen wegen einer anderen Angelegenheit. Wir haben gehört, ihr habt eine Abneigung gegen Drachen?"
"Oh, diese schrecklichen, hässlichen, stinkenden, brutalen, fliegenden Monster? Ich hätte da einen Auftrag für eure Gruppe, der sich mit diesen höllischen Kreaturen befasst. Ihr müsst nur meine neuste Kreation mitnehmen, die Drachen suchen und könnt ihnen dann im Handumdrehen den Garaus machen. Das ist garantiert völlig ungefährlich und macht eine Menge Spaß! Außerdem springt noch ein wenig was dabei für euch heraus…"
Bevor einer der Drachen aufbrausen konnte, hob Smahug schnell beschwichtigend die Hand und antwortete: "Ähm…das hört sich…sehr gut an. Zeigt uns doch mal eure ‚Kreation‘. Würdet ihr das für uns tun?"
"Oh, aber natürlich – seht her!", sagte Saurudalf und streckte die Hand nach einem kleinen Tisch aus, der neben seinem Sessel stand. Auf ihm stand irgend etwas, aber es war von einem dicken blauen Samttuch bedeckt, sodass man nur einen vagen Schemen von dem Objekt ausmachen konnte. Saurudalf packte die Samtdecke und zog sie weg. Was zum Vorschein kam, war eher unspektakulär: Das Objekt sah aus, wie eine stinknormale und nicht einmal besonders große Kristallkugel, die vielleicht für einen Jahrmarktswahrsager gerade mal gut genug gewesen wäre.
Saurudalf schaute seine Schöpfung stolz an und sprach: "Ich nenne es…" – er machte eine dramatische Pause – "…das Prettschett!"
"Das Prettschett!", echoten einige der Drachen.
Smahug drehte sich um und starrte sie kurz an – dann wendete er sich wieder Saurudalf zu.
"Und das da soll eure großartige Drachenvernichtungsmaschine sein? Alleine die Erscheinung dieses Objekts ist nicht sehr eindrucksvoll – musstet ihr diesem armen Ding auch noch so einen bescheuerten Namen geben?", sagte er mit unterdrücktem Lachen.
"Sagt mir ja nichts gegen den Namen! Ich habe es nach meinem armen, verstorbenen Terrier benannt, der vor einem Jahr ermordet wurde…verschlungen…von einem Drachen!", antwortete Saurudalf mit einer Stimme, die von Trauer und Hass nur so strotzte.
Jetzt meldete sich Kalessan zu Wort: "Ihr habt dieses Ding nach eurem verstorbenen Terrier Prettschett benannt? Was ist denn das für ein bescheuerter Name für einen Terrier? Der Terrier Prettschett…pah, ich glaub’s nicht!"
"Der Name ist nicht bescheuert. Außerdem hieß er Prett-Schett und nicht Prettschett!", erwiderte Saurudalf trotzig.
"Und wo ist da bitteschön der Unterschied?"
"In der Schreibweise!"
Kalessan schloss die Augen und war jetzt seinerseits dran, ruhig ein- und auszuatmen. Dann sagte er resigniert: "Gut…in Ordnung…das wird mir hier langsam zu bunt, mein lieber Anführer. Wir verschwenden hier nur unsere Zeit – und das sage ich dir als Drache, der sich nun wirklich nicht über einen Mangel an selbiger beklagen kann!"
"Nein Kalessan, wir werden jetzt versuchen, alles über dieses…dieses Prettschett dort herauszubekommen. Und ich werde erst gehen, wenn das Ding da zerstört ist!", entgegnete ihm Smahug.
Kalessan sah auf.
"Oh? Na, wenn’s weiter nichts ist…", sagte er und richtete einen Finger auf die Kugel. Ein roter Feuerblitz schoss auf das Objekt zu – und verschwand darin.
Eine Sekunde später begann sie innerlich in einem unheimlichen, blauen Licht zu glühen.
Saurudalf schaute seine Schöpfung kurz an, richtete sich dann wieder an die Drachen und sagte: "Das Prettschett ist nicht direkt eine Drachenvernichtungsmaschine, wie ihr es so schön zu sagen pflegtet, meine lieben Echsen. Es ist mehr…ein Gefäß, ein Behältnis für einen ganz besonderen Inhalt. Ihr möchtet mehr über seine Funktionsweise erfahren, werter Smahug? Es wird durch Drachenmagie aktiviert. Und es absorbiert genau diese Form der Magie aus einem weiten Umkreis, der euch zehn hier ganz sicher mit einschließt. Jetzt, in diesem Moment, in dieser Sekunde, wird euch gerade der Grundstein eurer Macht genommen: Eure Magie! Und was sind Drachen ohne Magie, die dazu noch in unbewaffneten Menschenkörpern stecken? Wehrlos…absolut wehrlos! Insofern hattet ihr mit eurer Betitelung als Drachenvernichtungsmaschine schon in gewisser Weise Recht…"
Während er sprach, gewann das blaue Licht im Innern der Kristallkugel an Intensität und strahlte bald fast so hell wie eine künstliche Sonne.
Kalessan starrte das Ding nur ungläubig an und lachte dann auf: "Und den Mist sollen wir euch glauben, Menschling? So etwas Dreistes habe ich wirklich noch nie gesehen! Du vielleicht Smahug? Smahug?"
Smahug stand wie erstarrt neben ihm. Er war kalkweiß im Gesicht.
"Ich…fühle mich…so leer…", stöhnte er.
Als Kalessan sich umdrehte, sah er in den meisten Gesichtern der anderen Drachen den gleichen, bleichen Ausdruck.
Als Magier war er bei weitem nicht so gut wie einige der anderen aus dem Rat – aber es reichte immer noch aus, um den ein oder anderen nervenden Menschen auch mal aus der Entfernung zu beseitigen…oder anscheinend, um ein Prettschett zu aktivieren…
Doch auch er spürte es – beziehungsweise, er spürte es nicht mehr. Es war, als ob ein Körperteil fehlen würde – mit dem Unterschied, dass noch alles an ihm dran war.
Saurudalf streichelte über die hell strahlende Kugel neben ihm und begann wieder zu reden: "Es war mir wirklich eine Freude, mit den zehn ehemals mächtigsten Wesen dieser Welt sprechen zu können, doch ich denke, ich werde diese Audienz jetzt beenden. WACHEN!"
Rechts und links neben dem Sessel wurden zwei nahezu unsichtbare Steintüren aufgestoßen und an die 20 Soldaten der neuen Ausbildungsreihe "Schergen des Bösen, TYP 4: ‚Kanonenfutter für Helden’" kamen mit gezogenen Schwertern in den Saal gestürmt, drängten die Drachen gegen einen der Tische und umzingelten sie im Halbkreis.
"Noch einen letzten Wunsch?", fragte Saurudalf. Die Tradition verlangt es halt so.
Kalessan dachte nach…die Situation stand schlecht.
Ziemlich übel sogar.
Aber da stimmte doch etwas nicht…
Er…konnte Saurudalfs stinkenden Schweiß riechen – aus dieser Entfernung.
Sein Geruchsinn war also immer noch so ausgeprägt wie vorher.
Ebenso sein Gehör.
Und wenn seine Sinne noch immer die eines Drachen waren, dann musste doch auch…
"Ja, lasst mich noch kurz etwas ausprobieren…", antwortete er und drehte sich suchend um. Hinter ihm auf dem Tisch stand ein eiserner Kerzenleuchter. Er nahm ihn und drehte ihn prüfend hin und her.
Dann begann er ihn zu verbiegen, als wäre es ein Stück billiger, dünner Draht. Nach ein paar Sekunden hatte er aus dem Leuchter einen formvollendeten Doppelknoten mit Schleifchen geformt – angesichts der geringen Größe des Leuchters eine beachtliche Leistung.
Dann drehte er sich in einer blitzschnellen, flüssigen Bewegung zu der nächsten Wache hin und schmetterte ihm das Teil gegen den Helm. Es ertönte ein Ton, der in dieser Lautstärke sonst nur um 12 Uhr mittags von großen Kirchtürmen erklingt. Kalessan sah noch einmal zufrieden auf seine improvisierte Waffe.
"Hm, na wenigstens das funktioniert noch…", sagte er und schaute auf, "Na dann, kampflos werde ich nicht…"
Vor ihm hingen 19 Schwerter und Schilde in der Luft, die sich gerade fragten, was sie eigentlich dort oben hielt.
Sie fielen auf den Boden.
Man hörte noch schnelle Schritte.
Eine der Steintüren am anderen Ende des Saales wurde zugeschlagen.
Anscheinend war die Eigenschaft "Künstliche Intelligenz" der neuen Soldaten noch ausbaubar…
Saurudalf starrte Kalessan wütend an.
Kalessan sagte zu ihm: "Pass auf, ich werde jetzt etwas machen, was ich seit 1000 Jahren schon nicht mehr getan habe – ich werde es mal auf dem diplomatischen Weg versuchen! Also: Gib du uns jetzt dieses Ding da und vielleicht werde ich es nicht ganz so schmerzhaft machen!"
"IHR droht MIR? In eurer Situation? Meine Wachen mögen vielleicht nicht ganz effektiv gewesen sein, aber ich weiß immer noch genau, was mit Abschaum wie euch zu tun ist! Friss das, Drachengewürm!"
Er streckte seinen Arm aus und eine mächtige magische Entladung baute sich zwischen dem Magier und Kalessan auf. Blitze umzuckten ihn und die anderen Drachen. Nach ein paar Sekunden stoppte das magische Gewitter – und alles sah so aus, wie vorher. Saurudalf starrte zuerst ungläubig an die Stelle, wo jetzt eigentlich zehn Aschehäufchen liegen sollte, schaute danach wieder auf seine Hand und wieder zurück zu den Drachen. Die am Boden liegende Wache war jetzt nur noch ein Aschehäufchen. Mit dem Spruch stimmte also anscheinend alles…
"Was…wie…warum?"
"Diese Immunität ist uns ebenfalls angeboren, lieber Saurudalf – studiert eure Gegner ein wenig besser, dann kommt ihr das nächste Mal vielleicht mit dem Leben davon! Wenn ihr unsere Magie schon als Machtquelle benutzen wollt, wovon ich jetzt einfach mal ausgehe, dann solltet ihr auch erstmal ihre Grundzüge und Mechanismen verstehen – ansonsten ist dieses Prettschett da für euch nur ein hübscher kleiner Briefbeschwerer!"
Kalessan war über sich selbst erstaunt, dass er noch so viel über draconische Magie wusste – es war ja nie sein Ding gewesen…
Saurudalf reckte sein Kinn vor: "Ach, ihr sagt eure Macht wäre nutzlos für mich!? Das werden wir ja sehen! Ich habe viel Zeit und ihr seid immer noch absolut wehrlos! Vielleicht ist dieses Schicksal sogar noch besser für euch zehn – auf ewig dazu verdammt, ein Mensch zu sein! Ich wünsche euch viel Spaß mit eurer neuen Existenz, AHAHAHAHAHAHAHA…"
Er holte eine kleine Kugel aus seinem Ärmel und warf sie auf den Boden. Es gab einen kleinen Lichtblitz, purpurner Rauch stieg auf, der sich langsam verzog.
Als die Sicht wieder klar wurde, waren Saurudalf und das Prettschett verschwunden.
"Oh nein! Kalessan, warum hast du ihn nicht aufgehalten?", schrie Smahug auf einmal.
"Ach reg dich ab, Smahug! Den finden wir schon, den riecht man doch zehn Meilen gegen den Wind! Außerdem, warum meldest du dich erst jetzt und hast vorher nur blöd herum gestanden?"
"Hast du eigentlich eine Ahnung, was das eben gerade für ein Schock für mich war? Hast du eine Ahnung, wie es ist, das mächtigste Wesen auf dem Kontinent zu sein und seine gesamte Macht zu verlieren? HAST DU EIGENTLICH AUCH NUR DIE SPUR EINER AHNUNG?"
"Nein, habe ich nicht. Aber ich habe jetzt eine Ahnung, wie es ist, im Körper eines Menschen auf unbestimmte Zeit eingesperrt zu sein! Wir sollten jetzt erst einmal alle einen kühlen Kopf bewahren – besonders du, oh großer Anführer! Dann suchen wir diesen Typen, holen uns unsere Magie zurück und schon ist wieder alles in Ordnung, dann kannst du wieder mit deinem Lieblingsspielzeug spielen!"
Beim letzten Satz starrte Smahug Kalessan mit einem Blick an, der beinahe den berühmten Medusa-Effekt gehabt und ihn zu Stein verwandelt hätte.
"Er hat Recht, Smahug, wir sollten uns jetzt auf die Suche machen und diesen Magier suchen gehen!", meldete sich jetzt einer der anderen zu Wort.
"Ihr habt ja Recht. Du, Kalessan, und du, Droca…"
"Neidhöcker!"
"…Neidhöcker…wir müssen jetzt alle einen kühlen Kopf bewahren…aber…aber was ist, wenn er schon längst aus der Stadt heraus ist und in einen Tempel in einem dunklen Sumpf, der dann auf einmal zusammen mit dem Prettschett für immer versinkt, SODASS WIR ES NIE WIEDER FINDEN, OH NEIN!" – die letzten Worte schrie er wieder.
"Solch ein Tempel kann gar nicht existieren, hier in der Umgebung gibt es nämlich keinen Sumpf! Dazu müsste er viel zu weit reisen.", sprach Morkulebus.
"Das stimmt aber nicht ganz, ein wenig weiter im Norden ist ein…", wollte Droca ihm erwidern, wurde jedoch von Neidhöcker unterbrochen, der ihn anstieß und ihm ins Ohr flüsterte: "Jetzt mach es bitte nicht noch schlimmer, ja?"
"Ähhhm…nunja, was ich sagen wollte: Sein Hauptquartier muss hier irgendwo in der Stadt sein! Einen Moment…ich glaube sogar, er hat in der örtlichen Magierakademie einen Posten als Lehrkraft gehabt, vielleicht könnte man…sich da mal erkundigen!?", sagte Droca.
Smahug erging sich noch immer in Trauer.
"Seht ihn euch an, unseren großen Anführer! Da ist er kurz davor, zu weinen. Hat dir deine Mama nicht gesagt, das Drachen nicht weinen? Jetzt komm endlich hoch und spiele deine Rolle als Anführer oder wir werden jemand anderes für diese Rolle auswählen!", sagte Glaureng.
Smahug sah auf und die anderen Drachen fragend an. Diese nickten nur.
Dann sprach er: "Na schön, ihr habt ja Recht… Ähm, du sagtest er hätte eine Stelle an der hiesigen Magierakademie? Nun gut…Morki, Kalessan, ihr beide geht zu dieser Akademie und versucht, alles über diesen Saurudalf herauszufinden! Wir anderen nehmen uns ein paar Zimmer in dieser Taverne hier nebenan!"
"Du lässt Kalessan auf die Menschen hier los?", fragte Morkulebus.
"Dich auch, ja. Ihr werdet wahrscheinlich mit einigen Menschen etwas…direkter reden müssen, um an die Informationen zu kommen, die wir brauchen – und zum Direkt-Reden seid ihr beiden einfach mal die Besten!"
"Und warum können wir anderen nicht mit?" erkundigte sich eine Männerstimme in einem Frauenkörper.
"Unter anderem wegen dir, außerdem…", setzte Smahug an, wurde aber sogleich wieder von Tjamat unterbrochen: "Das ist Diskriminierung! Nur weil ich wie eine Frau aussehe, möchte ich nicht wie eine behandelt werden! Ich verlange sofortige Gleichberechtigung für…"
Smahug hob seine Stimme: "Außerdem wissen wir nicht, wer in dieser Stadt von uns weiß. Und wenn da auf der Akademie lauter Schergen des Saurudalf herumlaufen, wäre es vielleicht ein bisschen ungünstig, wenn wir alle gemeinsam dort erscheinen, nicht wahr? Ich muss mich jetzt außerdem noch erstmal ein wenig ausruhen…"
Tjamat murmelte noch was von "Frauenfeind" und gab dann Ruhe.
Der goldene Drache war nun wieder voll in Fahrt: "Na los, los, los! Woraus wartet ihr noch?", gestikulierte er wild in Kalessans und Morkulebus‘ Richtung, "Wir haben nicht viel Zeit! Jedes Jahr zählt!"
Drachen denken halt in ein klein wenig anderen zeitlichen Relationen als Menschen es tun…
Ein paar Minuten später schwammen Kalessan und Morkulebus erneut durch die Straßen Neudorfs.
"Du bist dir auch sicher, dass das hier der richtige Weg ist, Morki?
"Weißt du was? Ich finde meinen Weg nach Hause immer! Nachts. Durch einen überall gleich aussehenden Sumpf. Blind. Da wird es ja wohl nicht sehr schwer sein, in einer Menschenstadt direkt auf das höchste Gebäude, welches sich ein paar hundert Meter vor uns befindet, zuzuhalten!"
"Wollte ja nur auf Nummer sicher gehen…"
Sie schoben sich durch die vielen Menschenmassen in Richtung Magierakademie. Die Magier konnten sich nur ein relativ kleines Grundstück kaufen, deswegen ragte das Gebäude mehr in die Höhe als die Breite. Zumindest am unteren Ende. Weiter oben, wo rechts und links keine Häuser mehr im Weg standen, wurde die Akademie zu einer komplizierten Konstruktion, die an die hundert Meter breit war und in diesem Stil weiter in die Höhe ragte, wo sie dann wieder ein wenig dünner wurde – doch den Rest konnte man aufgrund der vielen Wolken am Himmel nicht mehr erkennen.
Der Betrieb auf dem Platz vor dem Eingangstor war, wie überall sonst in der Stadt, sehr heftig – mit dem Unterschied, dass sich hier mehr Leute mit langen Bärten und spitzen Hüten tummelten als anderswo. Die Magier zeigten sich dabei leider genauso originell in ihrer Farbwahl wie die Drachen.
"Na toll, die anderen hätten doch mitkommen können – die hier sehen alle ja genauso aus wie wir!", sagte Morkulebus enttäuscht.
"Ich denke mal, das vorhin war nur eine Ausrede von Smahug mit dem ‚Wir fallen ja so schräckelich auf!‘. Wir sind verdammt nochmal normaler als diese verdammten Menschen! Aber hey – was soll’s? Jetzt können wir den ganzen Spaß für uns alleine haben!"
Kalessan grinste.
Morkulebus zuckte nur mit den Schultern und ging mit Kalessan zusammen in das Gebäude hinein.
In der Eingangshalle…nun, von Eingangshalle konnte man nicht sprechen. Aufgrund des eher kleinen quadratischen Grundrisses des Gebäudes musste man eher von einer Eingangskammer reden. Der Großteil der Kammer war mit Treppe verbaut, die gleich rechts neben der Eingangstür anfing und sich eng an der Wand um den gesamten Raum herum nach oben schlängelte. Wenn man den Kopf in den Nacken legte, sah man nichts als Treppe, die sich immer weiter nach oben schlängelte, um schließlich weit oben in der Decke zu verschwinden. Und andauernd gingen Männer mit Hüten und Bärten die Treppen rauf und runter.
Ein Meter vor dem Eingangsportal stand ein kleiner Steintisch, hinter dem ein jüngerer männlicher Mensch mit komischen roten Punkten im Gesicht und einem seltsamen Drahtgestell mit zwei Gläsern auf der Nase saß.
Kalessan sah Morkulebus kurz an, ging dann auf den Tisch zu und schlug mit der geballten Faust auf die Fläche, sodass ein lautes Knirschen erklang und sich viele feine Risse bildeten. Der Mensch schaute immer wieder ungläubig starrend zwischen Kalessan und dem Tisch hin und her. Er begann zu zittern.
Kalessan sagte im drohenden Tonfall: "So, Kleiner, du wirst uns jetzt sagen, wo dieser Saurudalf ist oder ich denke mir für dich eine ganz besonders schöne Todesart aus!"
"Wawawawawawawawawawawawawawawawa…", stammelte der Mensch.
"Ähm, Kalessan? Ich glaube, hier ist das ‚direkte Reden‘ noch nicht nötig!"
"Hm? Oh, schade… Also gut, Menschlein, verrate uns…ähm…bitte…sofort, wo dieser Saurudalf…ähm…arbeitet!"
"Sasasasasasa…"
Kalessan zog eine Augenbraue hoch – in seiner draconischen Gestalt machte diese Geste Menschen meistens extrem nervös. So nervös, dass sie versuchten, sich für ihre bloße Existenz zu entschuldigen oder gleich anfingen, um Gnade zu flehen. Meistens kamen sie nur bis: "Oh, bitte, bitte, tötet mich niAAAHH!"
Doch auch so hatte seine Geste eine entsprechende Wirkung: "SaurudalfhatseinBüroim3.StockdieTrepperaufunddanngleichdiezweiteTürvonlinks!", antwortete der Mensch nun im Zeitraffer.
Kalessan lächelte dem Menschen zu und zusammen mit Morkulebus ging er die Treppe hinauf.
Nachdem die beiden ein paar Minuten lang nur Stufen gestiegen waren, fragte Morkulebus: "Du, ich habe gehört, du hast letztens diesen einen roten Heißspund beinahe zerfleischt! Was hat der dir denn getan? Er war doch sicherlich nicht so blöd und hat versucht, in dein Revier einzudringen?"
"Nein, er wollte sich an meine Neffin ranmachen!"
"Du hast eine Neffin?"
"Ja, du nicht?", entgegnete Kalessan.
"Ich bin schon seit 1000 Jahren ohne Bruder oder Schwester, komm mir jetzt bitte nicht damit! Was hat denn der Kleine genau gemacht?"
"Er hat ihr die Krallen massiert!"
"Bitte…was? Er hat ihr nur die Krallen massiert und du schlachtest ihn fast ab?", fragte Morkulebus ungläubig, "Sie ist schließlich nur deine Neffin!"
"Nur meine Neffin!", spie Kalessan aus, "Verwandtschaft ist Verwandtschaft! Außerdem liegt nicht viel zwischen einer Krallenmassage und einem sexuellem Anbaggerungsversuch!"
"Moment! Moment mal, stop! Ich weiß ja nicht, inwiefern meine und deine Krallenmassagentechnik auseinandergehen, aber eine Krallenmassage und ein sexueller Anbaggerungsversuch sind in meinen Augen alles andere als ein und dasselbe!"
"Hast du schonmal jemandem eine Krallenmassage gegeben?", fragte Kalessan.
"Willst du mich verarschen? Natürlich hab ich schonmal jemandem eine Krallenmassage gegeben, ich bin der verdammte Krallenmassagenmeister! Ich habe die perfekte Technik für jede Krallensorte!"
"Würdest du auch…einem männlichen Drachen eine Krallenmassage geben?"
Morkulebus blieb stehen und sah ihn an.
Dann sagte er: "Leck mich!"
"Ach komm schon!"
"Ich sagte Leck mich!"
"Pfft…in welchem Stock sind wir eigentlich?"
Nach einer weiteren Minute Treppensteigen erreichten sie die Decke. In ihr war ein großes Loch. Die Treppe führte durch dieses Loch auf einen nach rechts und links langführenden Korridor. Auf der Wand gegenüber war eine große Eins gemalt. Daneben begann eine weitere Treppe.
Kalessan und Morkulebus sahen sich an, seufzten und machten sich auf den Weg.
Zum Glück lagen die nächsten Stockwerke direkt übereinander – wenige Sekunden später standen sie also vor der Tür von Saurudalf Büro. Sie war klein, unscheinbar und aus Holz. Rechts neben der Tür hing eine kleine Plakette an der Wand. Darauf stand geschrieben: "Saurudalf Roklem, Doktor der Thaumaturgie"
"Hier arbeitet der Mistkerl also!", sagte Kalessan, "Na dann, lass uns anfangen!"
"Einen Moment noch, wie spät ist es denn?"
"Was?"
"Oh, vergiss es!"
Sie traten gleichzeitig auf die Tür ein, was einmal mehr zur Folge hatte, dass diese mehrere Meter weit in den Raum gesprengt wurde und gegen die hintere Wand des Zimmers geschleudert wurde, wo sie in mehrere Stücke zerbarst.
Als die beiden Drachen den Raum betraten, sahen sie einen großen, schweren Holztisch, der im linken Teil des Zimmers stand. Wie es bei diesen Einrichtungsgegenständen üblich war, lagen große Stapel von Papier darauf, sowie ein Tintenfass und eine Feder, sowie zwei Kerzenständer aus massivem Eisen.
Nach ein paar Sekunden erhob sich ängstlich ein eher seltsames Exemplar der Spezies Mensch hinter dem Tisch.
Sein Gesicht bestand mehr aus braunem Bart als aus Gesicht und seine gleichfarbigen Haare fielen bis auf die Schultern. Mit einer Mischung aus Erstaunen, Furcht, Ärger und Verwirrung sah er die beiden Drachen an, die den Raum jetzt betraten und auf ihn zu gingen.
Morkulebus begann, sich die vielen Bilder und Zeichnungen an den Wänden anzuschauen, während Kalessan direkt zum Tisch ging und sich mit den Händen darauf abstützte.
"Hallo, wir möchten mit Saurudalf reden! Aber lass mich raten: Er ist gerade nicht zu sprechen?"
Der Mensch sah ihn weiterhin verwirrt an.
"Dacht ich’s mir doch!"
Kalessans Blick fiel auf einen kleinen Teller, der auf dem Tisch lag. Auf dem Teller wiederum lagen zwei Hälften dieser Dinger, die von den Menschen immer "Brötchen" genannt wurden, aufeinander. Zwischen ihnen steckte eine dicke Scheibe Fleisch und noch ein paar weitere, undefinierbare Dinge.
"Oh, was zu essen! Ich darf doch?", sagte er. Ohne eine Antwort abzuwarten, nahm er das seltsame Brötchen und biss einmal herzhaft hinein.
"Hm, das ist gut…wirklich gut – wie nennt ihr Menschen das?", fragte Kalessan mit vollem Mund.
Der Mensch starrte ihn nur weiter fassungslos an, brachte aber irgendwie "…ein…ein Börger…" als Antwort hervor.
"Oh, ein Bürger? Aus dieser Stadt?"
"…ich…denke schon…"
"Jetzt seid ihr Menschen also auch unter die Kannibalen gegangen… Morki, hast du schonmal einen Bürger aus Neudorf gefressen?"
"Nein!"
"Ihr schmeckt verdammt gut, hat euch das schonmal jemand gesagt?", wandte sich Kalessan wieder an den Menschen.
Dieser schien wieder langsam zu Bewusstsein zu kommen: "Hört mal, was wollt ihr von mir?"
Kalessan biss nochmals in den Börger.
"Wir möchten wissen, wo sich Saurudalf momentan aufhält. Und du tätest besser daran, es uns jetzt gleich zu sagen…", sagte er dann mit einem freundlichen Lächeln – das brachte die Leute immer aus dem Konzept.
"Ich bin nur sein Sekretär! Woher soll ich wissen, wo er sich gerade befindet? Wisst ihr, Herr Saurudalf ist ein vielbeschäftigter Mann und…"
"Ich habe mich vielleicht nicht ganz klar ausgedrückt…vielleicht hilft dir das hier auf die Sprünge?"
Er nahm einen der eisernen Kerzenhalter und brach ihn in der Mitte durch.
Die Augen des Menschen weiteten sich wieder.
"Da…dada…dadadas war massives Eisen, sowas kann man nicht einfach verbiegen…geschweige denn zerbrechen! Was zur Hölle seid ihr eigentlich?"
"Wenn ich dir jetzt erzählen würde, wir beide wären Drachen, die in Menschenkörpern stecken und nicht mehr hinaus kommen, würdest du mir dann glauben, Menschlein?", lächelte ihn Kalessan an.
"Nun, wir leben in einer Welt der Magie, hier ist alles möglich und…ihr seid wirklich Drachen?"
"Können sich Tausende von Toten irren?", entgegnete Kalessan lächelnd.
Morkulebus gesellte sich wieder neben Kalessan.
"Du, irgendwas sagt mir, dass wir hier nichts Neues herausbekommen. Lass uns gehen!"
Auf einmal wurde eine Tür in der Wand hinter ihnen aufgestoßen. Heraus kam ein Mensch, der es in der Größe schon fast mit Kalessans Menschengestalt aufnehmen konnte. Er hatte einen kurzen Stab in der Hand, den er mit beiden Händen festhielt. Der Mann schrie: "VERRECKT, IHR DRACONISCHEN MISTKELRE, VERRECKT!"
Dann begann er, unter lautem Getöse mehrere Energieladungen aus dem Stab auf Kalessan und Morkulebus abzufeuern. Irgendwann machte der Stab nur noch *puffpuff*.
Der Mann rannte los, aus der Tür hinaus auf den Korridor und war verschwunden.
Die beiden Drachen starrten sich zunächst selbst und dann einander mehrere Sekunden lang an.
"Wer zur Hölle war das?", fragte Kalessan.
"Das war Ivel, einer von Saurudalfs engeren Mitarbeitern.", antwortete der bärtige Mensch hinter dem Tisch.
Kalessan und Morkulebus sahen sich nochmals an. Dann rannten auch sie los, dem Mann hinterher.
"Hey, so wartet doch, oh mächtige Drachen!", hörten sie den Menschen noch rufen, als sie auf die Treppe stürmten und dem Flüchtenden hinterher hetzten.
Sie rannten, rammten und stießen sich durch regelrechte Horden von Magiern die Treppe nach unten. Ivel konnte nicht weit von ihnen entfernt sein, da die einzelnen Magier, die sie beiseite stießen noch immer einen sehr frisch empörten Gesichtsausdruck trugen.
Nach einigen Minuten kamen sie unten an, rannten durch das geöffnete Portal hindurch auf den Platz davor – und sahen sich Ivel gegenüber, der zwei Armbrüste auf sie richtete.
"So lässt es sich doch gleich viel besser zielen! Absolut freies Schussfeld, keine Möglichkeit mehr für euch, euch zu verstecken und keiner hier kümmert sich um unseren kleinen Disput! So macht mir die Sache Spaß!"
Und wirklich, die Leute ringsum gingen alle weiter ihren Tätigkeiten nach, als würde nichts besonderes geschehen. Entweder gehörte eine Aktion wie diese hier zur Tagesordnung oder die Ignoranz der Menschen ging weiter, als die Drachen gedacht hatten…
Ivel sprach weiter: "Nun gut, Schlangenbrut – oh, das reimt sich ja, hihihi – wo ist denn der Rest von euch? Saurudalf sprach von zehn Drachen in Menschenkostümen, nicht von zwei!"
Kalessan verdrehte entnervt die Augen und sah dabei plötzlich, wie weit über ihm im Licht der untergehenden Sonne etwas kurz aufblitzte.
Morkulebus antwortete Ivel: "Bist du wirklich so dumm und denkst, wir würden dir verraten, wo die anderen sind?"
"Ich töte euch so oder so, da könnt ihr es mir genauso gut auch verraten!"
"Moment…das macht doch überhaupt keinen Sinn!", entgegnete Morkulebus.
Kalessan fragte sich gerade, ob er sich in dem kurzen Aufblitzen getäuscht hatte, als es noch einmal geschah. Er sagte: "Sie befinden sich momentan in der Taverne ‚Rumstehender Esel‘ und haben sich dort Zimmer gemietet."
Morkulebus flüsterte ihm entrüstet zu: "Kalessan, was soll das? Willst du die anderen auch noch gefährden!?"
"Gefährden? Denkst du, diese kleinen Splitter da können einen Drachen verletzen?"
"Bitte vergiss nicht, dass wir momentan vielmehr Menschen sind als Drachen!"
Das Aufblitzen wiederholte sich. Es war schon deutlich näher gekommen und wiederholte sich jetzt immer wieder in regelmäßigen, kurzen Abständen.
Ivel hatte das ständige Nach-Oben-Sehen Kalessans bemerkt. Er sprach: "Ich…kenne diesen Trick… Doch andererseits…andererseits könnte da oben ja auch wirklich etwas sein… Ich werde es mir besser ansehen. Doch damit ihr mich nicht einfach so überwältigen könnt, werde ich dazu einen Schritt zurücktreten."
Er machte einen Schritt rückwärts und legte den Kopf leicht in den Nacken.
Kalessan lächelte.
Das folgende Geräusch konnte er dank seines exzellenten Gehörs nun in seiner "klanglichen Reinheit", wie er es nennen würde, voll genießen:
Wupwupwupwupwupwupflatschpling
Ivel kippte zur Seite. Blut strömte aus einer kleinen Wunde in seiner Stirn und in seinem Nacken. Unter ihm lag ein kleines, rot gefärbtes Geldstück. Kalessan hob es auf, schnippte es in die Luft und fing es spielerisch wieder auf – Drachen lassen nunmal keine einzige Möglichkeit aus, ihren Hort zu erweitern.
Eine Stimme aus der Menge kam: "Hat wohl wieder jemand das Münzwerfverbot auf der Spitze des Turms missachtet…"
Eine junge Frau, die das Geschehen beobachtet hatte, rief mit fassungsloser Stimme: "Diese…diese Münze hat gerade einen Menschen umgebracht…und ihr hebt sie noch auf? Das bringt doch Unglück! Sie ist ja noch ganz vom Blut dieses armen Mannes besudelt!"
Kalessan sah die Münze an, die ihre rote Farbe tatsächlich nur vom Blut Ivels zu haben schien – und stecke sie sich in den Mund. Er lutschte ein paar Sekunden darauf herum und spuckte sie wieder aus. Hervor kam ein Goldtaler – die Studenten hier hatten für ihre Streiche anscheinend ein recht großes Budget…
Kalessan sagte: "Jetzt ist sie sauber!"
Die Frau fiel in Ohnmacht.
Während sich die ersten Menschen daran machten, den toten Körper nach Wertsachen zu durchsuchen, machten Kalessan und Morkulebus sich wieder auf den Weg zurück zur Taverne. Plötzlich ertönte hinter ihnen eine Stimme: "So wartet doch, edle Drachen, ich möchte euch begleiten!"
Es war der bärtige Mann von oben.
Kalessan rollte mit den Augen und drehte sich um: "Jetzt hör mal…ähm…"
"Oh, verzeiht, edle Drachen, ich vergaß, mich vorzustellen.", er neigte sein Haupt, "Mein Name ist Karlmax."
"Nun gut…Karlmax…ich schlage dir vor, du haust jetzt besser ab, ansonsten erleidest du garantiert dasselbe Schicksal wie dein Kollege da hinten – nur wird es diesmal kein Zufall sein und durch echte Handarbeit geschehen."
Kalessan hielt ihm die Münze vor sein Gesicht.
"Er war nicht mein Kollege – ich konnte ihn eh nicht leiden!"
"Schön für dich – und jetzt: Verpiss dich!"
"Ähm, wa…was? Wie? Äh…wie soll ich mich verpissen, oh edler Drache?"
"Ach, vergiss es…hau einfach ab, ja?"
"Einen Moment! Ihr wollt doch meinen Meister Saurudalf finden, nicht wahr? Ich…kann euch vielleicht doch sagen, wo er sich aufhält!"
Eine halbe Stunde später standen sie vor der Taverne.
"Oh, ich kann es noch immer nicht glauben, ich werde gleich die mächtigsten Geschöpfe dieser Welt treffen!", rief Karlmax freudig aus.
"Die hast du schon getroffen, Menschlein. Gleich siehst du nur den Rest von ihnen.", erwiderte Kalessan.
"Setzt du dich jetzt also schon auf eine Stufe mit Smahug?", fragte Morkulebus.
"Nein – ich stelle mich über ihn. Ohne seine Magie ist er schließlich nur ein desillusioniertes Häufchen Elend, du hast ihn doch gesehen. Er hat sich die ganze Zeit immer an seine Magie geklammert, seine gesamte Macht, sein Eigen, sein Schatzzz. Smahug benutzte die Magie, um sich sein gesamtes Leben zu vereinfachen. Ich würde mal gerne wissen, ob er ohne seine Magie überhaupt noch Jagen gehen und überleben könnte. Und dann sein ständiger Kontakt zu den Menschen!", schnaubte Kalessan verächtlich, "Er hat es schon immer gebraucht, seinen ach so reichen Wissensfundus diesen Wichten mitzuteilen und so seine ach so ‚überlegene‘ Intelligenz zum Ausdruck zu bringen. Ich sage dir, der ständige Kontakt zu den Menschen hat ihn verweichlicht, ihn von dem abgewandt, was ein Drache eigentlich sein sollte…hörst du mir eigentlich zu, Morki?"
"Nein."
"Dann lass uns rein gehen!"
Als die beiden Drachen sich in dem Raum umsahen, konnten sie nur Adorelon entdecken, der am Tresen auf sie wartete – von den anderen war keine Spur zu sehen. Der Schankraum war anscheinend noch ziemlich leer, er würde sich jedoch aufgrund der fortgeschrittenen Tageszeit wahrscheinlich schon bald mit Besuchern füllen.
"Wo sind die anderen?", fragte Kalessan.
"Nachdem sie ein paar Minuten lang mit sich alleine waren, haben sie allesamt einen extremen Stimmungseinbruch bekommen und hocken nun auf ihren Zimmern herum. Smahug ist da noch am schlimmsten – mit dem kann man kaum mehr reden! Ich sehe die Sache nicht so wild, dass wird schon alles werden…", antwortete Adorelon.
"Entschuldigt!", meldete sich Karlmax zu Wort, "Seid ihr auch ein Drache?"
Adorelon sah ihn schief an.
"Wo habt ihr denn den aufgetrieben? Im Gefängnis? Bei dem Bart hat der doch sicher 50 Jahre gesessen!"
"Bart?", erkundigte sich Morkulebus.
"Das haarige Ding da im Gesicht."
"Oh! Nein, der arbeitet für Saurudalf und sagte er könne uns zu dessen Versteck führen. Ich hoffe für dich, dass das auch stimmt, Kleiner! Wie dem auch sei, würdest du bitte so freundlich sein und die anderen holen, damit wir weitermachen können, Adorelon?", sagte Kalessan.
"Nein, ich denke wir sollten diese Nacht noch hier verbringen – die Dunkelheit bricht gerade herein, da wären wir auf der Straße zu auffällig. Außerdem sind mir die anderen noch nicht bereit dazu, wir sollten sie eine Nacht lang ausruhen lassen, dann geht es ihnen bestimmt besser.", erwiderte Adorelon.
"Weißt du was? Es ist mir egal, was du denkst – ich möchte aus diesem Körper heraus!"
"Smahug ist nicht in der Verfassung dazu, Befehle zu erteilen, deswegen muss jemand anders diesen Posten übernehmen."
Kalessan starrte ihn hasserfüllt an.
"Und du bist natürlich geradezu prädestiniert dafür, nicht wahr? Was nimmst du dir eigentlich das Recht heraus, hier den großen Anführer spielen zu dürfen?"
"Ich bin nach Smahug immerhin der Älteste vor dir, Kalessan!"
"Oh ja, um gigantische 134 Jahre Unterschied, oh Ältester und damit natürlich auch Weisester unserer Rasse!", giftete ihn Kalessan an.
"So verlangt es die Tradition – wenn es dir nicht passt, kannst du nachher gerne bei Smahug Beschwerde einreichen!"
Kalessan starre ihn weiterhin wütend an, drehte sich nach einigen Sekunden um und wollte die Treppe hochstürmen, prallte dabei jedoch mit Karlmax zusammen, der immer noch hinter ihm stand.
"Verzeiht, oh Drache, aber ich hätte da noch einige Fragen an euch…", sagte dieser, wurde aber gleich von Kalessan unterbrochen: "Und du, Kleiner, du hörst mir jetzt mal genau zu! Ich kann Menschen generell schon nicht ausstehen. Menschen, die mich nerven, sind noch viel schlimmer dran – weißt du, was ich mit allen Menschen, die mich jemals nervten, gemacht habe?"
"Ähm…nein?"
"Die meisten habe ich bei lebendigem Leibe verschlungen, den Rest auf andere Art und Weise getötet. Doch ich kann dir versichern: Es war immer qualvoll und langsam. Was ich dir damit sagen will, ist folgendes: Wenn du mir noch einmal, nur noch ein einziges Mal auf die Nerven gehst, wird dein Schicksal nicht sehr anders aussehen. Und es ist mir egal, was andere ach so autoritäre Drachen sagen – verstanden?"
Ohne ein weiteres Wort stürmte Kalessan die Treppe hoch und auf das für ihn gemietete Zimmer.
Karlmax sah ihm nur verwirrt nach. Dann sagte er: "Er kann Menschen nicht besonders gut leiden oder?"
Adorelon antwortete ihm: "Stimmt, um nicht zu sagen: Er verachtet euch alle aus tiefstem Herzen. Und er ist in dieser Beziehung sehr konsequent."
"Aber warum?"
"Warum? Nun, vielleicht weil ihr euch wie eine Seuche über die gesamte Welt ausbreitet, die Wälder abholzt, mit Dingen rumspielt, die ihr nicht versteht, nichts anderes zu tun habt, als Kriege zu führen und liebend gerne Drachen tötet!?"
"Oh…"
"Vielleicht kann er euch aber auch deswegen nicht leiden, weil es nicht besonders günstig ist, wenn man die Angewohnheit hat, sich andauernd mit seinem Hauptnahrungsmittel anzufreunden!?"
"Oh…"
"Hm, vielleicht aber auch deswegen, weil Menschen einst seine gesamte Familie und fast auch ihn selbst umbrachten?"
"Oh…bitte, was?"
"Da war er schon im heranwachsenden Alter und hatte seine große Liebe gefunden…ich weiß jetzt nicht mehr, wie sie hieß. Auf jeden Fall kamen die Drachentöter in die Höhle, als Kalessan gerade weg war und seine Angebetete schlief. Die Menschen brachten sie um und zerstörten danach die Eier. Kalessan fand sie gerade, als sie sich an seinem Hort gütlich taten. Er ist vollkommen ausgerastet. Hat sie alle an Bäume gefesselt und dann jeden Einzelnen vor den Augen der anderen fünf Tage lang gefoltert…so erzählt man sich. Damals nannte man ihn auch noch Stormblazer – frag mich bitte nicht, warum!"
"Oh…das tut mir leid für ihn!"
"Sag es ihm doch, er interpretiert das wahrscheinlich nur als ’nerven‘ und macht seine Drohung wahr…wie gesagt, er ist sehr konsequent."
Zwei Stunden später hielt sich nahezu die halbe Stadt im Schankraum des "Rumstehenden Esels" auf. Die anderen Drachen waren nun auch alle aus ihren Zimmern gekrochen, mischten sich unter die Menschen und versuchten, sich die Zeit zu vertreiben.
Karlmax saß zusammen mit dem immer noch traurig dreinblickenden Smahug am Tresen und trank ein alkoholhaltiges Getränk nach dem anderen, wobei er dem Drachen einige seiner äußerst interessanten Theorien erläuterte:
"Also, passu auf! Da isch die Bu…die Bur…die Burschwasie oder so, dassin die Leute, die die ganze Knede ham. Un dann isch da dasch Pro…dasch Prole…Proledingschbumsch un…undie ham alle keine Knede. Verstehschtu? Und irjenwann, wenn die Pro…die Prole…diese armen Schweinsens die Schnause voll ham, dann kommendie so an un machen die jesamde Burschwodingsch feddisch…verschtehst?"
Er hatte in Smahug einen geduldigen, jedoch teilnahmslosen Zuhörer…
In zwei verschiedenen Ecken des Schankraumes saßen Adorelon und Kalessan, jeder zusammen mit je einer menschlichen Frau. Während Adorelon seine Schwäche für menschliche Frauen zeigte und eher offen mit seinem Mädchen plauderte und auch ein wenig flirtete, sagte Kalessan zu seiner Frau nur Dinge wie "Oh wie gerne würde ich jetzt mit dir in eine dunkle Gasse gehen und dich vernaschen!", worauf diese nur dämlich kichern konnte, unwissend darüber, dass ihr Gegenüber das Gesagte vollkommen wörtlich meinte.
Neidhöcker saß an einem Tisch, an dem gerade ein Wettkampf im Armdrücken lief und wo er durch seine außergewöhnlichen Kräfte schon bald als Champion des Abends galt und die Wetten für ihn mit einer Gewinnspanne von 1:1.0001 liefen.
Droca sah sich schon bald von einer großen Horde Menschen umzingelt, die alle wollten, dass er ihnen seinen Namen auf ihre mitgebrachten Papierfetzen, Bilder, Taschen oder Körper schrieb.
Ganz anderen Problemen gegenüber sahen sich die "Frauen" des Rates. Während Tjamat zwar immer wieder von menschlichen Männern aufgrund ihrer Schönheit angesprochen wurde, war nach dem ersten Wortwechsel sofort Schluss mit dem Flirten – die meisten Männer liefen würgend und mit der Hand vorm Mund hinaus.
Schneeweißchen wurde jedoch penetranterweise von einem Menschen traktiert, der andauernd versuchte, mit ihr ein Gespräch anzufangen. Nun sei erwähnt, dass Schneeweißchen zwar die menschliche Sprache beherrschte, sie aber nie anwendete. In den kalten Nordlanden, aus denen sie kam, war es fast nie nötig, Menschlich zu sprechen. Die Menschen die sie dort traf, waren entweder tiefgefroren oder wollten sie töten – beides keine gute Grundlage, um eine gepflegte Konversation zu betreiben… Mal ganz davon abgesehen, dass Schneeweißchen viel zu stolz war, diese "niedere" Sprache zu sprechen.
Irgendwann setzte sich dieser Mensch jedenfalls neben sie und begann, sie damit zuzusülzen, wie "bezaubernd" sie doch sei, wie "atemberaubend" ihre Schönheit und wie "grazil" ihre Gesichtszüge, dass er noch nie so eine "elfengleiche, perfekte" Frau gesehen habe und wie gerne er sie doch kennen lernen würde. Ihr Schweigen interpretierte er als angeborene Stummheit und ihre Geduld als offenes Interesse für ihn. Nach einiger Zeit riss jedoch selbst Schneeweißchens draconischer Geduldsfaden. Sie nahm Hans und schleuderte ihn ohne große Anstrengung durch die halbe Taverne an die gegenüberliegende Wand. Seine Reaktion darauf war nur: "Eine wunderschöne Frau, die auch noch stark wie ein Bär ist…genau mein Fall!"
Keine solchen Probleme hatte Glaureng. Sein Gestank manifestierte sich bereits als grünliche Wolke, die über seinem Tisch schwebte und jeden, der nicht selbstmordgefährdet war, auf großem Abstand hielt.
Bleiben noch Morkulebus und Vasdendas. Die beiden befanden sich gerade in einer Konversation. Morkulebus sagte: "Ich kenne dich jetzt schon seit 1348 Jahren und verstehe immer noch nicht, warum du dir als Drache eine pazifistisch-vegetarische Grundhaltung zugelegt hast. Ich könnte mich keine zwei Tage nur von Pflanzen und Wurzeln ernähren!"
"Weißt du was? Ich verstehe euch alle nicht, wie ihr all diese Geschöpfe der Natur so sinnlos und brutal abschlachten könnt, um dann ihre Eingeweide raus zu reißen und diese dann noch zu essen! Das ist doch widerlich, abartig!"
"Ich find’s eher…lecker! Komm schon, du hast es doch noch nie ausprobiert!"
"Werde ich auch nie. Stell dir nur mal vor: Du bist ein Mensch, der sagen wir 30 Jahre lang glücklich und zufrieden vor sich hin lebt, was für ihn ja schon eine recht lange Zeit ist. Eines Tages geht er dann vielleicht nichts Böses wollend in den Wald, um Blümchen zu pflücken oder sich an Mutter Natur zu erfreuen und auf einmal kommt dann so ein daher geflogener schwarzer Drache an und beendet sein Leben mit einem Handstreich. Wie würdest du es finden, wenn dir jetzt jemand einfach so dein Lebenslicht ausblasen würde und du nichts dagegen tun könntest?"
"So ist der Lauf der Dinge! Doch lassen wir das, hier kommen wir eh zu keinem Ergebnis…was mich viel mehr interessiert, ist, wie du bis zum heutigen Tag überleben konntest, ohne irgendeinem Lebewesen Schaden zuzufügen. Die Drachentöter werden dich kaum verschont haben, nur weil alle wissen, wie friedlich und unbeschwert du vor dich hin lebst…"
"Ich habe mich magisch schon sehr früh selbst ausbilden lassen. Ich habe es sogar geschafft, meine Höhle so zu tarnen, dass nur ein Minimum an Drachentötern sie je gefunden hat und eindringen konnte!"
"Und was hast du mit denen gemacht?", fragte Morkulebus.
"Nun, zuerst habe ich sie immer freundlich zum Essen eingeladen…"
"Hat es denn geklappt?"
"Nun…nein, sie haben meine Einladung immer missverstanden."
"Und was hast du stattdessen gemacht?"
"Dann bin ich immer schnell geflohen und habe mir eine neue Höhle gesucht…", antwortete Vasdendas mit gesenktem Haupt.
Morkulebus schüttelte nur noch den Kopf.
Diese Diskussion und die anderen Aktivitäten der Drachen zogen sich jedenfalls noch den gesamten Abend hin, bis der Rat nach und nach beschloss, zu Bett zu gehen.
Als Kalessan am nächsten Morgen aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt. Er lag auf seinem Rücken und sah, wenn er den Kopf ein wenig hob, seinen flachen und mit weicher, fleischfarbener Haut bedeckten Bauch, auf dem die Bettdecke unordentlich ausgebreitet war. Seine wenigen, im Vergleich zu seinem eigentlichen Körper kläglich dünnen Beine und Arme flimmerten ihm hilflos vor den Augen.
Kalessan schrie.
Er war jedoch ein wenig enttäuscht, als sich seiner Kehle nur lächerliche 60 Dezibel entrangen.
Wenige Sekunden später kamen die anderen Ratsmitglieder in den Raum hinein gestürmt, Smahug an der Spitze.
Er rief: "Was? Was ist los? Was ist passiert?"
Die anderen schauten nur hinter Smahugs Rücken hervor und Kalessan neugierig an.
"Ich..ähm…ach nichts, ich dachte beim Aufwachen, ich hätte alles nur geträumt – aber wie du siehst, hat sich relativ wenig verändert… Wenigstens scheinst du wieder bei Verstand zu sein!"
Smahug runzelte: "War ich das etwa irgendwann nicht?"
"Vor wenigen Stunden das letzte Mal."
"Oh…daran kann ich mich gar nicht mehr erinnern…", antwortete er mit auf einmal seltsam verträumter Stimme.
"Sag mal, Smahug, geht es dir irgendwie…nicht gut? Hat dich der Schock vielleicht doch schwerer getroffen?"
Wieder mit verträumter Stimme und abwesendem Blick, antwortete er: "Welcher Schock?"
"Deine Magie – deine verlorene Magie. Du hast gestern den ganzen Abend über den Verlust deiner ach so kostbaren draconischen Magie getrauert!"
Smahug schien irgendwie müde. Mit entsprechender Stimme antwortete er: "Magie…? Draconisch…? Was meinst du mit ‚draconisch‘?"
Kalessan runzelte die Stirn.
Dann fragte er: "Welcher Spezies gehörst du an, Smahug?"
"Ich…ich weiß nicht. Ich meine zu wissen, ein Mensch zu sein…doch…doch war da nicht noch was anderes?"
"Na toll, jetzt ist er völlig durchgeknallt!", spie Kalessan aus, "Na, was sagst du dazu, Adorelon, oh der du unser neuer Anführer bist?"
Dieser sah jedoch keine Spur besser aus als Smahug. Mit gleicher, abwesender Stimme antwortete er: "Ja, Mama!"
Als Kalessan sich die anderen Drachen betrachtete, sah er überall den langsam völlig verträumt werdenden Gesichtsausdruck – von der Neugierde, die vor ein paar Sekunden noch in die Gesichter seiner Kollegen geschrieben stand, war nun nichts mehr zu erkennen. Jetzt hatten sie eine Mimik, die man eigentlich nur bekommt, wenn man sehr viel verbotenes Zeug geraucht hat.
"SEID IHR DENN JETZT ALLE WAHNSINNIG GEWORDEN?", schrie Kalessan, sprang aus dem Bett, nahm Smahug und presste ihn gegen die Wand.
"Was bist du?"
"Ich…bin ein Mensch, genau wie d…"
Kalessan schüttelte ihn.
"Falsche Antwort!"
Da kam ihm eine Idee. Er zog ein Goldstück aus Smahugs Robe.
"Erinnerst du dich an das hier? Du hattest mal Tonnen davon, so viel, dass du darin baden konntest! Du hättest diese ganze verdammte Stadt kaufen können und wärest noch immer der Reichste von uns gewesen!"
Dazu bewegte er das Goldstück vor Smahugs Nase hin und her. Dessen Blick klärte sich langsam auf. Schließlich sagte Smahug "Ich…erinnere…mich…" und lächelte ihn an. Dann wurde er sich seiner Situation schlagartig wieder bewusst. Er vergrub seine Hände im Gesicht und heulte: "Und ich kann nie mehr zurück zu meinem schönen Schatz! Und…UND ZU MEINER MAGIE!"
"Oh nein…jetzt fang bitte nicht wieder damit an!", sagte Kalessan – ohne Erfolg.
Die anderen Drachen standen nur im Raum herum und starrten sie verständnislos-verträumt an.
"Was glotzt ihr alle so? Jetzt bringt dieses Weichei hier raus und lasst mich alleine…ich muss nachdenken!"
Wenigstens konnten sie noch seine Befehle ausführen – und taten es sogar. Doch was brachte es, wenn man eine Horde von Idioten als Untertanen hatte? Als die Drachen aus dem Raum verschwunden waren, erschien Karlmax in der Tür.
Kalessan sagte finster: "Was zur Hölle ist hier eigentlich los?"
Der Magier antwortete: "Nun, es fing an, kurz nachdem ihr auf euer Zimmer gegangen seid. Die anderen blieben noch ein bisschen unten, doch als ich mich mit ihnen unterhielt, wurden sie immer abwesender. Sie vergessen, wer sie sind…oder besse – was sie sind. Und es wird immer schlimmer."
"Aber warum? Einige von ihnen sind früher schon tagelang in ihrer menschlichen Form gewesen…Adorelon sogar ein paar Jahre, als er die Beziehung zu dieser Bauerntochter hatte…"
"Nun, ich habe mir in der Nacht Gedanken darüber gemacht und bin zu dem Schluss gekommen, dass das physische Erscheinungsbild in dem sie sich momentan befinden, sich ihres Geistes bemächtigt und…ach verdammt, ich hatte doch so einen Merksatz dafür. Ah, genau, passt auf, ich habe ihn: ‚Das Schwein bestimmt das Bewusstsein…‘ Moment…nein…nein, das war es nicht…"
Er sah auf.
Kalessans Blick, mit dem dieser zurück starrte, sagte: "Du wirst das jetzt noch einmal so wiederholen, dass ich es auch verstehe, ansonsten passiert etwas sehr, sehr schlimmes!"
"Nun, ähm…ihr müsst verstehen: Eure Magie ist eure Essenz. Die Magie ist das, was euch als Drachen kennzeichnet, wenn ihr euch in euren menschlichen Körpern befindet. Jetzt, wo euch eure Magie fehlt, unterscheidet ihr euch nicht von anderen Menschen. Deswegen beginnt ihr, welche zu werden…", er stockte und begann nachzugrübeln, "Hm…oder war es ‚Das Bein bestimmt das Bewusstsein‘?"
"Wenn die anderen langsam zu Menschen werden – was ist dann mit mir? Ich weiß, dass ich ein Drache war…bin."
"Ich bin mir nicht sicher, aber ich denke es liegt daran, dass ihr meine Spezies noch nie…so gut leiden konntet. Deswegen weigert sich euer Verstand hartnäckig, den Glauben anzunehmen, ihr wäret der von euch selbst erwählte größte Feind…(hmmm, ‚Die Pein…‘?)…ähm…aber ich bin auch fest davon überzeugt, dass ihr euch der Verwandlung nicht sehr viel länger entziehen könnt…(‚Der Leim…‘?)"
"Und wieviel Zeit habe ich noch?"
"Ich weiß es nicht. Vielleicht noch ein paar Stunden…(‚Der Hain…‘?)"
"Oh verdammt! Also gut, du weißt wo Saurudalfs Versteck ist. Wie schnell kannst du uns dort hinführen?"
Karlmax‘ antwortete abwesend: "Jaja…(‚Herr Klein…‘?)"
Kalessan nahm ihn an der Kehle und hob ihn auf eine Höhe mit seinen Augen.
"Hör mal zu: Du wirst jetzt aufhören über diesen dämlichen Merksatz nachzudenken. Du wirst mich und meine Kollegen jetzt zu Saurudalfs Versteck führen. Du hast eine Stunde Zeit. Ansonsten wird die letzte Handlung meiner draconischen Existenz noch einmal meine Lieblingsbeschäftigung sein – das Ausblasen von menschlichen Lebenslichtern auf extrem brutale und unangenehme Art und Weise."
Karlmax wand sich in Kalessans stählernem Griff und röchelte.
Kalessan ließ ihn fallen, beugte sich über ihn und fragte fröhlich: "Na, kann’s losgehen?"
Karlmax führte den Rat zum Eingang der Kanalisation von Neudorf.
Es hatte sich als nötige Maßnahme erwiesen, die neun abwesenden Drachen mit dem Menschen zusammen zu ketten, weil sie ansonsten von alleine keinen Schritt mehr getan hätten – ihr Bewusstsein schaltete doch schneller ab, als erwartet…
"Meine Freunde hier werden aufpassen, dass du mir nicht einfach wegrennst!", hatte Kalessan zu Karlmax gesagt.
Der gesamte Rat bildete also jetzt eine kleine Kolonne aus vor sich hin träumenden Menschen in farbigen Gewändern, die von einem grimmigen Hünen in roter Robe begleitet und von einem kleinen, bärtigen Mann geführt wurde.
"Woher weißt du eigentlich von Saurudalfs geheimen Versteck? So geheim scheint es ja nicht zu sein, wenn du davon weißt…"
Karlmax ignorierte den sarkastischen Unterton Kalessans: "Ich habe einmal heimlich in Saurudalfs Aufzeichnungen gestöbert. Da bin ich auf eine Wegbeschreibung zu seinem Versteck in der Kanalisation gestoßen."
"Das ist ja schön für dich!", antwortete Kalessan, "Mit jedem Satz, den du sagst, verschwendest du weitere wertvolle Zeit deines kurzen Lebens. Wenn ich dir also einen gut gemeinten Vorschlag machen darf: Geh weiter!"
"Ich gehe doch weiter!"
"Willst du mich nerven?"
Karlmax hob die Hände in einer abwehrenden Geste und wollte gerade die Kanalisation betreten, als er mit einem jungen Mann zusammen prallte, der diese gerade verließ. Der Mann schaute die seltsame Gruppe verwirrt an und sagte: "Also Sally hat schon zugemacht. An eurer Stelle würde ich es heute Abend noch einmal versuchen. Oder wollt ihr woanders hin? Achso, zum Sklavenhändler?"
Karlmax antwortete: "Ähm, nein, wir wollen nicht zu Sally – und auch nicht zum Sklavenhändler, wir haben…ähm, woanders einen Termin."
Der Mann zuckte nur mit den Schultern und ging weiter seines Weges.
Kalessan fragte Karlmax auf ihrem Weg in die Kanalisation: "Wer ist Sally? Und was zur Hölle hat sie in der Kanalisation zu suchen?"
"Nun…Sally ist Inhaberin eines…Geschäftes…"
"Ein Geschäft in der Kanalisation? Was verkauft sie denn da unten? Scheiße?"
"Nein, sie verkauft…gewisse Dienstleistungen…"
Kalessan zog nur die Augenbraue hoch.
"Man kann zu ihr gehen…und gegen ein gewisses Entgelt kann man mit einer Frau…zusammen sein…"
"Und das geht nur in der Kanalisation?"
"Naja, Sallys Aktivitäten werden nicht von allen als…völlig legal betrachtet…"
Zu Karlmax‘ Erleichterung hakte Kalessan nicht weiter nach, sondern schüttelte nur den Kopf.
Auf ihrem Weg durch die Kanalisation bemerkte der Drache, dass überall an den Wänden Fackeln hingen. Wozu sollte jemand in einer Kanalisation Fackeln aufhängen lassen? Und warum kamen ihnen immer wieder Menschen auf dem Weg in die Kanalisation entgegen?
Karlmax sagte: "So, jetzt kommen wir in den Haupttunnel!"
Sie bogen um eine Ecke – und fanden sich auf einer Art Straße wieder. Erneut hingen hier überall Fackeln an den Wänden. Mehrere Menschen liefen auf den breiten Randsteinen neben dem stinkendem Hauptstrom der Kanalisation entlang und bogen ab und zu in finstere Seitengassen ein. Als Kalessan einen Blick in einen der Seitentunnel warf, sah er am Ende eine Tür, über der ein hölzernes Schild hing, auf dem ein großes Messer abgebildet war. In einem anderen Tunnel war eine Tür mit einem Schild, auf dem ein brennendes Pentagramm aufgemalt war. Wieder in einem anderen Tunnel hing ein Schild auf dem eine vermummte Gestalt zu sehen war.
Nachdem sie diesen Tunnel passiert hatten, kam ihnen genau eine solche Person entgegen. Als Kalessan sie passierte, rempelte diese ihn kurz an, entschuldigte sich und ging hastig weiter. Kalessan befühlte seine Taschen und war eher weniger überrascht, als er sie leer vorfand.
Er drehte sich um und sah die vermummte Gestalt noch schnell in den dazu passenden Seitentunnel einbiegen. Kalessan rannte dem Menschen in den Tunnel hinterher und kam vor der Holztür mit dem "Vermummter Mann"-Schild zu stehen.
Er klopfte an, worauf sich der obligatorische Schlitz, durch den zwei finstere Augenpaare starrten, öffnete.
"Ja?", hieß es barsch.
"Einer von euren kleinen, dreckigen Dieben hat mich eben beraubt. Er wird eine Menge Leben retten, wenn er mir jetzt gibt, was mir zusteht."
Die finsteren Augen wurden noch finsterer. Dann ging der Schlitz zu. Von innen hörte man die Stimme des Pförtners rufen: "Jimmy, hast du eben einen zwei Meter großen Typen, mit ’ner komischen roten Robe ausgeraubt?…Du hast da mal wieder was vergessen!"
Der Schlitz öffnete sich wieder: "Es tut uns leid, er ist noch jung und relativ unerfahren. Hier, bitte!"
Eine Karte wurde durch den Schlitz gesteckt. Kalessan nahm sie entgegen. Der Schlitz ging zu. Auf der Karte stand: "Ihr wurdet von Jimmy dem Fuß ausgeraubt, offizielles Mitglied der Diebesgilde, Neudorf, HbmG. Wir danken für eure Kooperation und wünschen euch noch einen angenehmen weiteren Aufenthalt in der Neudorfer Kanalisation!"
Kalessan zerknüllte die Karte wütend mit einer Hand.
"So, das reicht…jetzt gibt es Tote!"
Er ballte seine Hand zur Faust und schlug mit aller Kraft gegen die Holztür. Der erwartete Effekt explodierenden Holzes blieb jedoch aus. Stattdessen explodierte der Schmerz in seiner Hand.
Kalessan wimmerte.
Hinter der Tür ertönte die Stimme des Pförtners: "Wir haben jetzt geschlossen, kommt morgen wieder!"
Kalessan betrachtete ungläubig seine schmerzende Hand – es hatte also begonnen.
Er rannte los.
Am anderen Ende des Tunnels stand Karlmax mit den träumenden Drachen.
"Was…was ist denn los mit euch?"
"Halt die Klappe und führe mich zu Saurudalfs Versteck. Keine Umwege, kein Verlaufen, keine ‚Abkürzungen‘, verstanden?".
Karlmax sah ihn an – direkt in seine Augen. Und was er entdeckte, gefiel ihm überhaupt nicht – er sah Panik.
Obwohl Karlmax nicht der Schnellste war und die neun Drachen hinter ihm die Fortbewegung enorm erschwerten, schafften sie es binnen weniger Minuten durch einige Seitenkanäle in einen kleinen Tunnel, der an einer Gargoyle-Statue endete.
"Und jetzt? Ich tippe auf das alte ‚Schalter finden und drücken‘-Spiel.", sagte Kalessan ungeduldig, aber mit einer gehörigen Portion Galgenhumor.
"Nicht ganz…laut Saurudalfs Aufzeichnungen müsste uns jetzt ein Rätsel gestellt werden. Leider weiß ich nicht genau, wie es lautet."
"Ein Rätsel? Warum wird nicht nach irgendeinem Passwort oder so gefragt? Das wäre doch viel sicherer!"
"Nunja, Saurudalf ist recht vergesslich, besonders was Passwörter betrifft. Aber er ist gut im Rätseln. Deswegen hat er diesen Gargoyle verzaubert, ein Rätsel aufzugeben. So hat er zumindest eine Eselsbrücke für sein Passwort…"
Kalessan zog eine Augenbraue hoch, zuckte dann aber nur mit den Schultern und ging auf die Statue zu. Die Augen des Gargoyles begannen auf klassische Art und Weise rot zu glühen. Dann sprach er:
"Halt, wer hier vorbei möchte, muss erst das schwierigste Rätsel lösen, welches da je erfunden worden ist, ansonsten…"
"Ansonsten was?", fragte Kalessan herausfordernd.
"Ansonsten wird er ein schreckliches Schicksal erleiden!"
"Das da wäre…"
"Er muss eine Stunde warten, bis er noch einen Versuch bekommt!"
"Bitte…was? Keine tödlichen Strafen? Keine alles zu Asche verbrennenden Feuerbälle? Keine rasiermesserscharfen, plötzlich aus der Wand schießenden Klingen? Keine sich langsam zusammen bewegenden Wände, die ihre Opfer langsam und qualvoll zerquetschen?"
"Nein! Mein Meister würde sich doch nicht absichtlich in Gefahr bringen. Außerdem wäre es doch ziemlich lästig, die Sauerei hinterher hier immer aufräumen zu müssen, nicht wahr?", antwortete der Gargoyle fröhlich.
"Oh…wie langweilig!", entgegnete Kalessan offensichtlich enttäuscht, "Nun gut, dann stell dein ach so schweres Rätsel!"
"Nun gut. Aber seid vorbereitet auf das schwierigste und gewiefteste Rätsel aller Zeiten, eine Kopfnuss, die nur die Allerwenigsten der Allerwenigsten knacken konnten, eine Aufgabe, die nur die Schlauesten der Schlauesten der…"
Der Gargoyle bemerkte nun Kalessans patentierten Todesblick, welcher anscheinend auch bei ihm hervorragend funktionierte…
"Ähm, ja…Verzeihung. Hier nun das Rätsel: Am Morgen geht es auf vier Bei…"
"Der Mensch!", sagte Kalessan.
"Hey, das ist gemein. Ihr kanntet das Rätsel schon!"
"Oh, ich bitte dich – das ist das älteste, dümmste und vor allem populärste Rätsel der Geschichte."
"Aber bis jetzt hat es noch keiner gelöst!"
"Nun…wie viele waren vor uns denn schon hier außer deinem Meister?"
Der Gargoyle sah sie nachdenklich an, zuckte dann mit steinernen Schultern und schob sich mitsamt der Wand, in der er befestigt war, beiseite und gab den Weg frei.
Karlmax sagte: "Ich kannte das Rätsel noch nicht!"
"Du bist ja auch kein Drache. Weiter!"
Kalessan, Karlmax und die neun halbnarkotisierten Drachen gingen durch die Tür hindurch. Dahinter befand sich ein Raum, der eher spärlich ausgestattet war: Je zwei Holzbänke standen an den beiden Seitenwänden und in der Mitte des Raumes war ein Tisch, auf dem einige Schriftrollen lagen.
Karlmax sagte: "Das hier muss der Empfangsraum sein!"
"Wozu braucht ein machtgieriger Magier in seinem geheimen Labor unter der Erde einen Empfangsraum?"
"Hoher Besuch, Freunde, Sponsoren…"
Kalessan nahm sich eine der Schriftrollen. Sie war mit dem Schriftzug "Mord ist Sport, Ausgabe 4/01" betitelt.
Die Tür hinter ihnen ging wieder zu. Aus der gleichen Richtung ertönte eine Stimme: "Guten Tag!"
Die beiden drehten sich ruckartig um. Hinter ihnen stand ein ihnen sehr bekannter Mann, der einmal mehr zwei Armbrüste auf sie richtete.
"Ivel!?", riefen sie gleichzeitig (Kalessan und Karlmax, nicht die Armbrüste).
"Nein, ich bin Esöb, der Zwillingsbruder von Ivel, den ihr so hinterhältig ermordet habt. Dafür werdet ihr mir bezahlen!"
"Wir haben gar kein Geld dabei, das wurde uns gestohlen!", antwortete Karlmax schnell, "Außerdem haben wir ihn nicht umgebracht!"
"Du hörst besser auf, mich für dumm zu verkaufen!"
"Er hat Recht, wir haben ihn nicht umgebracht. Nicht direkt zumindest.", warf Kalessan ein.
"Wenn ihr es nicht wart, wer dann?"
"Ich könnte euch jetzt die Wahrheit erzählen und sagen, dass Ivel von einer Münze getötet wurde, die mehrere hundert Meter weit fiel, eine irrsinnige Geschwindigkeit entwickelte und seinen Kopf durchbohrte. Würdet ihr mir glauben?"
"Das geschah vor der Magierakademie?"
"Ja."
"Oh diese verdammten Studenten! Eines Tages verpasse ich denen für ihre dummen Streiche eine Tracht Prügel, die sich gewaschen hat! Wie dem auch sei, ich danke euch für eure Hilfe. Jetzt muss ich euch aber leider bitten, mit mir mitzukommen – wir haben euch bereits erwartet."
Er deutete höflich auf die Tür am anderen Ende des Raumes.
Angesichts der Armbrüste blieb den beiden wohl keine Wahl. Sie setzten sich in Bewegung, öffneten die Tür und liefen den dahinter liegenden Gang hinunter. Esöb ging direkt hinter ihnen, stieß aber immer wieder mit dem geistlosen Smahug zusammen, der noch hinter Karlmax hing – und das brachte ihn langsam aus der Fassung: "Müssen diese neun Zombies denn unbedingt hinter dir herlaufen? Öffne die Tür!"
Karlmax tat wie ihm geheißen und öffnete die Tür neben ihm. Dahinter lag ein leerer, kleiner Raum.
"Binde sie ab und führe sie da hinein!"
Nachdem Karlmax auch das ausgeführt hatte, erkundigte sich Esöb: "Und sie können sich nicht aus freiem Willen weiterbewegen?"
"Anscheinend nicht, nein."
"Gut. Weiter!"
Einmal mehr markierte eine dieser langweiligen Holztüren das Ende des Ganges.
"Da durch!"
Hinter dieser letzten Tür wartete eine echte Überraschung auf Kalessan und Karlmax: Es handelte sich hierbei nicht um einen weiteren, kleinen, leeren Raum, sondern um eine Halle von relativ beachtlichen Ausmaßen. Überall standen Tische herum, auf denen, wie es sich für ein ordentliches Magierlabor gehört, verschiedenste Gerätschaften und vor allem Dutzende Reagenzgläser standen, die mit allerlei Flüssigkeiten gefüllt waren, deren Farbspektrum es einmal mehr schon fast mit dem der Drachen aufnehmen konnte.
An einem der Tische und neben einem großen Eisenkäfig stand mit dem Rücken zu ihnen Saurudalf. Vor ihm war das Prettschett positioniert. Saurudalf fluchte: "Verdammt!"
Kalessan antwortete: "Ihr wisst nicht, wie man es bedient, hm? Lasst mich raten: Es liegt an diesen komplizierten ausländischen Anleitungen, die kein Normalsterblicher verstehen kann, nicht wahr? Achso, ihr habt es ja selbst gebaut…ich vergaß…"
Saurudalf drehte sich um.
"IHR! Ich…äh…ich habe euch schon erwartet! Besonders…MEIN SEKRETÄR? Was zur Hölle willst du hier, Karlmax? Und wo ist der Rest von dem Drachengesocks?"
"Die habt ihr mit euren Mätzchen in den Wahnsinn getrieben, sodass sie jetzt glauben, sie wären Menschen. So etwas finde ich sehr unschön von euch… Ich dachte, ihr wolltet aus dieser Stadt einen lebenswerten Ort machen!", antwortete Karlmax – seine Naivität war doch wirklich zu niedlich.
"Die anderen habe ich in eine unserer Zellen gesperrt – wie er sagt, sie waren völlig geistlos…", sagte Esöb.
"Hm…interessant! Sagt mir, um noch einmal auf den Beginn unseres Gespräches zurück zu kommen, Drache, was meintet ihr damit, dass ich nicht wüsste, wie man das Prettschett bedient?"
"Wir haben euch doch gesagt, dass sich unsere Magie von der euren unterscheidet. Das Ding da hat keinerlei Nutzen für euch, solange ihr die Funktionsweise unserer Magie nicht versteht."
Saurudalf kniff die Augen zusammen und schenkte Kalessan den bösen Blick, was diesen natürlich wenig beeindruckte.
"Nun, ich lerne schnell. Ihr seid nicht zufällig bereit, es mir zu erzählen?"
Kalessan lächelte den Magier an.
"Nun gut, dann werde ich mich woanders erkundigen gehen."
"Da bin ich ja mal gespannt, wie ihr das anstellen wollt. Wenn nicht gerade Smahug wieder ein loses Mundwerk gehabt hat, dürfte dieses Geheimnis kaum in einer eurer billigen Schriften niedergeschrieben sein. Und bei dieser Angelegenheit bin ich mir ziemlich sicher, dass sogar er die Klappe halten kann." antwortete Kalessan.
Saurudalf lächelte den Drachen an.
"Er hat geredet, nicht wahr?", sagte Kalessan
"Ganz in der Nähe von Neudorf gibt es einen alten Tempel mit einer großen Bibliothek. Und rein zufällig gibt es meines Wissens nach in dieser Bibliothek auch ein Buch über "Die Geheimnisse der Drachenmagie" – verfasst mit Hilfe von Smahug, dem Weisen…"
Kalessan spitzte die Lippen und ging dann mit seinem Gesicht in eine wütend-enttäuschte Grimasse über. Er sah ungefähr so aus, als hätte ihm jemand eine Stunde lang ohne Unterbrechung ins Gesicht geschlagen.
"Ähm, Meister?", fragte Esöb.
"Ja?"
"Meint ihr den Tempel, der im Dunklen Sumpf im Norden liegt?"
"Ja!"
"Ich halte es für gefährlich, dort hinzureisen. Der Tempel ist im letzten Monat wieder einige Meter gesunken, habe ich gehört. Viele der örtlichen Mönche haben ihn schon verlassen, weil er jetzt jederzeit untergehen könnte…"
"Ach, Quatsch! So lange wird er ja wohl noch halten. Ich brauche höchstens zwei Tage bis dahin. Und für meine Studien benötige ich auch nicht viel Zeit. Doch bevor ich abreise, habe ich noch etwas zu erledigen…", sagte Saurudalf mit einem bösen Blick auf Kalessan und Karlmax.
An seinen Sekretär gewandt sagte er dann: "Zunächst einmal: Du bist gefeuert! Und dann habe ich mir für euch beide schon ein wundervolles Schicksal ausgedacht. Ich werde an euch beiden meine neueste und bösartigste Errungenschaft einweihen und euch in einen großen Bottich stecken, der bis zum Rand gefüllt ist mit kochender, brodelnder, alles auflösender…", er machte eine dramatische Pause, "ASCORBINSÄURE!"
"Ähm…Meister?"
"Ja, was ist?"
"Ähm, das mit dem Kochen und Brodeln und dem Alles-auflösen stimmt nicht so ganz…"
"Bitte…was?"
"Nun…es handelt sich nicht um eine aggressive Flüssigkeit, wie ihr vielleicht annehmt, sondern eher um…um…um…ein Pulver…"
"Ein Pulver…"
"Ein Pulver."
"Ich hatte dir doch aufgetragen, Säure für meine Folterkammer zu beschaffen!"
"Ja – und ihr hattet mir auch aufgetragen, möglichst die billigste Säure zu besorgen, die ich finden könnte. Und das war nunmal Ascorbinsäure."
"Kann man das Pulver vielleicht in Wasser lösen und so eine kochende, brodelnde und alles auflösende Säure schaffen?"
"Nein, das habe ich schon versucht."
Saurudalf schloss die Augen, presste die Zeigefinger an die Stirn, massierte sich die Schläfen und atmete ruhig ein und aus. Dann sagte er: "Nun gut…vielleicht ist es ja besser so.", er wandte sich an Kalessan, "Jetzt kann ich euch noch damit quälen, wie ich eure eigene Magie benutze, um euch langsam zu Tode zu foltern… Esöb, du wirst diese beiden hier in den Eisenkäfig sperren und sie so lange bewachen, bis ich wieder da bin – verstanden?"
"Ja, Herr."
"Diese Aufgabe ist auch wirklich nicht zu schwer für dich?"
"Nein, Herr."
"Du wirst dich auf diesen Stuhl setzen und diese beiden nicht aus den Augen lassen?"
"Ja, Herr. Nein, Herr."
"Gut."
Saurudalf drehte sich ohne ein weiteres Wort um und stürmte aus der Halle hinaus.
"Es war irgendwas mit ‚…ein‘ hinten dran…", sagte sich Karlmax.
Er saß nun schon seit ungefähr zwei Stunden zusammen mit Kalessan in dem Eisenkäfig und nutzte die Zeit, um sich über das Problem Gedanken zu machen, welches ihn schon seit einiger Zeit beschäftigte.
Kalessan saß ebenfalls in Gedanken versunken neben ihm.
"Wisst ihr vielleicht noch ein Wort mit ‚…ein‘ hinten dran?", wandte Karlmax sich an den verwandelten Drachen. Dieser saß jedoch nur da und starrte ins Leere.
"Ähm…Kalessan?", fragte Karlmax und streckte die Hand aus. Er zögerte kurz, in dem Bewusstsein, dass sein Vorhaben einem Selbstmord gleichkommen könnte – dann rüttelte er den Drachen an der Schulter. Nichts geschah.
"Kalessan? Hallo! Aufwachen! Oh, verdammt…"
Das war ein schlechtes Zeichen. Kalessan war unübersehbar geistig abwesend.
Karlmax suchte nun nach der Lösung von einem ganz anderen Problem. Er tastete seine Taschen nach Geld ab, doch seine Unterbezahlung machte sich in gefundenem finanziellem Nichts recht deutlich bemerkbar.
Er fragte den in der Nähe auf einem Stuhl sitzenden Esöb, der gerade in einer Schriftrolle las, die mit "Das Sally-Magazin" betitelt war: "Ähm habt ihr vielleicht kurz eine Münze oder ein Goldstück für mich? Ihr bekommt es auch gleich wieder."
Esöb sah kurz auf: "Ich soll dich wohl noch dafür bezahlen, dass du da drinnen sitzt? Vergiss es!"
Dann wandte er sich wieder seiner Schriftrolle zu. Auf einmal wurden seine Augen groß. Er drehte die Schriftrolle um 90 Grad. Seine Augen wurden noch größer. Esöb schaute wieder auf Karlmax und machte den Mund hastig auf und zu: "Ent…ent…oh…oooh….entschuldige mich, ich habe…oohhoohh…kurz was zu erledigen!"
Dann stand er schnell auf, rannte mit der Schriftrolle vor den Augen zunächst gegen eine geschlossene Tür, öffnete sie dann, ging hindurch und schloss sie wieder. Dann waren nur laute Oh..oohh…ohhohhhhoooohhhhs aus dem Raum dahinter zu hören.
Karlmax dachte weiter nach, wie er Kalessan aus seiner Lethargie reißen könnte. Da kam ihm eine weitere Idee.
Er ging zu Kalessan und öffnete dessen Mund und legte ein paar seiner Finger hinein.
"Na, schmeckt euch das?"
Keine Reaktion.
Zur Standardausstattung eines Bürgers, der in einer Stadt wie Neudorf wohnt, gehört immer ein Messer. Das ist so selbstverständlich, dass es nicht einmal von den örtlichen Bösewichten und Schurken bei Durchsuchungen abgenommen wird. Es gibt sogar ein Gesetz, das alle Bürger von Neudorf verpflichtet, immer ein Messer dabei zu haben. Wenn man jemandem sein persönliches Messer entwendet, droht dem Dieb darauf die Todesstrafe. Das reduzierte die Gerichtsverfahren wegen vorsätzlichem Mord ganz erheblich, da nun jeder Mörder auf "Verteidigung aus Notwehr" plädieren konnte.
Jedenfalls holte Karlmax sein ganz persönliches Messer aus dem Ärmel, zögerte kurz, biss dann die Zähne zusammen und schnitt sich in den Arm.
Dann ließ er das Blut in Kalessans geöffneten Mund laufen.
Zunächst gab es wieder keine Reaktion. Dann schloss sich Kalessans Mund plötzlich um die Wunde und begann zu saugen.
"AUA!", rief Karlmax, zog den Arm schnell weg und legte sich dann erschrocken die Hand auf den Mund, in der Annahme, Esöb könnte etwas gehört haben.
Kalessan starrte ihn zunächst an, als ob er ein saftiges Stück Fleisch wäre. Dann schaute er ihn völlig verwirrt an und schließlich betrachtete er ihn so, wie er ansonsten immer nur…Karlmax anstarrte. Sein Blick fiel auf dessen Schnittwunde.
Er runzelte die Stirn und schien erneut ins Leere zu starren. Als Karlmax schon dachte, seine schmerzhafte Aktion hätte doch keinen Erfolg gehabt, sagte Kalessan:
"Warum tust du das? Du hast mich vorher noch nie getroffen. Du weißt nicht mal mehr, ob ich die Wahrheit sage und wirklich ein Drache bin… Außerdem war ich nicht gerade nett zu dir – und dennoch machst du das alles hier mit, um mir zu helfen. Warum?"
Karlmax zuckte mit den Schultern: "Nun, sogar Saurudalf sagt, dass ihr ein Drache seid – warum sollte er sonst so etwas behaupten? Vielleicht helfe ich euch aber auch nur deswegen, weil ich schon immer einem Drachen begegnen wollte – weil ich schon immer mal auf einem Drachen reiten und die Welt von oben sehen wollte…ich bin wahrscheinlich nur wieder zu naiv…"
"Allerdings! Schon Pläne, wie wir hier herauskommen?"
"Nun…nein! Ich dachte vielleicht, dass ihr…"
"Kalessan! Karlmax!", rief eine Stimme von der Tür her, durch die sie den Raum betreten hatten. In ihr stand Smahug.
"Was macht ihr denn da drinnen?"
Kalessan antwortete: "Smahug! Geht es dir wieder besser?"
Der Drache kam näher an den Käfig heran: "Ging es mir denn je schlecht? Daran kann ich mich schon gar nicht mehr erinnern…"
Kalessan seufzte: "Nicht schon wieder…Smahug, sag mir: Was bist du?"
"Wie…was bin ich?"
"Welcher Spezies gehörst du an?"
"Ich bin natürlich ein Mensch! Was ist denn das für eine seltsame Frage?", antwortete Smahug fröhlich.
Kalessan senkte resigniert den Kopf und seufzte erneut – diesmal war sich Smahug anscheinend sicher. Dann schreckte er auf: "Karlmax, wo ist dieser Esöb hin?"
"Oh, der ist wahrscheinlich gerade auf der Toilette und schaut sich schmutzige Schriftrollen an…", antwortete dieser.
"Warum muss er dazu auf die Toilette? Warum geht er nicht in die Eingangshalle und nimmt eine der sauberen Schriftrollen?"
"Vergesst es! Smahug, könntet ihr bitte das Schlüsselbund dort nehmen und die Tür dort drüben abschließen? Das würde uns ein paar Probleme ersparen…", Karlmax zeigte auf die Schlüssel und die Tür.
"Was ist denn hinter…"
"Halt den Mund und tu es einfach! Wir wissen nicht, wann er wieder zurück kommt!", sagte Kalessan.
Smahug hob abwehrend die Hände: "Nein! Nicht in diesem Tonfall! Ich möchte zuerst das Zauberwörtchen hören!"
"Abrakadabra!"
"Du weißt, welches Wort ich meine!"
"Er hat es doch eben gerade gesagt!", stöhnte Kalessan und deutete auf Karlmax.
"Ich möchte es aber von dir hören!"
Kalessan seufzte: "Würdest du BITTE zu diesem Tisch dort gehen, BITTE das Schlüsselbund welches dort liegt aufnehmen, dich BITTE zu dieser Tür dort drüben bewegen und sie dann BITTE abschließen, WEIL UNSER VERDAMMTES LEBEN DAVON ABHÄNGT!"
"Aber natürlich, mein Freund!", antwortete Smahug fröhlich und setzte sich in Bewegung.
"Oh…das ist so erniedrigend!", stöhnte Kalessan.
Smahug probierte einige der Schlüssel aus und fand schließlich den richtigen. Kurz nachdem er ihn umgedreht hatte, wurde die Klinke von der anderen Seite heruntergedrückt.
Smahug rief: "Hahaahaaa, wir haben dich eingeschlossen, du Bösewicht!"
Esöb antwortete: "Och Mist…dann geh ich halt noch mal auf die Toilette…"
Kalessan und Karlmax befanden sich wieder auf dem Weg zur Oberfläche.
Hinter ihnen liefen die neun nun mehr als aufgeweckten Mitglieder des Rates. Sie benahmen sich wie Kinder, die gerade durch das größte Spielwarengeschäft der Welt liefen – und dabei war es nur eine stinkende Kanalisation…
"Was war eigentlich der Grund für ihren langen Aussetzer vorhin?", erkundigte sich Kalessan.
"Ich vermute, dass sie sich in einem inneren Konflikt befanden, in dem ihre alten Erinnerungen und ihr neues, menschliches Ich gegeneinander ankämpften. Eine Vergangenheit als Drache und eine Zukunft als Mensch lässt sich nunmal nicht unter einen Hut bringen. Nun, das Ergebnis dieses Konfliktes liegt hier gut sichtbar vor uns. Sie scheinen nun hyperaktiv zu sein und all die neuen Eindrücke in sich aufzunehmen, als müssten sie ihr verlorenes Gedächtnis mit Erinnerungen aller Art füllen…"
"Aber du bist dir sicher, dass sie ihre Erinnerungen von vor der Verwandlung alle wieder zurück erhalten?", fragte Kalessan.
"Ich bin mir in gar nichts sicher – ich bin mir nicht einmal mehr sicher, ob man sie überhaupt zurückverwandeln kann!", kam Karlmax‘ Antwort.
"Du wirst ja richtig aggressiv, Kleiner – so gefällst du mir!", erwiderte Kalessan mit einem Grinsen.
"Und warum geht es euch auf einmal wieder so gut? Ihr hört euch nicht so an, als wäret ihr noch vor einigen Minuten kurz davor gewesen, eure Existenz aufzugeben…", fragte Karlmax.
"Du hast Blutgruppe 0 negativ?"
"Woher…"
"Meine Lieblingsblutgruppe – lass es mich so sagen: Dafür lohnt es sich wirklich, weiter als Drache zu existieren!", antwortete Kalessan weiterhin grinsend. Dann wurde er schlagartig ernst, blieb stehen und sah Karlmax lange und seltsamerweise völlig ohne Aggressivität im Blick in die Augen.
"Danke!", sagte er dann – und ging weiter.
Karlmax sah ihm nach.
An der Oberfläche angekommen machten sie sich auf die Suche nach dem erstbesten Stall, der Pferde verleihen konnte. Auf dem Weg zu "Rudy’s Rappen" in der Stinkegasse, dem einzigen Pferdestall der auch richtige Pferde anbot, kamen sie einmal mehr an dem großen Platz vor der Magierakademie vorbei. Auf dem Platz stand eine derartig große Menschenmasse, dass es unmöglich war, den Platz zu überqueren, wenn man nicht gerade ein Bulldozer war.
Die Menge bestand nahezu ausschließlich aus menschlichen Männern im jungen bis mittleren Alter, die alle in voller Rüstung und bewaffnet waren. Sie standen halbkreisförmig um den Eingang der Magierakademie. Alle schauten einen kleinen Holzpodest vor dem Eingang an, auf dem ein Redner stand – es war Saurudalf.
Mit lauter Stimme verkündete er etwas: "…und deswegen benötige ich mindestens ein Viertel von euch, damit wir uns zusammen einen Weg durch die Armee schlagen können. Diejenigen unter euch, die diese Aktion überleben, werden reich belohnt werden!"
Karlmax fragte einen in der Nähe stehenden Soldaten: "Was ist denn los? Was für eine Armee meint er?"
"Neudorf wird von der Armee des Schräckelichen Haramasch belagert. Seine Truppen haben bereits die gesamte Stadt umzingelt und man kann nun weder in sie hinein noch aus ihr heraus…deswegen möchte der Bürgermeister jetzt losziehen, um Hilfe zu holen. Doch dazu braucht er halt ein paar Männer, um sich eine Schneise zu schlagen."
"Aber wie kann so eine Armee unbemerkt bleiben? Warum wurden wir nicht vorgewarnt?"
"Keine Ahnung…wahrscheinlich haben all die Händler, Kundschafter und Reisenden nur wieder vergessen, uns davon zu erzählen – das hatten wir schon einmal.", der Soldat zuckte mit den Schultern.
"Wie groß ist denn Haramaschs Armee?"
"So an die 1.000 Mann…"
"Hm, das geht ja noch.", erwiderte Karlmax erleichtert.
"Ja, wenn man die restlichen 99.000 Amazonenkämpferinnen seiner Armee nicht mitzählt – die sind alle anscheinend völlig begeistert von Haramasch…"
Karlmax klappte die Kinnlade herunter.
Kalessan sagte: "Diese Armee ist kein Problem für uns, sobald wir unsere Magie wieder haben. Komm mit!"
Er packte Karlmax am Ärmel und zog ihn mit sich durch die Menge – die anderen Drachen folgten brav. Wenigstens gab es diesmal wirklich was zum Glotzen…
Nach einigen Minuten voller Schubsen und Drängeln gelangte Kalessan mit seinem Anhang dem Holzpodest schon sehr nahe. Leider fielen die Drachen mit ihren farbigen Roben in der Menge so stark auf, wie ein Pottwal im häuslichen Wohnzimmer. Ihre Ankunft blieb bei Saurudalf also nicht unbemerkt.
"Ihr da! Bringt mir diese komischen Vögel in ihren bunten Roben hier her und haltet sie hier fest!"
Wenige Sekunden später sahen sich die Drachen mit Saurudalf konfrontiert und von einer Horde feindlicher Soldaten umzingelt.
"Ich weiß nicht, wie ihr euch befreien konntet…aber ich werde euren Tod nicht weiter hinauszögern! Soldaten! Bringt sie um! Hier und jetzt, vor meinen Augen!", rief Saurudalf.
"Aber Herr, warum sollen wir sie umbringen? Sie haben euch doch gar nichts getan!", erwiderte einer der Soldaten. Die anderen nickten zustimmend.
"Doch, haben sie – was wagt ihr eigentlich, meine Autorität in Frage zu stellen!?"
"Wir möchten ja nur wissen, was sie euch getan haben."
"Siiieee…sind bei mir eingebrochen und…und haben versucht mich zu bestehlen.", Saurudalf war sichtlich stolz darauf, dass er seinem Publikum zumindest eine Halbwahrheit präsentiert hatte.
"Wir wollten uns aber nur das zurückholen, was uns gehört!", schrie Kalessan den Magier an.
Einer der Soldaten sah den Drachen an und wieder zu Saurudalf zurück: "Stimmt das, was er sagt?"
Saurudalf lief rot an: "DAS IST DOCH WOHL VÖLLIG EGAL, JETZT BRINGT DIESE MISTKERLE ENDLICH UM!"
"Oh nein, so kommen wir erst gar nicht ins Gespräch.", antwortete der Soldat und wandte sich wieder an Kalessan, "Was hat euch Saurudalf denn abgenommen?"
"Wenn ich dir erzählen würde, dass ich und meine neun farbigen Kollegen hier Drachen sind, deren Magie von Saurudalf gestohlen wurde, wodurch sie jetzt in diesen Menschenkörpern feststecken – würdest du mir dann glauben?"
Der Soldat schrak zurück: "Das ist ja ein unglaubliches Vergehen! Werter Bürgermeister, bevor wir euch in eurem Vorhaben unterstützen können, muss ich euch eindringlich darum bitten, diesen Herren hier ihre Magie zurück zu geben!"
Saurudalf sah so aus, als würde er gleichzeitig kurz vor dem größten Heulkrampf und dem schwersten Wutausbruch in der Geschichte der Menschheit stehen.
So ist es äußerst bewundernswert, dass er es schaffte, sich zusammenzureißen. Jedenfalls schrie er nicht groß herum und brachte alles um, was ihm im Wege stand.
Vielmehr hob er beide Hände. Sie begannen zu leuchten.
"Vielleicht kann ich euch Drachen mit Magie nicht verletzten – aber eurem Freund und dem Großteil der anderen Menschen hier würden ein paar ordentliche Stromschläge sicherlich…schlecht tun. Deswegen tut ihr alle gut daran, mich jetzt durch zu lassen – und wehe euch, ihr versucht, mich anzugreifen oder ihr verfolgt mich…ihr möchtet nicht wissen, was dann passiert!", sagte er.
Kalessan schnaubte verächtlich. Sollte er jetzt der Beschützer dieser Menschen sein? Das wurde wirklich immer und immer besser… Er tröstete sich jedoch damit, dass seine eigene magische Immunität nun wahrscheinlich auch verschwunden sein würde und trat beiseite.
Eine kleine Gasse bildete sich in der Menge. Saurudalf bewegte sich zügig durch die Masse, die Hände leuchtend im Anschlag gehalten. Am Rande des Platzes angekommen, rannte er los.
"VERDAMMT!", schrie Kalessan und stampfte mit dem Fuß auf.
Karlmax versuchte, ihn zu beruhigen: "Ruhig Blut, Kalessan! Er kann ohne Hilfe nicht aus der Stadt raus, er ist uns hier ausgeliefert."
"Du vergisst den netten Herrn Haramasch und seine Feministentruppe, Kleiner. Allzu viel Zeit haben wir in dieser Hinsicht sicherlich nicht mehr."
Die Menge auf dem Platz begann sich langsam aufzulösen – die Soldaten waren anscheinend auf dem Weg, um die Stadtmauern zu bemannen und der aufkommenden Belagerung zu trotzen.
Karlmax sagte: "Das mit dem Krieg lasst mal meine Sorge sein!"
Er stieg auf den Podest und richtete sich lauthals an die Menge: "Ähm…Hallo? Könnte mir mal bitte jemand zuhören?"
Jemand in der Menge schien ihn tatsächlich bemerkt zu haben: "Hey Leute, schaut mal, da steht noch jemand auf dem Podest!"
Zustimmende Rufe ertönten aus anderen Teilen der Masse: "Ja, stimmt!", "Der hat sicher was zu sagen!", "Komm, sprich zu uns!", "Ja, genau, sprich zu uns!"
Der Platz füllte sich wieder genauso schnell mit Soldaten, wie er sich geleert hatte – anscheinend war jede Möglichkeit, die unangenehme Arbeit auf der Mauer noch ein wenig hinauszuzögern, äußerst willkommen.
"Ähm…hört mich an, oh Soldaten von Neudorf!", rief Karlmax in übertriebener Betonung.
Ein Blick in die Menge verriet ihm, dass diese Art der Rede nicht sehr gut ankam. Also machte er normal weiter: "Passt auf, ich weiß, wie ihr die Invasion auf unsere Stadt verhindern könnt!"
"Hört hört!", kam die Antwort aus dem Publikum.
"Diese letzten 24 Stunden hat mir eines klar gemacht: Die physische Projektion des eigenen Ich ist rückkoppelnd auf die Gedanken des betroffenen Individuums!"
Stille.
Kurze Ansätze eines halbherzigen "Hört…" waren zu vernehmen.
"Ähm…was ich sagen möchte, ist: Das, was man glaubt zu sein, das ist man auch. Das, was man weiß, das kann auch nicht falsch sein. Wenn wir jetzt einfach annehmen…nein, wenn wir wissen, dass diese Armee gar nicht da draußen steht – dann wird sie auch nicht mehr da sein, wenn wir nachsehen. Jetzt wissen wir noch, dass Haramasch mit seinen Horden da draußen wartet. Wenn wir jetzt anfangen zu wissen, dass alles seinen gewohnten Gang geht, dann kann doch gar keine Barbarenhorde existieren. Denn wir wissen, dass sie nicht existiert!", Karlmax‘ Versuch den Soldaten seine Gedankengänge zu erklären war ähnlich hilflos wie der eines Hochschullehrers, der Quantenphysik in einer Vorschulklasse unterrichten soll.
Dennoch sprangen die Soldaten auf seinen Vortrag an – wenn auch nicht so, wie sich Karlmax das vorgestellt hatte: "Hey, der Typ da scheint intelligent zu sein, das stimmt sicher, was der sagt!", "Ja, genau!", "Hey, ich weiß gar nichts von eine Barbarenhorde, die vor unserer Stadt campt und uns zu überrennen droht!", "Was für eine Barbarenhorde?"
Die Menge begann sich auf unter fröhlichem Gelächter aufzulösen.
Kalessan stellte sich neben Karlmax. Aus der absoluten Leere seines Gesichtsausdruck konnte man nur ansatzweise das herauslesen, was er über das eben Gesehene dachte.
Er sagte zu Karlmax: "Eine Frage…eine einzige Frage, dich mich Zeit meines Lebens beschäftigt hat: Ihr existiert erst seit wenigen Jahrtausenden. Ihr vermehrt euch schneller als die Karnickel. Ihr nehmt mit euren Städten und Burgen drei Viertel der gesamten Landmasse des Planeten ein. Ihr seid die erfolgreichste Spezies, die diese Welt je hervorgebracht hat…
Warum?"
Karlmax sah ihn an und lächelte – es war, als ob die Rollen getauscht wurden – und sagte: "Wir wissen halt sehr viel…"
Und dann stand Esöb vor ihnen. Er hatte eine riesige Armbrust in der Hand. Wie man unschwer erkennen konnte, war sie jedoch ein wenig modifiziert: Die Waffe war mit lauter Zahnrädern versehen und hatte statt einem Abzug eine große Kurbel, sowie ein langes, ledernes Band, welches an der Seite des Geschützes herunter hing und in dem viele weitere großkalibrige Armbrustbolzen steckten.
Er trieb die Drachen auf dem Podest zusammen und begann, böse zu grinsen.
"So…ich denke mal, ich habe jetzt die Erlaubnis von Saurudalf bekommen, euch mit meinem kleinen Baby hier umzulegen. Noch ein paar obligatorische letzte Worte?"
Kalessan bemerkte ein vertrautes altes Aufblitzen über sich und sah nach oben. Dann rief er: "Ja: ALLE IN DIE AKADEMIE!"
Esöb sah ebenfalls nach oben – diesmal war das Blitzen nicht einfach, sondern gleich dutzendfach. Und während sich die Drachen in die Akademie zurückzogen, fluchte er seine eigenen letzten Worte: "Oh, diese verdammten Studenten!"
Und dann war da wieder dieses wundervolle Geräusch:
Wupwupwupwupwupwupflatschpling
wupwupflatschpling
wupflatschpflatschplingpling
wupwupwupflatschpling
Es sah aus wie eine realistische Version des Märchens vom Sterntaler.
Die Drachen beobachteten das Schauspiel teils angewidert, teils belustigt.
Kalessan sagte: "Diese Studenten gefallen mir…sie haben genau das richtige Timing!"
Zur gleichen Zeit, außerhalb der Stadt:
Die gigantischen Horden des schräckelichen Barbaren Haramasch bereiteten sich auf ihren Sturm auf Neudorf vor.
Junge Männer machten sich bereit, für ihren Führer in den gegnerischen Pfeilhagel zu laufen und schoben den riesigen Rammbock in Richtung des großen Holztores der Stadt. Hinter ihnen folgten die ersten Wellen von Kriegerinnen und Bogenschützinnen.
Über Steine und Äste rollte der gigantische Baumstamm, auf welchem vorne ein Eisenkopf in Form eines riesigen Geschlechtsteiles aufgesteckt war – das Zeichen des Schräckelichen Haramasch. Es hatte schon seine Gründe, warum ihm die Frauen wortwörtlich in Scharen hinterher liefen.
Die Männer hatten das Stadttor erreicht. Auf Kommando holten sie mit dem schweren Baumstamm aus und ließen ihn gegen das Tor krachen. Die Erschütterung und der Lärm mussten durch die gesamte Stadt zu hören sein.
Ein weiteres Mal schmetterte der eiserne Wille Haramaschs gegen die schutzlosen Tore Neudorfs. Da rief einer der Männer, die das Gerät bedienten: "STOP! STOP! Ist euch eigentlich nichts aufgefallen?"
"Hey, an dem Rammbock da vorne steckt ja ein…"
"Nein, das meine ich nicht, Idiot! Wir müssten doch jetzt eigentlich von siedendem Öl übergossen und von Pfeilen überschüttet werden, oder?"
Zustimmende Rufe ertönten von den anderen Männern. Der Redner ging ein paar Schritte zurück, hob die Hände trichterförmig vor den Mund und rief lauthals: "HAAALLOOO! IHR DA! GEHT ES LANGSAM MAL LOS HIER?"
Keine Antwort.
"IST ÜBERHAUPT JEMAND ZU HAUSE?"
Keine Antwort.
Der Mann stapfte wieder zurück zu seinen Kollegen.
"Na toll, keiner da. Da gibt es endlich mal eine Sache, für die man ordentlich sterben kann und dann…"
"Ja, genau! Ich hatte mich schon so gefreut, heldenhaft für die Eroberung dieser Stadt draufzugehen."
"Und meine Familie braucht das Geld von meiner Lebensversicherung!"
"Von deiner was?"
"Ähm…das ist, wenn…wenn…wenn du…nein…ähm, pass auf, das funktioniert so: Wenn du…ähm…stirbst und du…und du so eine Versicherung…ähm…äh…ach, vergiss es!"
"Was ist hier eigentlich los, ihr maskulinen Faulpelze?", brüllte eine heran marschierende Kommandantin.
"Die Neudorfer wollen nicht kämpfen!"
"Was?"
"Die reagieren einfach nicht auf unsere Attacken!"
"Ist doch wunderbar, da bleibt ihr noch ein bisschen länger am Leben."
"So macht es aber keinen Spaß!", sagte einer der Soldaten enttäuscht.
"Hm…da hast du auch wieder Recht.", stimmte die Kommandantin zu.
"Und was machen wir jetzt?"
"Tja, ich würde sagen, diese Party ist gelaufen…kommt, wir suchen uns eine andere Stadt – ich sage noch schnell Haramasch Bescheid!"
"In Ordnung!", "Bis nachher!", "Tschau!", "Ssih Juh!", "Wir sehn uns!", "Bai bai!"
Es war eine fröhliche Soldatentruppe.
Kalessan schaute vorsichtig über die Mauer.
"Ich glaube es einfach nicht – die ziehen tatsächlich ab! Woher zur Hölle wusstest du, dass das passieren würde?"
Karlmax zuckte mit den Schultern: "Einen Versuch war es doch wert, meint ihr nicht auch?"
Jemand zupfte ihn am Gewand: "Ähm…Entschuldigung?
"Was ist…Neidhöcker?"
"Mooooment! Woher willst du wissen, dass das da Neidhöcker ist und nicht Droca?", unterbrach ihn Kalessan.
"Aber ich bin Neidhöcker!"
Karlmax schaute Kalessan verwirrt an: "Das ist doch eindeutig. Er hat eine viel größere Nase als Droca, außerdem ist seine Stirn leicht gewölbt und er hat ein gut sichtbares Grübchen im Kinn. Mal ganz davon abgesehen, dass seine Haare blond und Drocas Haare eher dunkelblond sind… Das Einzige, was die beiden verbindet, ist die Farbe ihres Gewandes. Obwohl…Neidhöckers Robe ist eher bronze- und Drocas kupferfarben…"
"Ist dir gerade klar geworden, dass du das erste Wesen bist, das die beiden mit 100%iger Genauigkeit voneinander unterscheiden konnte?"
"Ähm…hallo?", sagte Neidhöcker, "Darf ich auch noch was sagen?"
"Jaja, nur zu…", antwortete Kalessan.
"Wir suchen doch nach diesem Saurudalf…wie wollen wir ihn jetzt finden?"
"Ich denke, wir sollten uns auf den Weg zu ‚Rudys Rappen‘ machen und versuchen, Saurudalf dort abzufangen."
Wenige Minuten später kamen sie an besagtem Ort an.
Es handelte sich…um einen Stall.
Ein ganz normaler Stall.
Er war im fackwerklichen Stil erbaut und hatte eine große, klassische Holztür als Eingang.
Keine architektonischen Verrücktheiten.
Keine durchgedrehten Menschen, die vor dem Stall herumliefen, noch durchgedrehtere Sachen machten und gar unaussprechliche Dinge taten.
Ein ganz normaler Stall.
Kalessan mochte den Stall.
An der Tür hing ein Schild:
Rudys Rappen
Inhaber: Rudy Maphrodit
Kalessan, Karlmax und der Rest betraten das Gebäude.
Es roch nach Pferd. Und auch ein wenig nach Eseln, Schweinen und zu groß geratenen Hunden. Sie alle standen in ihren Boxen rechts und links neben dem Hauptgang, welcher an einer Art Theke endete.
Dahinter stand ein muskulöser, ungewaschener und unrasierter Mann.
Der Stall war schon fast zu klassisch.
Karlmax sagte: "Hallo…ich nehme an, ihr seid Rudy?"
"Nennt mich Maphrodit!", kam die barsche Antwort.
"In Ordnung, Herr Maphrodit. Wir wollten nur fragen, ob hier vor kurzem ein junger, recht unauffällig gekleideter Mann vorbei gekommen ist."
"Geht’s vielleicht ’n bisschen präziser, Freundchen? Junge Männer, die unauffällig gekleidet sind, kommen hier nicht gerade selten vorbei."
"Ähm…wisst ihr zufällig, wie der Bürgermeister aussieht?"
"War vor ’ner Viertelstunde hier, der gute alte Saurudalf. Wollte mein schnellstes Pferd hab’n. Hab ihm hundert Goldstücke dafür abgeknöpft. Dabei sind se doch alle gleich schnell!", Herr Maphrodit lachte.
"Dann gebt uns euer zweitschnellstes Pferd!"
"Das kostet euch 90 Goldstücke!"
"20 Goldstücke!", warf Kalessan ein und setzte sofort seinen Lieblingsblick auf.
Herr Maphrodit zeigte sich allerdings als äußerst widerstandsfähig…
"Lass nich mit mir fälschen!"
Das verwirrte selbst Kalessan. Doch zum Glück kam ihm Tjamat zu Hilfe.
"Ooohhh, schaut mal, das süße Hündchen da!", sagte sie…er zu einem riesigen, bellenden Dobermann, der angestrengt an seiner Kette riss und versuchte, ihm die Kehle rauszureißen.
Der Fakt, dass da gerade eine Frau mit der tiefsten Bassstimme sprach, die Herr Maphrodit je gehört hatte, ließ dessen Unterkiefer runterklappen und brach seine psychische Widerstandskraft gegenüber Kalessans "Tu was ich die befehle!"-Blick. Diese taktische Schwäche wurde sofort ausgenutzt.
"10 Goldstücke!"
Herr Maphrodit nickte wortlos und murmelte: "Box 4…"
Kalessan sagte zu Smahug: "Du regelst das mit der Bezahlung. Zur Not bleibst du einfach so lange hier, bis ich wieder zurückkomme, ja?"
"In Ordnung, mein Freund!", antwortete dieser fröhlich.
Kalessan verzog säuerlich das Gesicht, drehte sich dann um und ging zur besagten Box. Karlmax folgte ihm.
"Was ist?", fragte Kalessan.
"Darf ich nicht mitkommen?"
"Zu zweit sind wir viel zu langsam – ich reite alleine."
"Aber ihr kennt nicht die geheime Abkürzung durch den Wald, so wie ich…", antwortete Kalessan mit einem Grinsen.
"Sag mal, woher kennst du eigentlich immer die beste Abkürzung, den exakten Weg zum Ziel und die richtige Erklärung für alles?"
"Wenn man nicht der Stärkste oder Schnellste ist oder enorme magische Fähigkeiten, sowie einen eisernen Willen oder wirtschaftliches Geschick hat, dann hat man in dieser Stadt keine Chance zu überleben. Also schafft man sich so viel Wissen an wie möglich, um den Großen und Starken nützlich zu sein."
Kalessan seufzte: "Wenn doch nur alle Menschen eine solche Einstellung hätten… Steig auf!"
Ihm gefiel diese Abkürzung nicht. Äste peitschten gegen sein Gesicht und Zweige rissen seine Kleidung auf. Warum musste er eigentlich reiten? Ach ja, weil Karlmax nicht reiten konnte – selbst er als Drache konnte das! Ein Transportmittel, das man fressen konnte, hielt er für eine praktische Erfindung.
Nach einer Ewigkeit, wie es Kalessan schien, kamen sie aus dieser Hölle von einem Wald heraus und auf offenes Gelände.
"Wohin jetzt?", rief Kalessan.
Doch sein Reitpartner antwortete nicht.
Der Drache drehte sich um, blieb jedoch bei der Hälfte der Drehung stecken. Genau parallel zu ihnen, vielleicht 50 Meter entfernt, ritt Saurudalf und starrte sie genauso dämlich an wie sie ihn. Dennoch reagierte er früher und gab seinem Pferd die Sporen.
Die Verfolgungsjagd ging nun über das offene Feld.
Saurudalf hatte sein Pferd anscheinend bereits ziemlich verausgabt, denn obwohl Kalessan und Karlmax zu zweit auf einem Ross saßen, gelang es ihnen, immer weiter und weiter aufzuholen.
Sie kamen näher und näher, bis auf eine Entfernung von 5 Metern, da schlug Saurudalf einen Haken und vergrößerte den Abstand wieder.
So ging das Spiel eine Zeit lang weiter. Immer wieder holten Kalessan und Karlmax auf. Ab und zu kamen sie sogar so nah heran, dass Karlmax nach Saurudalf greifen konnte. Doch dieser schlug immer wieder plötzliche Haken, was einmal sogar zur Folge hatte, dass Karlmax fast aus dem Sattel fiel.
Schließlich kamen Verfolger und Verfolgter an einen Fluss, der über eine Furt durchquert werden konnte. Saurudalf ritt vor und drehte am anderen Ufer um. Er hob etwas in die Luft – es war das Prettschett.
Er rief: "Wenn ihr ihn haben wollt – dann kommt und verlangt nach ihm!"
Karlmax rief zurück: "Heißt es nicht das Prettschett?"
Kalessan sagte zu ihm: "Können wir solche Debatten jetzt wohl mal bitte außen vor lassen?"
Dann ritt er los, durch die Furt. Auf halbem Wege hob Saurudalf auf einmal den anderen Arm und begann, einen seltsamen Singsang aufzusagen. Gleich darauf war ein lautes Rauschen zu vernehmen.
Kalessan ritt weiter, doch das Rauschen wurde schnell immer lauter und lauter. Mit letzter Kraft schob sich sein Pferd aus dem Fluss hinaus. Der Drache stürzte sich sogleich auf seinen Widersacher.
Die beiden Pferde gingen zu Boden.
Nach ein paar Sekunden legte sich der Staub.
Kalessan hatte Saurudalf am Boden festgenagelt. Dieser schaute ihn völlig verwirrt an: "Das…das ist aber nicht richtig! Ihr solltet voller Erstaunen in dem Fluss warten und dann hilflos von der gigantischen Flutwelle weggespült werden…"
Kalessan drehte sich um. Das Rauschen, das er gehört hatte, war nur der Wind gewesen. Doch da war auch eine Flutwelle. Sie war knapp einen Meter hoch.
"Ich bin beeindruckt…", sagte er. Dann holte er aus und schlug Saurudalf mit der Faust ins Gesicht, sodass dieser sofort bewusstlos wurde.
"Ähm…hallo? Könnt ihr mir mal helfen?", fragte Karlmax, der bäuchlings unter dem Pferd begraben lag.
Kalessan hörte nicht auf ihn. Er nahm das immer noch blau leuchtende Prettschett in die Hand und betrachtete es kurz.
Karlmax sah, wie er es zu Boden schmetterte und wie es zerplatzte. Das blaue Leuchten, das vorher immer so intensiv gewesen war ging in die Luft über und wurde sofort von Kalessans Körper aufgesogen. Die Bedienung des Prettschetts war doch einfacher, als er gedacht hatte…
Wie ein gigantischer Wirbelsturm rotierte die blau gefärbte Luft um den Drachen, ohne jedoch einen Ton hervorzubringen. Es war, als betrachtete man einen spektakulären Effektfilm, den man vorher auf "Stumm" geschaltet hat. Schon bald war nichts mehr von dem blauen Licht in der Luft um Kalessan vorhanden.
Und dann verschwand die Sonne.
Nein, sie verschwand nicht – sie war einfach weg.
An ihrer statt erhob sich eine riesige gelbe Mauer vor Karlmax‘ Augen. Es war Kalessans Unterbauch.
Der Drache hatte seine Flügel weit ausgebreitet und das Sonnenlicht schien durch die relativ dünnen Membranen.
Seine Arme hielt er so, als ob er die Welt umarmen wolle.
Die Augen waren geschlossen.
Es war die Pose, die Menschen einnahmen, wenn sie nach einem sehr langen und sehr unfreiwilligem Aufenthalt unter der Erde endlich mal wieder an die Erdoberfläche kamen und die Sonne sehen konnten.
Dann ertönte die Stimme des Drachen. Wie eine mächtige Orkanböe drückten die erzeugten Schallwellen Karlmax zu Boden.
"JAAAAA – DAS IST MACHT!"
Kalessan schlug die Augen wieder auf. Sein Blick fiel auf Karlmax. Mit einer Handbewegung schleuderte er das erschöpfte Pferd von seinem Körper herunter.
Der kleine Mensch rappelte sich auf und betrachtete den Drachen mit offenem Mund von oben bis unten.
"Ihr…ihr seid wunderschön…", hauchte er.
"Schön für dich, Wurm!", antwortete das gigantische Wesen in leiserem Tonfall, was allerdings auch schon ausreichte, Karlmax wieder zu Boden zu schmettern.
Der Drache machte nicht einmal eine Bewegung mit der Klaue, als er den Menschen in die Luft hob, welcher sich nun, von unsichtbaren Händen getragen, in einer Höhe mit Kalessans gigantischem Gesicht befand.
Das Gesicht grinste – Karlmax lächelte zurück.
"Du denkst also wirklich, ich hätte mich geändert…", sagte der Drache, diesmal in einem Tonfall, der in Karlmax‘ Ohren keine bleibenden Schäden hinterließ.
Das Lächeln auf dessen Gesicht erstarb sofort und wich einem verwirrten Blick.
"Was…was meint ihr damit?"
"Oh, komm schon – ich hatte dich für intelligenter gehalten. Denkst du wirklich, du kannst einen 3000 Jahre währenden Persönlichkeitszug von mir einfach umpolen? Ich dachte eigentlich immer, deine Naivität wäre nur oberflächlich. Jetzt hat sie dich in den Tod getrieben…"
"Ihr…ihr wollt mich jetzt umbringen? Einfach so umbringen? Ich habe euch das Leben gerettet! Ich habe euch eure Existenz bewahrt! Ohne mich wäret ihr gar nicht in der Gestalt, in der ihr euch momentan befindet!"
Kalessan lachte: "Oh, aber Selbstbewusstsein hast du dazu gewonnen – bravo! Weißt du…ich bin dir sehr dankbar, dass du mir mein Leben gerettet hast. Ich bin dir aber noch dankbarer für die erste richtige Mahlzeit seit langem, die du mir abgeben wirst. Und natürlich für dieses wunderbare Geschenk…diese unbändige Kraft, die nun durch meinen Körper fließt…"
"Ihr werdet den anderen Drachen ihre Magie doch zurückgeben…oder?"
"Ha, deine Naivität kennt wirklich keine Grenzen! Schau dir diese Trottel doch an! Einer ist unfähiger als der andere, kaum sind sie von dieser Kraft getrennt. Sie vergraben sich in sich selbst und akzeptieren ihr Schicksal – sie kämpfen nicht für ihre Existenz. Ich bin der Einzige, der würdig ist für diese Macht!"
"Aber…aber…", stammelte Karlmax, "Aber es ist nicht richtig! Es kann nicht einer alleine die gesamte Verantwortung übernehmen. Es kann nicht nur eine Meinung vertreten sein, eine Herrschaft oder ein überautoritäres Wesen."
"Deine kleinen Theorien können mir absolut egal sein, Wurm. Du warst zwar ein ganz schlaues Kerlchen, aber es kann mir egal sein, was die Welt über mich denkt. Was wollen sie denn alle gegen mich unternehmen? Endlich habe ich die Freiheit, zu tun und lassen, was ich will, unabhängig von den Entscheidungen irgendeines Rates und ohne die Möglichkeit, dass mir jemand in meine Angelegenheiten pfuscht!"
"Nun gut, dann fresst mich! Doch ich prophezeie euch eins: Wenn ihr nicht im Sinne eurer Untergebenen handelt, wovon ich stark ausgehe, dann werden sie sich eines Tages gegen euch aufheben – allesamt! Alle intelligenten Völker und Wesen dieses Planeten werden sich gegen euch auflehnen. Und dann habt ihr nur zwei Möglichkeiten: Entweder, sie finden einen Weg, euch umzubringen. Oder ihr schafft es, sie alle zu vernichten. Doch sagt mir: Lohnt es sich, alleine auf der Welt zu sein? Was nützt es, über die gesamte Welt zu herrschen, wenn es nichts mehr gibt, worüber man herrschen könnte? Eines Tages werdet ihr das einsamste Wesen auf diesem Planeten sein und dann werdet ihr wünschen, mich nicht gefressen und den Rat gerettet zu haben. Ich weiß, dass auch ihr von anderen Wesen abhängig seid. Ihr habt doch immer jemanden gebraucht, mit dem ihr euch auseinandersetzen konntet. Ich weiß, dass ihr die Konversationen und Streitigkeiten mit euren Kollegen im Grunde immer gemocht habt. Ohne sie wird es euch schnell langweilig werden."
Kalessan schnaubte: "Und woher willst du das wissen, Würmchen?"
"Ich weiß es einfach. So etwas habe ich im Gefühl! Und jetzt: Bringt es hinter euch!"
Karlmax Stimme zitterte kein bisschen – das tat schon sein Körper. Und sein Blick sah eisern in die gelb glühenden Abgründe seines Gegenübers, so wie es vor ihm noch niemand getan hatte.
Kalessan war beeindruckt.
"Ich bin beeindruckt!", sagte er, "Du versuchst nicht weiter, mich irgendwie umzustimmen. Du flehst nicht um dein Leben. Du bettelst nicht um Gnade oder um einen schnellen Tod, weil du weißt, dass es keinen Sinn hat. Ich bin nicht dumm, musst du wissen…und ich weiß, dass alles, was du gerade gesagt hast, vollkommen richtig ist."
"Also…was werdet ihr jetzt tun?", fragte Karlmax.
Kalessan lächelte.
"Sagt, werter Herr, was ist das da für ein Ding, was ihr in den Händen haltet?", fragte Tjamat den Herrn Maphrodit höflich.
"Dassis ’ne Armbrust, du Ausjeburt der Hölle! Noch ein Wort von dir und ich drück‘ ab!", antwortete dieser nicht ganz so höflich.
"Und was passiert dann?", erkundigte sich Smahug, der sich genähert hatte, um das interessante Gerät zu betrachten.
Herr Maphrodit wich sofort zurück an seine Theke.
"Und ihr andern bleibt mir auch fern, oder ’s setzt für euch auch was, ihr Diebe!"
"Was ist ein Dieb?", fragte einer der restlichen Drachen mit kindlicher Neugier.
"Seid’s ihr vollkommen bescheuert oder was? Ihr wisst jenau, dass ihr mir noch Geld schuldet…150 Goldstücke!"
"Geld?"
"Schon mal g’sehn?", fragte Herr Maphrodit sarkastisch, als er eine golden glänzende Münze aus der Tasche zog.
Die Drachen schraken sofort auf, wichen vor dem kleinen Geldstück zurück und betrachteten es furchtvoll.
"Nehmt dieses schreckliche Mordinstrument sofort weg von uns! Wollt ihr uns etwa Schaden zufügen?", rief Smahug ängstlich aus.
"Wat?"
"Wir haben vorhin gesehen, wie ein Mensch damit umgebracht wurde – bitte…tut uns nichts!"
Das löste bei Herrn Maphrodit einen Geistesblitz aus, wie er nur äußerst gerissenen und geldgierigen Geschäftsleuten kommen kann. Zur Probe hielt die Münze noch ein wenig weiter von sich, was sofort zur Folge hatte, dass die Drachen noch ein wenig weiter zurückwichen. Er legte die Armbrust auf seine Theke und bewegte sich langsam auf die Gruppe der neun verschüchterten Drachen zu, die Münze stetig von sich gerichtet.
"Ihr werdet mir jetzt all euer Ge…alle eure Waffen geben, ansonsten werde…ich meine hier benutzen!", rief er aus.
"Oh, bitte…wir sind unbewaffnet!"
"Wat, ihr habt kein Geld dabei?"
"Wir…wir sind friedliebende Leute, wir tragen keine Waffen bei uns!", stammelte Smahug.
"Nicht ma‘ mehr euer Messer?"
"Was auch immer das ist – nein!"
Und wie es der Zufall so will erspähte Herr Maphrodit just in diesem Moment durch die immer noch geöffnete Eingangspforte seines Stalles zwei Männer der Stadtwache vor seinem Laden. Schnell bewegte er sich auf die beiden zu und rief: "Hey, Wachen! Ich hab‘ hier neun Frevler, die ohne Messer herumlaufen und mir noch Geld schulden. Nehmt se sofort fest!"
Die beiden Männer reagierten nicht.
Sie schauten nach oben.
Genauso die vielen Menschen rechts und links neben ihnen.
"Hallo? Könnt’s ihr noch hören?"
Vielleicht lag es ja an der Münze in Herrn Maphrodits Hand…auf jeden Fall stürmte die kleine Menschenmasse, die sich vor seinem Laden angesammelt hatte, auf einmal laut schreiend auseinander.
Die Tiere im Stall begannen zu scheuen und zu schreien.
Die Erde erzitterte und ein lautes Krachen war von draußen zu hören.
"Wat zur…", setzte Herr Maphrodit an. Der Rest seines Satzes ging jedoch in einem ohrenbetäubenden Knirschen und Bersten unter.
Bretter und Holzsplitter fielen auf ihn, seine Tiere und seine neun Kunden herunter. Alle Anwesenden in dem Gebäude warfen sich zu Boden, bis der Holzregen aufgehört hatte.
Herr Maphrodit sah nach oben.
Das Dach des Hauses war nicht mehr vorhanden. Stattdessen türmte sich der Schatten eines gigantischen Drachen über das Gebäude, der sich anscheinend direkt in das Haus nebenan gesetzt hatte und den Inhalt des von ihm aufgebrochenen Stalls fies grinsend betrachtete.
"Da seid ihr ja alle, schön zusammengepfercht auf einen Haufen – wie praktisch!", donnerte seine Stimme über die Stadt und zerstörte noch ein wenig mehr von Herrn Maphrodits Stall.
Und während dieser noch überlegte, ob er von dem Drachen einen Schadenersatz fordern solle, wurde der Kunde, der eine goldene Robe trug, wie von Geisterhand in die Luft erhoben.
Herr Maphrodit beobachtete sprachlos, wie der Mensch immer weiter anstieg, auf den gigantischen Kopf und das riesige Maul des Drachen zu.
Saurudalf erwachte.
Er war anscheinend nicht tot.
Das war ja zumindest schonmal etwas…
Er richtete sich auf.
Anscheinend lag er immer noch neben der Furt, die über den Fluss führte.
Mein Prettschett!, dachte er panisch und betastete hektisch seinen gesamten Körper, sah sich um – und fand ein paar Meter neben ihm die übrig gebliebenen Scherben seiner Kreation.
Er kniete sich hin, nahm einige der Scherben mit beiden Händen auf und ließ sie durch seine Finger auf den Boden rieseln.
"Mein schönes, schönes Prettschett…wie konnte das nur passieren? Was habe ich falsch gemacht? Warum ich? Warum muss immer mir so etwas passieren? WARUM ICH?", schrie er letztendlich laut aus.
"Psst, nicht so laut! Ihr wollt doch nicht wilde Tiere anlocken oder?", ertönte eine Stimme.
"Oh, richtig…Verzeihung! Moment mal…", Saurudalf drehte sich um, "DU?"
"Warum duzt mich eigentlich jeder in dieser dämlichen Geschichte, während alle anderen geihrzt werden?", antwortete sein Sekretär.
"Bitte…was?"
"Ach, vergesst es!"
"Wo ist dieser unsägliche Drache hin? Ich möchte meine Magie wiederhaben!", rief Saurudalf wütend aus.
"Keine Ahnung, er hat mich einfach hier gelassen und ist weggeflogen. Ich bin nur noch hier, um euch einem Gericht zu verantworten, das eine angemessene Strafe über eure Taten verhängen wird."
"Ich habe keine Zeit für solche Spielchen!", knurrte Saurudalf entnervt und machte eine Handbewegung durch die Luft, die zur Folge hatte, dass Karlmax‘ Beine wortwörtlich unter seinem Körper weggefegt wurden.
Er gab einen kurzen Schmerzenslaut von sich und fragte Saurudalf dann erstaunt am Boden liegend: "Hey, wie habt ihr das gemacht?"
"Die Macht ist mit mir…ich bin Magier, du Vollidiot!"
Er machte weitere Handbewegungen. Karlmax drehte sich schnell, ein wenig über dem Boden schwebend, immer im Kreis.
"Du sagst mir jetzt, wo dieser Drache hin ist, ansonsten mache ich hiermit solange weiter, bis das gesamte Blut deines Körpers im Kopf und in den Füßen ist!"
Karlmax‘ Antwort war: "Hui! Juchuu! Das macht Spaß!"
Saurudalf zog ihn mit einer Handbewegung an sich heran und starrte ihn mit wütenden Blicken an.
"Du hältst das Ganze wohl für besonders komisch, nicht wahr? Nun, ich nicht. Also, wo ist der Drache?"
"Ich weiß es nicht!"
"Nun gut…dann brauche ich dich nicht mehr…"
Saurudalf schleuderte seinen Sekretär mit einer starken magischen Handbewegung mehrere Meter weit von sich weg und gegen einen Baum, wo dieser an einem spitzen Ast hängen blieb.
Der Magier lächelte, drehte sich um – und hörte wieder auf zu lächeln. Die Erde bebte kurz, als der gigantische rote Drache rund zehn Meter vor ihm aufsetzte.
Sie erbebte erneut. Direkt hinter ihm hatte sich ein weiterer Drache, diesmal mit goldenen Schuppen niedergelassen.
Dann bebte die Erde wieder.
Und wieder.
Und wieder.
Und immer wieder, als die anderen acht Drachen des Rates sich kreisförmig um ihn postierten und eine riesige, undurchdringliche Mauer aus schuppigen Leibern bildeten.
Der goldene Drache begann zu sprechen: "Seid ihr Saurudalf Roklem, Bürgermeister der Menschenstadt Neudorf und lehrender Magier an der dortigen Magierakademie?"
Aufgrund der für ihn eher ungewohnten Lautstärke wälzte sich der Mensch auf dem Boden hin und her, hielt sich die Ohren zu und schrie in einem hilflosen Versuch, gegen die geballte Dezibelkraft anzukommen, laut "AAAAAAAAAAAHHHH!".
"Was hat er gesagt?", fragte Smahug.
"Ich glaube, er sagte ‚Jaaaaaaaaaaaaa!’", antwortete Vasdendas.
"Müssen denn diese Formalitäten sein? Können wir ihn nicht einfach endlich umbringen?", seufzte Kalessan.
Smahug sagte: "Du hast ja Recht…also, Freunde – auf mein Zeichen! Eins, Zwei…"
Während Smahug diesen Satz sagte, rappelte sich Saurudalf wieder auf.
Ah, so ist es besser!, dachte er sich.
Blut strömte aus seinen Ohren.
Doch warum macht dieser Drache sein Maul auf und zu, ohne etwas zu sagen?
So sehr Saurudalf Rätsel mochte, dieses sollte ihm für den Rest seines Lebens zu schaffen machen und ungelöst bleiben. Unnötig zu sagen, dass dieser Rest nicht mehr sehr groß war.
Denn plötzlich öffneten alle zehn Drachen ihre Mäuler und hauchten ihn an. Ein tödlicher Regenbogen aus Drachenodems ging auf ihn nieder.
Fortan hätte man den Magier Saurudalf in ein Buch der Rekorde eintragen können, hätte es etwas derartiges schon gegeben. Er war der erste Mensch der Welt, der auf sechs verschiedene Weisen gleichzeitig starb.
Er wurde durch die Odems der Drachen gleichzeitig verbrannt, eingefroren, von Säure zerfressen, von einer Giftwolke erstickt, von einem Blitz gebrutzelt und in einer Wolke aus Wasserdampf gekocht.
Das hatte natürlich zur Folge, dass von ihm und einem großen Stück Land rings um ihn herum relativ wenig übrig blieb.
Smahug ergriff erneut das Wort: "So, gute Arbeit Freunde, das wäre erl…Vas? Vasdendas? Geht es dir gut?"
Der messingfarbene Drache saß bebend vor dem verkohlten Stück Land, das einmal Saurudalf gewesen war.
"Ich…ich habe gerade ein lebendes Wesen umgebracht…"
"Tut mir ja sehr leid, dass du so gegen deine Prinzipien ver…"
Vasdendas unterbrach ihn gleich wieder: "Es war…befriedigend…es…es hat mir etwas gegeben, diesen…diesen MISTKERL zu pulverisieren. Na? Gefällt dir das, du…du blöder Mensch du? Na? Willst du mehr davon?"
Und erneut spie er seinen korrosiven Atem auf das ohnehin schon gequälte Stück Land.
"Na? Jetzt bist du nicht mehr so stark, ohne dein Prettschett, hm?"
Er nahm die verbrannte Erde in seine Klauen, warf sie in die Luft und lachte dazu irre.
Während einige der anderen Drachen des Rates versuchten, ihn zu beruhigen, fiel Kalessan etwas ein: "Wo ist denn eigentlich Karlmax?"
"Der hängt da hinten an diesem kleinen Baum.", antwortete Smahug.
"Smahug?"
"Ja?"
"Du hast Recht, er hängt da an dem Baum. An einem spitzen Ast hängt er.", sagte Kalessan.
"Ja, und?"
"Der Ast ist durch seinen Brustkorb getrieben worden."
"Oh…ist er tot?"
Das Paradies war schön.
Karlmax hatte zwar nie an ein Leben nach dem Tod geglaubt, doch hier war es. Eine wundervolle, paradiesische Landschaft mit immergrünen Bäumen, wundervoll duftenden Blumen in den schönsten Farben, großartigem Wetter und idyllischen Seen.
Doch das war noch nicht alles. Als er das Paradies durchstreifte, noch immer in den Sachen, die er bei seinem Tod getragen hatte, traf er auf all die Personen, die ihm in seinem Leben wichtig gewesen waren.
Seine verstorbenen Eltern, seine Geschwister, seine gesamte Familie war dar. Und es bedurfte keiner Worte mehr, um zu kommunizieren – es herrschte einfach ein tiefes, wortloses Verständnis. Lächelnd und lachend zeigten ihm seine Verwandten die schönsten Ecken des Paradieses, führten ihn durch die idyllische Landschaft und durch heimelige Dörfer, in denen die Menschen in ewigem Glück leben konnten.
Und die ganz Zeit dachte dich Karlmax nur eines: Warum bin ich eigentlich nicht schon früher gestorben?
Irgendwann versammelten sich all seine Verwandten rings um ihn herum und lächelten ihn an. Doch etwas Trauriges schwang in diesem Lächeln mit.
Was…was ist?, wollte Karlmax fragen, doch auf einmal gab der Boden unter ihm nach und er fiel. Er konnte noch von unten die Gesichter seiner Liebsten sehen, wie sie ihm nachsahen.
Dann verschwammen ihre Köpfe.
Stattdessen starrten ihn zehn riesige Drachen an.
Und sie alle hatten schrecklichen Mundgeruch.
Außerdem lag er auf einem verkohlten Stück Land. Neben ihm standen ein paar verbrannte, verkrüppelte Bäume.
"Er kommt zu sich!", sagte einer von den Drachen.
"Was…wo…wo sind meine Eltern? Meine Verwandten? Die schöne Landschaft? Bin ich in der Hölle?", stammelte Karlmax.
"Du bist wieder in der Welt der Lebenden.", antwortete der Drache mit dem goldenen Kopf, "Du hast unser Leben gerettet, also retteten wir deines – ist doch ein faires Geschäft, nicht wahr?"
"Ja…", sagte der Mensch resigniert.
"Und so dankt er es uns. Hallo! Wir haben uns alle gerade angestrengt, um dich aus dem Reich der Toten zu holen!", sprach der grüne Drache…Glaureng war sein Name gewesen, richtig.
"Denen geht es irgendwie immer so mies, wenn man sie wieder zum Leben erweckt. Bis jetzt haben sich nur die wenigsten gefreut. Die waren aber genauso wenig dankbar…", erwiderte Adorelon, der Silberne.
So langsam kamen die Erinnerungen Karlmax‘ wieder zurück. Er wandte sich an Kalessan: "So seid ihr meinem Rat also gefolgt!?"
"Andernfalls wärest du bereits seit einigen Stunden verdaut."
"Und…" – Karlmax warf einen Blick auf die anderen Drachen – "Und die anderen hier haben wieder alle ihr Gedächtnis zurück? Sie sind wieder genauso wie vorher?"
"Ich denke schon.", antwortete Kalessan, "Sie haben jetzt nur erstmal keine große Lust, wieder in die Nähe von menschlichen Städten zu kommen…kann ich ihnen nicht verdenken."
"Und jetzt? Was passiert jetzt?"
"Wir werden jetzt alle nach Hause fliegen. Ich erkläre diese Sitzung als beendet! Wir sehen uns in ein paar Jahrzehnten zur Jahrhundertsabrechnung wieder, ja?", sagte Smahug.
Die meisten der Drachen riefen eine Zustimmung, verabschiedeten sich voneinander und schwangen sich in die Lüfte.
"Und das war’s? Mehr nicht? Keine große Abschlussfeier? Sie haben mir nicht einmal mehr gedankt!", rief Karlmax enttäuscht.
"Sie haben ihre Schuld an dich bezahlt. Du bist schließlich auch nur ein Mensch von vielen. In ein paar Jahren bist du eh tot.", erwiderte Kalessan, der noch dageblieben war, "Aber du kannst gerne mit zu mir kommen, dann zeige ich dir mal meine Höhle, wenn es dich froh macht."
Ein glückliches Aufblitzen in Karlmax‘ Augen verriet ihm, dass dies der Fall war. Kalessan senkte seinen Kopf.
"Also gut – steig auf!"
Karlmax ließ nicht lange auf sich warten.
"Nun gut, oh großer Anführer…man sieht sich!", sagte Kalessan zu Smahug.
"Kalessan, ich wollte dir noch sagen, ähm…danke! Du hast die richtige Entscheidung getroffen!", antwortete dieser.
"Dieses Urteil überlasse lieber mir, Smahug!"
Er stieß sich vom Boden ab und flog weg.
Smahug sah ihm nach und dachte sich: Irgendetwas bin ich auch ihm schuldig…vielleicht sollte ich demnächst damit aufhören, so offen über unsere Rasse zu plaudern…
Und während ihrem Flug nach Hause dachten auch die anderen über sich und die zurückliegenden Ereignisse nach.
Droca dachte darüber nach, ob er bei dem aufkommenden Theaterstück "Kerker und Drachen" eine Rolle übernehmen sollte.
Neidhöcker dachte: Ich habe jetzt mal wieder richtig Lust, an einer saftigen Wurzel zu knabbern!
Adorelon dachte: Der zeitliche Ablauf der letzten paar Seiten ist irgendwie vollkommen unlogisch, wenn man mal darüber nachdenkt…
Vasdendas dachte: Ich muss jetzt irgend etwas töten…jetzt sofort!
Glaureng dachte: War ich wirklich so böse, dass man mich so hässlich erschaffen musste? Das ist gemein!
Tjamat dachte ernsthaft darüber nach, demnächst bei sich zu Hause ein Ei auszubrüten.
Morkulebus dachte ernsthaft darüber nach, professioneller Krallenmasseur zu werden.
Schneeweißchen dachte: HED DSUEB SAHEZA KEIW JASHD AKEJES MEUNASJ KAOSLEJB!
Karlmax erfreute sich an der absoluten Freiheit des Fliegens, genoss den Wind, der durch seinen Bart rauschte und dachte: Vielleicht ist das Leben ja doch nicht so schlimm!?
Und Kalessan? Der dachte nur: Oh, hab ich einen Hunger! Irgendwo muss doch hier etwas zum Essen sein! Ein Dorf, eine kleine Stadt…irgendwas!
Tja…das Sein verdirbt das Bewusstsein.
Der Doktor, http://www.die-subkultur.net
Das Babysitter (Der Doktor)
Das Babysitter
Es
ist allgemein bekannt, dass transdimensionale Reisen ganz alltägliche Phänomene
sind.
Doch… woher ist es bekannt?
Wesen im gesamten Universum reisen nahezu täglich durch Zeit und Raum –
die meisten von ihnen sind natürlich nicht besonders glücklich darüber,
weil sie dann immer mit irgendwelchen Weltenrettungsaktionen beauftragt werden,
die zwar eh gut ausgehen, aber dennoch eine Menge unnötigen Stress bereiten
und größtenteils auch noch schlecht geschrieben sind.
Und das beantwortet auch gleich unsere Frage, woher denn das Wissen um transdimensionale
Reisen als alltägliches Phänomen stammt – wenn so viele Leute
Bücher und Romane über etwas wie transdimensionale Reisen schreiben,
dann muss doch an der Sache etwas dran sein, nicht wahr?
Fakt ist, dass nur ein Bruchteil der Autoren wirklich an das Phänomen der
alltäglichen transdimensionalen Reise glaubt.
Fakt ist, transdimensionale Reisen sind ein alltägliches Phänomen.
Man könnte nun fragen, was zuerst dagewesen sei – die transdimensionalen
Reisen oder die Geschichten über sie, aber das wäre dann doch zu sehr
an den Vorgänger dieser Geschichte angelehnt und sowieso eigentlich nur
vollkommen langweilig.
Die
Person, von der jetzt hier die Rede sein soll, kümmerte sich natürlich
ebenfalls nicht um solche Fragen.
Dennoch war sie sich nicht dessen bewusst, dass sie sich gerade auf einer transdimensionalen
Reise befand, denn diese beginnen meistens in einem Wald, in einem See oder
an irgendeiner anderen aus der Heimatwelt des Reisenden bekannten landschaftlichen
Gegend.
Als der anfangs erwähnte Herr durch den für ihn ganz normal erscheinenden
Wald wanderte, traf er sogar auf ihm bekannte Tiere, also Viehzeugs wie Rehkitze,
Hoppelhäschen und eine Horde ausgehungerter, blutrünstiger Wölfe.
Jene war auch der Grund, warum unser Reisender sein Gehtempo etwas beschleunigte
– ob nun Heimatwelt oder nicht, niemand landet gerne in den Mägen
von sieben ausgehungerten Wölfen.
Diese Geschichte soll natürlich nicht zu einem vorzeitigen Ende kommen,
von daher wurde unser Dimensionsreisender auch auf wundersame Weise im letzten
Moment gerettet. Der letzte Moment markierte die Stelle, an der der Fliehende
mitten auf einer Lichtung stolperte, sich flach auf den Boden legte und sich
in panischer Angst umdrehte, um seinem unausweichlichen Schicksal in die Augen,
beziehungsweise in die Mäuler zu schauen.
Ihm eröffnete sich das Bild des Wolfsrudels, wie es genau am Rande der
Lichtung zum Stehen kam, wütend über die anscheinend verloren gegangene
Mahlzeit enttäuschtes Geheul anstimmte und nicht minder enttäuscht
umdrehte, um abzuziehen.
Unser Protagonist konnte sein Glück natürlich nicht fassen und drehte
sich dann um, um sich über die Ursache dieser so überraschenden Wendung
seines kleinen Abenteuers zu erkundigen.
Hinter ihm auf der Lichtung stand eine Person, die in ihm erstmals Zweifel darüber
aufkommen ließen, sich noch auf der richtigen Welt zu befinden. Andererseits
gibt es selbst auf den am höchsten entwickelten Welten immer noch Leute,
die sich in lange, schwere, bunte Roben kleiden und als halbverrückte Einsiedler
mit langen Bärten in von hungrigen Wölfen verseuchten Wäldern
abseits der Zivilisation leben, um allen Vorbeikommenden doppeldeutige Sprüche
unterzujubeln, die eigentlich nur gut klingen, die Betroffenen jedoch meist
stundenlang über das eben Gesagte nachgrübeln lassen. Meistens finden
sie dann sogar einen Sinn in diesen Sprüchen, worauf die Einsiedler dann
immer sehr stolz sind.
Solch ein Exemplar der Rasse, die wir normalerweise als „Mensch“
bezeichnen, stand jedenfalls hinter unserem Reisenden und schaute ihn weise,
beziehungsweise halbverrückt an, das ist ja auch eine Sache des Standpunktes.
Unser Reisender kann natürlich auch sprechen, und da jetzt ein guter Zeitpunkt
war, um den ersten Dialog dieser Geschichte zu beginnen, sagte er:
„Wie haben sie… warum… ähm… danke!“
Auch der Einsiedler konnte anscheinend sprechen, und er erwiderte in derselben
Sprache und in sanftem, zumindest weise klingenden Tonfall schlicht:
„Folge mir!“
Der Reisende sah sich in seinen Handlungsmöglichkeiten daraufhin sehr beschränkt
und beschloss weiserweise, sich aufzurappeln und dem Einsiedler zu folgen.
„Wie haben sie das gemacht? Das mit den Wölfen…“, fragte
er.
„Das tut nichts zur Sache. Viel wichtiger ist doch die Frage: Warum bist
du hier? Und vor allem: Wo bist du?“
„Nun, die erste Frage ist einfach zu beantworten. Ich wollte eigentlich
nur kurz in den Wald gehen, um mal zu pinkeln. Wo ich jetzt bin, kann ich mir
ehrlich gesagt nicht vorstellen, aber ich wäre ihnen ganz dankbar, wenn
sie mich zur Straße zurückführen würden, damit ich mein
Auto suchen gehen kann.“
Der Einsiedler sah ihn mit einer Mischung aus milder Belustigung und einer Prise
Traurigkeit an.
„Ich fürchte, wir werden dein… ähm… Au-to hier in der Gegend
nicht finden. Ich fürchte außerdem, dass du dich gar nicht mehr auf
der Welt befindet, die du als deine Heimatwelt bezeichnet.“
„Einen Moment, was wollen sie damit sagen? Meinen sie etwa, dass mein
Auto hier gar nicht mehr in der Nähe ist?“
Der Alte nickte.
„Und sie wollen mir allen ernstes verklickern, dass ich mich auf einer
fremden Welt in einer fremden Dimension oder so befinde?“
Der Alte nickte.
„Und sie denken wirklich, dass ich ihnen diesen Schwachsinn abkaufe?“
Der Alte nickte.
Unser Reisender schüttelte ungläubig den Kopf und schaute sich den
Einsiedler noch mal von oben bis unten an. Dann kam er zu einem Entschluss und
sagte:
„Oh, kacke Mann!“
Dies
ist ein wunderbarer Zeitpunkt, um all die faszinierenden Phänomene einer
transdimensionalen Reise einmal kurz zusammenzufassen.
Zunächst ist es erstaunlich, dass die Welt, in die ein transdimensional
Reisender versetzt wird, immer dieselben Klimabedingungen vorweist wie die Heimatwelt
des Betroffenen. Bisher ist jedenfalls noch niemand bei solch einer Reise durch
beispielsweise akuten Mangel an Sauerstoff in der Atmosphäre umgekommen.
Ebenfalls auffällig ist das Existieren gewisser, anscheinend universell
gültiger Tier- und Pflanzenarten. So wird man in jedem Wald jeder Parallelwelt
Kiefern und Tannen sowie die bereits erwähnten Rehe, Hasen und natürlich
die ausgehungerten Wölfe antreffen… wenn man Pech hat.
Viel interessanter und vor allem viel erstaunlicher als diese beiden Tatsachen
ist jedoch die ebenfalls universelle Existenz einer Lebensform, die wir als
„Mensch“ bezeichnen. Die meisten Parallelwelten haben außerdem
noch dem Menschen sehr ähnliche Lebensformen vorzuweisen, die dann meistens
„Zwerge“ oder „Elfen“ genannt werden.
Am erstaunlichsten mag einem jedoch die Tatsache erscheinen, dass die sprachbegabten
Wesen dort, wohin man durch eine transdimensionale Reise hinversetzt wird, immer
die eigene Sprache sprechen!
Wissenschaftler einer hochentwickelten Welt versuchten einst, dieses Phänomen
zu erklären, scheiterten jedoch daran, einen Namen dafür zu finden
und gingen, für immer zerstritten, auseinander.
Ein Dimensionsreisender gelangte einmal aufgrund all dieser Tatsachen zu folgendem
Ergebnis:
Wenn die Umgebung, die Wesen, die Sprache und sonst auch alles andere dem Reisenden
bereits vertraut ist, so kann es sich nur um Einbildung handeln, um einen schlechten
Traum, um eine eingebildete Realität, die jedoch niemals stattgefunden
hat.
Das erklärte zwar nicht, was mit den Leuten geschah, die von ihren Reisen
nicht zurückkehrten (worüber es auch wieder Theorien wie „Der
Körper kann ohne den Schweiß nicht leben… nein, es war nicht der
Schweiß, Moment…“), in der Heimatwelt dieses Menschen wurde diese
Theorie dennoch zu einem gigantischen Erfolg, als der Reisende zusammen mit
seinem Bruder eine Dokumentation über diese Reise in die fremde Welt drehte,
die von den meisten Leuten, die sie sahen, jedoch für einen Unterhaltungsfilm
missverstanden wurde.
Nun,
dieser Reisende hat nichts mit unser momentanen Hauptfigur zu tun, zu der wir
nun nach diesem kleinen Exkurs wieder zurückkommen möchten.
Er war nun schon eine ganze Weile neben dem Einsiedler nebenher gelaufen und
stellte, halb ihm, halb sich selbst, folgende Fragen:
„Wie bin ich hier hergekommen?“
„Die Antwort wirst du bei Ihm erfahren.“
„Wie komme ich wieder zurück?“
„Die Antwort wirst du bei Ihm erfahren.“
„Warum gerade ich?“
„Die Antwort wirst du bei Ihm erfahren.“
„Wer ist dieser Ihm eigentlich?“
„Die Antwort wirst du bei Ihm erfahren.“
„Fischers Fritz fischt frische Fische!“
„Die Antwort wirst… bitte, was?“
„Wollte nur mal sehn, ob sie mir auch zuhören…“
Mit diesen Antworten musste sich unsere Hauptfigur zunächst mal zufrieden
stellen und nun der Dinge harren, die da noch kommen mochten. Es dauerte zum
Glück nicht lange, bis der Alte mit ihm vor einem großen Loch in
einer mitten im Wald liegenden Felswand ankam, welches so dunkel und finster
war, wie es eben nur große Höhleneingänge mitten im Wald sein
können. Von dem Eingang weg führte eine Art breiter Trampelpfad, der
darauf schließen ließ, dass öfter in diese Höhle hinein
und aus ihr hinaus gegangen wurde.
„Dort drinnen wird Er auf dich warten und dir deine Bestimmung in dieser
Welt mitteilen.“, sprach der Alte mit theatralisch ausgestrecktem Arm.
„Sie meinen, dort drinnen wird mir erzählt werden, dass ich so ein
seit langer Zeit erwarteter Mann-zwischen-den-Welten bin, der jetzt seine Bestimmung
ergreifen und gegen das Übel kämpfen soll, dass diese Welt befallen
hat und sie vermutlich vernichten wird, sollte ich nicht einschreiten? So was
in der Richtung?“
Der Alte sah ihn milde lächelnd an und sprach dann:
„Nun, vielleicht wird es nicht ganz so schlimm…“
Der Reisende drehte sich zu dem Höhleneingang um, atmete einmal tief ein
und aus und setzte sich dann mangels sinnvoller alternativer Möglichkeiten
in Bewegung, um diesen Er mal aufzusuchen.
Die dunkle Höhle zeichnete sich durch kühle Feuchtigkeit aus, die
normalerweise dunkle Höhlen auszeichnet, die sehr kühl und feucht
sind. Dennoch war sie nicht vollkommen finster – der Reisende konnte einen
Lichtschimmer am Ende des Ganges, in dem er sich gerade befand, ausmachen. Wie
er bald herausfinden sollte, stellte dieser Lichtschimmer den Fackelschein dar,
der eine Höhle von riesigen Ausmaßen gleichmäßig erhellte.
Und in dieser Höhle lag Er – ein Anblick, der unseren Reisenden verblüfft
stehen ließ, da es sich hierbei um etwas handelte, was längst nicht
auf allen Welten des interdimensionalen Reiseverkehrs vorzufinden ist. Er öffnete
die Augen und starrte den Reisenden mit einem Blick an, der wahrscheinlich Stahl
hätte zum Schmelzen bringen können – zum Glück war keiner
in der Nähe. Unser Protagonist machte sich lediglich in die Hosen.
Dann fing Er an zu sprechen. Es war laut. Sehr laut. Doch irgendwas, was das
folgende Klingeln in seinen Ohren nur schwach übertönte, sagte dem
Reisenden, dass Er es auch wesentlich lauter hätte sagen können.
Er sagte:
„Komm näher!“
Solch einer Stimme verweigert man keinen Gehorsam. Das begriffen die Beine unseres
Reisenden schneller als sein Kopf und setzten sich in Bewegung, um in geringerem,
aber dennoch nicht respektlosen Abstand vor Ihm stehen zu bleiben.
Dann fing Er erneut an zu sprechen:
„Lass mich raten: Du bist ein Reisender aus einer fremden Dimension von
einer anderen Welt. Du bist in dieser Welt gelandet und wurdest von einem Rudel
hungriger Wölfe durch den Wald verfolgt. Dann wurdest du von einem alten
Einsiedler gefunden, der dich zu mir geführt hat.“
Es sah so aus, als müsste unser Reisende trotz schmerzhaft pulsierender
Trommelfelle nun irgendwas sagen. Folgender Satz erschien ihm recht angemessen:
„Woher… könnt ihr all das wissen?“
Der Kopf von Ihm setzte sich in Bewegung, um kurz vor unserem Reisenden zum
Stillstand zu kommen, worauf dieser sehr erstaunt gewesen wäre, wie viel
Stoff sich noch in seiner Blase befand, wäre er nicht viel zu sehr damit
beschäftigt gewesen, seine Körperfunktionen am Laufen zu halten, damit
er nicht einfach vor Angst wegstarb.
Und Er sprach ein weiteres mal:
„Dieser Einsiedler hat sich zu mir geführt. Warum? Weil ich ihn dafür
bezahle!“
Kalessan
mochte transdimensional Reisende.
Sie schmeckten wie die Menschen seiner eigenen Welt und ihr Tod zog keinerlei
nervende Konsequenzen wie räuberische Racheritter mit sich. Außerdem
wurden dadurch die Dörfer seiner Umgebung ein wenig entlastet.
Nachdem er fertig war, erinnerte er sich daran, dass er den Alten wohl demnächst
für seine Dienste einmal mehr bezahlen musste. Vielleicht sollte er die
Wölfe für ihre gute Arbeit auch mal wieder belohnen…
Er beschloss, diese Angelegenheiten auf später zu verschieben und legte
sich wieder hin. Kurz bevor er einschlief, lobte er sich selbst einmal mehr
für die sehr gute Investition in das Dimensionsportal direkt im benachbarten
Wald.
Dies
ist im übrigen keine Geschichte über das transdimensionale Reisen.
Oh nein, es ist viel schlimmer!
Es
ist eine Eigenart der Menschen, selbst die positivste und friedlichste revolutionäre
wissenschaftliche oder soziologische These, Theorie, Erkenntnis oder Abhandlung
zu kriegerischen Zwecken zu missbrauchen. Seit jemandem mal ein Apfel auf den
Kopf fiel und der Betroffene sich dachte „Ui! Schwerkraft!“, fingen
Menschen sofort damit an, Menschen von Burgmauern aus Steine auf die Rübe
zu werfen (wobei erwähnt werden sollte, dass die Menschen, die sich der
jeweiligen Burgmauer näherten meistens ebenso wenig friedliche Absichten
im bald etwas flacher aussehenden Kopf hatten… mit einigen tragischen Ausnahmen
natürlich) – oder, noch schlimmer, goldene Münzen von hohen
Türmen, nur um zu sehen, was passiert…
Karlmax‘ revolutionäre These war von diesem Schicksal bisher verschont
geblieben – wobei sie den Frieden zwischen den Menschen ja nicht gerade
predigte… Vielleicht hing es damit zusammen, dass die Menschen es langweilig
fanden, sich an die Regeln einer bereits kriegerischen These zu halten –
wo blieb denn da der Spaß? So kam es, dass Karlmax durch seine Theorie
weltberühmt wurde und viele Tourneen veranstaltete, um Vorträge über
seine revolutionären, die Gesellschaft der Menschen verbessernden Gedanken
zu halten. Die Menschen hörten dabei immer interessiert zu, waren begeistert
und honorierten jeden von Karlmax‘ Auftritten mit donnerndem Applaus –
nur hatte anscheinend niemand so richtig Lust dazu, der erste zu sein, der diese
revolutionären Ideen auch umsetzte.
Um jene Ideen soll es in dieser Geschichte jedenfalls ebenfalls nicht gehen.
Karlmax
befand sich jedoch gerade kurz vor einer Tournee in entfernte Länder, um
viele, schon jetzt vollkommen ausverkaufte Vorträge zu halten. Dabei hatte
er jedoch zwei Probleme:
Seine Frau und seinen Sohn.
Rita, die Stählerne, wie sie sich selbst nannte, war die perfekte Ergänzung
zu Karlmax‘ Charakter: Impulsiv, aggressiv, stark, direkt und dickköpfig
dominierte sie ihren Mann vollständig, was diesem aber nicht viel ausmachte,
da er sich selbst nicht gerade zur Führungspersönlichkeit geboren
sah und beruhigt war, wenn es eine Instanz über ihm gab, die die ganze
Verantwortung trug und nicht ihn damit belastete.
Dies war jedoch noch nicht das Problem. Karlmax bestand nämlich darauf,
seine Frau Rita auf der Tournee bei sich zu haben – und das nur teilweise
aus Liebe zu seiner Gefährtin. Als persönliche Beschützerin machte
sie sich dank ihrer selbst gegenüber vielen Männern überlegenen
Muskelkraft nämlich gar nicht schlecht.
Nur leider bestand sie darauf, dass ihr gemeinsamer Sohn Ninnel nicht auf die
Reise mitkommen dürfe, wodurch sich das eigentliche und damit größte
Problem ergab:
Wohin mit dem Jungen?
Der achtjährige Ninnel war schon mehrfach durch sein… nun, rebellisches
Verhalten aufgefallen und gegenüber zahlreichen Verwandten durfte man seinen
Namen noch nicht mal erwähnen, wollte man nicht riskieren, sofort aus dem
Haus geworfen zu werden… womöglich noch aus einem Fenster im vierten
Stock…
„Was ist mit den Dusseleys?“, fragte Karlmax.
„Ich fürchte, die sind nach unserem Besuch letzten Sommer nicht mehr
so gut auf unseren Kleinen zu sprechen, Schatz. Außerdem ist der Angriff
durch diesen Assassinen kurz nach unserem Aufenthalt dort erfolgt, weißt
du noch?“
„Hast Recht, mein Haselschnäuzchen…“
„NENN mich nicht Haselschnäuzchen!“, giftete seine Frau ihn
an.
„Ähm… ja, Rita…“, Karlmax senkte demütig den Blick,
als ihm ein Einfall kam:
„Was ist mit Sally? Du kennst sie ja… ähm… ein bisschen… sie
könnte mit Ninnels… Eigenarten sicherlich fertig werden.“
Ritas Stimme schnitt so scharf durch die Luft, dass sich Karlmax damit seinen
Bart hätte abrasieren können:
„Ich lasse nicht zu, dass MEIN SOHN bei einer so unflätlichen Frau
einquartiert wird! Sie mag noch so nett sein, aber ihr Berufsstand übt
bloß einen schändlichen Einfluss auf unseren süßen Kleinen
aus!“
„Aber ich habe dich doch bei ihr kennen gelernt, Liebste!“
„Das ändert nichts daran, dass es ein für unseren Jungen schändliches
und unmoralisches Etablissement ist! Weitere Vorschläge?“
Karlmax wusste, dass die Diskussion um das Thema Sally beendet war und kramte
in seinem Gedächtnis weiter nach Möglichkeiten zur Unterbringung seines
Sohnes… jedoch gingen ihm so langsam die Ideen aus. Einen Namen hatte er noch:
„Was ist mit Tante Peggy? Hat sie unseren Kleinen schon mal kennen gelernt?
Bei ihr wäre es doch außerdem gar nicht so schlimm, wenn wir es uns
mit ihr verderben würden…“
„Peggy? Nein, die kommt nicht in Frage. Sie ist doch tagtäglich so
sehr mit dem Schmachten über diesen Schauspieler… wie hieß er noch
mal? Genau, dieser Schauspieler Droca…“ – *pling* – „Sie ist doch
so sehr mit ihm beschäftigt und deswegen immer so neben sich, dass unser
Kleiner bei ihr wahrscheinlich verwahrlosen und verhungern würde… Sag
mal, ist was mit dir?“
Karlmax starrte ins Leere. In seinem Kopf machte es immer *pling*, wenn sich
eine neue, bahnbrechende Idee anbahnte.
„Welchen Namen hast du gerade noch mal genannt?“
„Droca, der Schauspieler… Kennst du ihn nicht?“
Karlmax wusste zwar nicht, wo Droca lebte und wie er ihn erreichen konnte. Doch
dafür kannte er jemand anders… *pling*
„Hast du dieses Geräusch gerade auch gehört?“, fragte
Rita.
Eigentlich war der Gedanke vollkommen wahnsinnig. Er war sogar so wahnsinnig,
dass sich Karlmax fragen musste, ob er selbst nicht bereits wahnsinnig war,
wenn er auf solch wahnsinnige Gedanken kam. Konnte er seinen Sohn wirklich diesem
alten Freund anvertrauen? Wobei sich die Frage stellte, ob er noch sein Freund
war… beziehungsweise, ob er wirklich jemals wirklich sein Freund gewesen war…
Nun, eigentlich hatte er sich gegenüber Karlmax bei seinem Besuch immer
ganz nett benommen… aber würde das auch für seinen Sohn gelten?
Die Schwärze von Karlmax‘ Gedankenwelt wurde jäh von einem lautstarken
Rufen unterbrochen:
„Paaaapaaaaa, bin wieder Zuhaaaaauuuseeeee!“
Das Rufen ertönte direkt neben Karlmax Ohr, worauf dieser nicht vorbereitet
war, erschrocken umkippte und mit dem Hinterkopf schmerzhaft auf dem Boden aufschlug.
Sekunden später traf eine gigantische Faust auf seinen Unterleib und nagelte
ihn fest.
Als Karlmax wieder Luft bekam und er statt vollkommenster Schwärze wieder
zumindest verschwommene Bilder sehen konnte, eröffnete sich ihm das Bild
seines Sohnes Ninnel, wie dieser auf seinem Unterleib saß.
Während Karlmax nur schmerzhaft und leise aufstöhnen konnte, lächelte
Rita die beiden liebevoll an und sagte:
„Na, ich lasse euch beiden dann mal alleine und bereite das Abendbrot
vor – so lange dürft ihr dann noch miteinander spielen. Und Karli
– überlege dir dann bitte noch schleunigst eine Lösung für
unser kleines Problem, ja?“
Mit diesen Worten drehte sie sich um und ging aus dem Raum hinaus in Richtung
Küche.
„Oh toll, Papa, wir spielen! Du bist das Pferd und ich bin der Reiter,
ja?“, rief der Junge überschwänglich in unerträglicher
Lautstärke.
Karlmax sah auf die Schuhe seines Sohnes – er hatte wieder die Stiefel
mit den echten Sporen angezogen…
„Ja, Ninnel!“, stöhnte er auf – Sohn hin oder her, dachte
er, dieser Junge sollte seine Eltern doch mal wieder schätzen lernen! Vielleicht
wäre die Methode ein wenig radikal und riskant, doch sicherlich nicht unwirksam…
Als er sich umgedreht hatte, rief sein Sohn „Hü-hott!“ und
trat mit den Sporen zu.
Mit einem gedämpften Schmerzensschrei trat Karlmax seinen allabendlichen
Leidensweg an und hielt sich nur mit dem Gedanken am Bewusstsein, wie er seinen
Plan seiner Frau verklickern sollte…
Zur
gleichen Zeit machten sich die berühmten Helden Rimorob, der Krieger, Fladnag,
der Magier, Oblib, der Halbling und Salogel, der Elf daran, ein Land von der
schrecklichen Kreatur zu befreien, die man nur den „roten Schrecken“
nannte. Dass es sich hierbei um eine sehr klassische Gruppe aus hochstufigen
Abenteurern handelte, konnte man daran erkennen, dass sie mehr Wert auf Stil
als auf Effektivität bei der Arbeit legten. So glänzte Rimorobs Rüstung
selbst bei absoluter Dunkelheit in einem funkelnden Licht, was einem eher sinnlosen
elfischen Zauber zu verdanken war, aber mehrere 1000 Orks beim Bergen jenes
Artefakts das Leben gekostet hatte. Und Salogel glich mehr einer wandelnden
Frisur als einem todesmutigen Helden, der mal eben nebenbei mit einem Langbogen
einer Fliege ein Auge ausschießt. Was Salogel an Haaren hinten hatte,
besaß Fladnag vorne am Kinn, hierbei sei jedoch erwähnt, dass es
sich um ein gewaltiges Haartransplantat handelte, da der Magier erst 32 Jahre
alt war. Oblib war leider zu klein für jegliche Art von Haaren an anderen
Stellen außer auf seinem Kopf und vor allem an seinen Füßen,
erwies sich im Kampf dennoch sehr nützlich darin, Gegnern in Stellen zu
beißen, wo es wirklich weh tat…
So exzentrisch sie auch erscheinen mögen, viele solcher Heldengruppen bringen
es merkwürdigerweise immer wieder zu großen Erfolgen, viel Geld und
einem Maß an Arroganz, das jeden Adligen als bescheiden und schüchtern
darstellt.
Und jene berühmte Runde war nun daran, ihren Ruhm und vor allem ihren Reichtum
beträchtlich zu vermehren.
„Eeeyy, du bist mir auf meine Haare getreten!“, beschwerte sich
Salogel.
„Und du mir auf meine – ausgleichende Gerechtigkeit!“, erwiderte
Fladnag, „Warum ist es hier auch so dunkel drinnen?“
„Ruhe!“, rief Rimorob dazwischen, „Wir müssten gleich
in der Haupthöhle sein! Bleibt dicht zusammen – hast du gehört,
Oblib?“
„Ja, Papa!“, kam die piepsige Antwort in spottendem Tonfall.
Rimorob blieb stehen.
„Das hier ist kein Zuckerschlecken, das ist vielleicht die größte
Herausforderung unserer Heldenkarriere, ich verlange also absolute Konzentration
von euch allen!“
„Hatten wir denn je eine richtige Herausforderung?“, tönte
es aus Salogels Richtung, „Von den Viechern haben wir doch auch schon
ein halbes Dutzend umgebracht.“
„Ja, aber der hier soll ein bisschen größer sein als die anderen…
zumindest hat das die Olle gesagt, die uns diesen Auftrag gegeben hat.“
Darauf entgegnete Oblib:
„He he, Frauen, die übertreiben es doch immer, wenn es um Männerangelegenheiten
wie das Bekämpfen von Dr…“
„Halt den Mund“
„Kommt es nur mir so vor, oder stinkt es hier wirklich ganz gewaltig?“,
fragte Fladnag.
„Scheint an diesem merkwürdigen Luftzug zu liegen…“
„Das hält ja kein Mensch aus!“
„Oder Elf…“, meldete sich Salogel zu Wort.
„Ja ja oder Elf…“
„Und was ist mit mir?“, fragte Oblib.
„Halt den Mund!“, entgegnete Fladnag und fügte hinzu:
„Hm, das scheint eine Tropfsteinhöhle zu sein, seht euch mal diese
ganzen Stalagmiten und Stalaktiten an!“
„Welche waren denn noch mal welche?“, fragte Oblib.
„Klappe! Hier scheint auch irgendwo die Quelle dieses Luftzugs zu sein…“
„Uääähhh, diesen Gestank ertrage ich nicht länger!“,
stöhnte Salogel herum.
„Aber warum haben diese Stalaktiten so eine seltsame Anordnung…? Die
Farbe scheint auch nicht zu stimmen, soweit man das in diesem diffusen Licht
sagen kann.“
Rimorob meldete sich zu Wort:
„Ist euch eigentlich schon aufgefallen, wie weich der Boden auf einmal
geworden ist?“
Die Gefährten sahen sich in dem diffusen Licht unsicher an. Der übel
riechende Luftzug umwehte sie in gleichmäßigen Abständen dröhnend
in dieser unheimlichen Stille.
„Lasst uns ein wenig mehr Licht riskieren!“, sprach Fladnag und
ließ den Kristall am Ende seines Zauberstabs erleuchten. Über den
folgenden, einmaligen Anblick verlor er nur ein Wort:
„Oh!“
Kalessan schluckte.
„Und
du bist dir sicher, dass dieser Herr… wie hieß er noch mal, Schatz?“
„Kalessan…“
„…dass dieser Kalessan unseren Liebling auch annehmen wird?“,
erkundigte sich Rita bei ihrem Mann und versuchte, das laute Quietschen der
Kutschenräder und das Hufgetrappel der Pferde zu übertönen.
„Nein, ich bin mir ganz und gar nicht sicher – aber er ist unsere
einzige Chance… Ninnel, hör bitte damit auf, mit deinem Messer die Kutsche
zu zerkratzen! Außerdem ist er der einzige, der es mit dem… impulsiven
Charakter unseres Sohnes aufnehmen kann.“
„Und warum wohnt er mitten im Wald?“
„Nun… er ist ein Einsiedler?“, entgegnete Karlmax vorsichtig.
„Ein Einsiedler? Unser Sohn soll bei einem Einsiedler
wohnen? Bist du denn von allen Sinnen?“
„Schatz, ich habe dir gesagt, er ist unsere einzige Chance. Wir können
jetzt nicht mehr zurück – wir haben eh schon Glück, dass seine
Behausung ungefähr auf dem Weg liegt. Und sieh es doch mal von der positiven
Seite: Unser Sohn lernt die Natur kennen, lernt, wie er alleine in der Wildnis
überleben kann und verbringt ein paar wildromantische Wochen – nicht
wahr, Ninnel?“
„Ich will nicht zu so einem doofen Einsiedler!“, sagte Ninnel und
begann wieder, mit seinem Messer obszöne Muster in das Holz der Kutsche
zu gravieren.
„Ninnel, ich habe gesagt, du sollst damit aufhören! Sag du doch auch
mal was, Rita!“, wandte sich Karlmax verzweifelt an seine Frau, als sein
Sohn keine Anstalten machte, den Befehl des Vaters zu befolgen.
„Schatz, hör bitte auf damit!“, sagte Rita, woraufhin Ninnel
sie kurz anglotzte, um dann das Messer in seine Tasche zu stecken und seinen
Vater durchdringend anzustarren.
Plötzlich kam die Kutsche abrupt zum Stehen und das andauernde Quietschen
und Hufgetrappel wurde durch lautes, panisches Wiehern ersetzt.
„Oh, ich fürchte, wir sind bald da!“, ließ sich Karlmax
vernehmen und stieg aus dem Gefährt aus.
Um ihn herum erstreckte sich der düstere, verlassene und erschreckend ruhige
Wald. Jedenfalls hatte Karlmax das Gefühl, dass er erschreckend ruhig werden
würde, wenn die Pferde mit ihrem Gewieher aufhörten.
„Die Pferde wolln nich weiter, Sir, weiß auch nich, warum.“,
sagte der Kutscher, ein dreckiger, abgetakelter Unhold mit grauenhaftem Akzent,
der für sämtliche Neudorfer, die beruflich in irgendeiner Form mit
Pferden zu tun hatten, absolut typisch war.
„Ähm, das geht schon in Ordnung, Herr Kutscher, wir gehen ab hier
zu Fuß weiter. Fahrt ihr doch einfach ein wenig zurück, bis die Pferde
sich wieder beruhigt haben und wartet dort auf uns. Sollten wir in… einer
Stunde noch nicht wieder zurück sein, dann fahrt einfach wieder zurück
nach Neudorf und behaltet das Geld – und, wenn ich euch einen Rat geben
darf, fahrt schnell!“, mit diesen Worten warf Karlmax dem Kutscher ein
Beutel mit Gold zu, was normalerweise ein todsicheres Mittel ist, um einen Neudorfer
Kutscher seltsame Befehle ohne Fragen ausführen zu lassen… normalerweise…
„Hoi… und warum so viel, Sir?“, erkundigte sich der Kutscher.
„Ähm… Gefahrenzulage!“
„Ah… Darf man auch erfahrn, warum so viel, Sir?“
Karlmax warf einen Blick auf seine Familie, die eben aus der Kutsche ausgestiegen
war und sagte:
„Nein! Deswegen ist es auch so viel.“
Das reichte dem Kutscher anscheinend, der mit einem Achselzucken die Kutsche
mit den scheuenden Pferden auf dem Waldweg (welcher übrigens merkwürdig
breit war und so aussah, als würde er regelmäßig benutzt werden)
wendete und den Weg zurückfuhr, den sie gekommen waren.
„Könntest du mir mal bitte erklären, was hier los ist?“,
giftete Rita ihren Mann mit in die Seiten gestemmten Armen an.
„Nein, kann ich nicht, aber eine andere Möglichkeit, Ninnel unterzubringen,
gibt es jetzt auch nicht mehr – oder willst du etwa doch, dass er uns
auf dieser interessanten Reise begleitet?“
Karlmax hoffte, dass seine Frau sich noch an den einen Auftritt von ihm erinnerte,
wo Ninnel die „Hoppe Hoppe Reiter mit Sporenstiefeln“-Nummer auf
der Bühne vor dem Publikum mit seinem Vater abgezogen hatte, ohne dass
sich Karlmax dagegen hätte wehren können..
Glücklicherweise war Rita jener Auftritt ebenso peinlich gewesen und noch
immer sehr gut in Erinnerung. Deswegen war nun einer der wenigen Momente gekommen,
in dem sie sich ihrem Mann unterordnete, wenn auch nicht ohne die Arme zu verschränken
und säuerlich vor sich hin zu grummeln.
Nach einigen Minuten Fußmarsch endete der Weg an jenem dunklen, finstren
Höhleneingang mitten im Wald, an den Karlmax nur zu gute Erinnerungen hatte.
Momentan fragte er sich, wie er es damals geschafft hatte, jene Höhle lebendig
zu verlassen und ob ihm das noch ein zweites Mal gelingen würde, von seiner
Familie ganz abgesehen…
„Eine HÖHLE? Eine HÖHLE! Unser Sohn kann nicht mal mehr in einem
richtigen Haus mit einem ordentlichen Bett schlafen? Bist du jetzt vollkommen
übergeschnappt, Karlmax?“, fuhr Rita auf.
„Schatz, er wird es überleben! Nicht wahr, Ninnel?“, entgegnete
Karlmax hilflos.
„Ich will nicht in diese doofe Höhle!“
„Da siehst du’s! Er will nicht da rein!“, sagte Rita.
„Er wollte auch nie zu den Dusseleys…“
„Aber die kannte ich wenigstens.“
„Nun, ICH kenne Kalessan da drinnen – oh bitte, Rita, kannst du
mir nicht ein einziges Mal vertrauen?“
Mittlerweile war Karlmax der Verzweiflung nahe und sich nicht mehr sicher, ob
er die Konfrontation mit Karlmax oder die mit seiner Frau mehr scheute.
„Ich will nicht in diese doofe Höhle!“
Rita schaute ihren Gatten an, zuckte kurz nervös mit den Augenlidern und
sagte dann:
„Halt den Mund und tu, was dein Vater dir sagt!“
Karlmax atmete erleichtert auf – er hatte sie!
„In Ordnung, ich gehe dann jetzt erst mal alleine da rein und rede mit
ihm – ihr wartet solange hier draußen!“
Er traf auf keinen Widerstand mehr und machte sich daran, die Höhle zu
betreten, als er sich wieder fragte, ob die Konfrontation mit Rita vielleicht
doch dem vorzuziehen war, was ihm nun bevorstand…
Die
paar Meter vom Höhleneingang zur Haupthalle überlegte Karlmax verzweifelt,
wie er die Konversation mit seinem „Freund“ denn beginnen sollte,
ohne dessen Launen gleich zum Opfer zu fallen.
„Mensch, Kalessan, lange nicht gesehen! Wie geht’s, wie steht’s?“
Nein…
„Hi Kal, alte Schuppe!“
Nein…
„Hallo Kalessan, ich wollte nur mal wieder bei dir vorbeischauen!“
Nein…
„Fischers Fritz fischt frische Fische!“
Nein… obwohl das Kalessan zunächst vielleicht verwirren und Karlmax mehr
Zeit geben könnte…
Als er die Höhle betrat und Kalessan erblickte, fiel ihm dann eine passende
Begrüßung ein:
„Bevor du einen Laut machst – versuche bitte so zu sprechen, dass
meine Trommelfelle nicht gleich platzen, ja?“
Der ihm gegenüber liegende alte, rote Drache schnaubte verächtlich.
Faul zusammengerollt lag er auf dem Boden seiner Höhle, welcher von alten
Rüstungsteilen, Knochen und kleinen, gelben Pfützen bedeckt war.
Seine Gestalt würden einige als „imposant“, andere als „majestätisch“,
die meisten jedoch nur als „beängstigend groß“ beschreiben,
wobei die Betonung sehr stark auf „beängstigend“ liegen würde.
Doch auch dies taten nur wenige – alle anderen beschrieben ihn als „AAAAAHHHHHH!“
und liefen vor ihm weg, griffen ihn an oder fielen tot um, was allerdings keinen
Unterschied machte, da eh alles auf dasselbe Ergebnis hinauskam…
Aufgrund der vielen verdächtig gelben Pfützen könnte man nun
vermuten, dass der Höhle ein gar grässlicher Gestank anhaftete. Doch
wenn man es schaffte, seinen Blick mal von dem riesigen, roten Besitzer jener
Hallen abzuwenden, fielen einem recht bald ein paar große Tannenbäume
auf, die von der Decke hingen. Beanspruchte man nun noch sein Riechorgan, so
konnte man feststellen, dass der Höhle ein stechend-harziger Nadelwaldgeruch
anhaftete, der dem Gestank von Verwesung und Exkrementen in der Nase fast keinen
Platz mehr ließ.
„Wer bist du, dass du mir Befehle erteilst, Wicht?“, meldete sich
der Drache nun mit einer Stimme zu Wort, die zwar nicht seiner vollen Lautstärke
entsprach, in den Ohren eines nicht-tauben Menschen aber immer noch ziemlich
schmerzte, „Und vor allem: Was duzt du mich?“
Karlmax rutschte das Herz fast in die Hose – nicht nur von der Lautstärke.
Wenn der Drache ihn nicht erkennen sollte, sah es, gelinde gesagt, schlecht
um ihn aus.
„Erkennt ihr mich denn nicht wieder, Kalessan? Ich bin es, Karlmax!“
Er grinste ihn nervös an. Der Drache starrte verächtlich zurück,
schmatzte dann kurz und sagte:
„Ach so, du… Du warst doch gerade erst hier!“
„Das war vor neun Jahren!“
„Sag‘ ich doch…“
„Neun Jahre sind für einen Menschen eine halbe Ewigkeit!“
Kalessan zog das draconische Ambivalent einer Augenbraue hoch und erwiderte:
„Na dann hast du ja noch ein paar Ewigkeiten zu leben, freu dich. Und
jetzt: Verpiss dich!“
Karlmax schluckte und riss sich zusammen. Wozu war er denn hergekommen, wenn
er genau wusste, was ihn erwarten würde?
Moment mal, er hatte keine Ahnung gehabt, was ihn erwarten würde…
Also half nur eines: Das Vorgehen nach dem „Augen zu und durch!“-Prinzip,
mit der Hoffnung, es möge schnell vorbei gehen – was auch immer dieses
Es sein möge…
„Tut mir leid, aber ich bin nicht zum Spaß hergekommen, oder weil
ich euch mal wieder sehen wollte. Ehrlich gesagt möchte ich euch um einen
kleinen Gefallen bitten!“
Kalessans Miene gefror.
Leute, die ihn umbringen wollten – okay!
Leute, die sein Gold stehlen wollten – okay!
Leute, die ihm Opfer darbrachten – okay!
Leute, die ihm die neuste Ausgabe von „Mord ist Sport“ lieferten
– okay, das alles konnte man essen!
Leute, die ihn um einen kleinen Gefallen baten – und dann auch noch Leute,
die er kannte und denen er etwas schuldig war… wie peinlich!
„So so, du bittest mich also um einen ‚kleinen Gefallen‘.
Und was bitteschön verleitet dich zu der Annahme, dass ich dir diesen ‚kleinen
Gefallen‘ auch erfülle und dich nicht einfach umbringe?“, fragte
er, indem er sich mit seinem massiven Kopf dem kleinen Menschen bedrohlich näherte.
Karlmax nahm allen seinen Mut zusammen, holte tief Luft und sagte mit der festesten
Stimme, die er aufbringen konnte:
„Ihr hattet mir vor neun Jahren gesagt, dass ihr mir noch etwas schuldig
wäret. Ich bin nun gekommen, um diese Schuld bei euch einzulösen!“
Soweit sich Karlmax erinnern konnte, hatte Kalessan ein recht ausgeprägtes
Ehrgefühl, und die Hilfestellung, die er ihm beim Retten seiner Magie und
seiner Existenzform als Drache damals geleistet hatte, war nicht gerade gering
gewesen.
Der Drache schien sich zu erinnern:
„Ach ja, dieser kleine, dunkle Fleck in meinem Leben… ich hatte gehofft,
dass du dieses Versprechen vergessen würdest oder zumindest vorher stirbst,
bevor du es einlösen konntest.“, er seufzte tief, „Also schön,
was willst du? Soll ich dir in irgendeinem dein Heimatland bedrohenden Krieg
helfen? Macht euch ein Kollege von mir zu schaffen? Soll ich deinen Leibwächter
spielen?“
„Ehrlich gesagt ist meine Bitte nicht ganz so… umständlich…“
„Oh, du bist knapp bei Kasse… na gut, wie viel brauchst du? Meine Zinssätze
sind für dich natürlich extra günstig…“
„Es geht auch nicht um Geld, mehr um… Betreuung.“, erwiderte Karlmax.
„Oh, ich darf dir irgendein wichtiges Artefakt bewachen? Na, zum Bewachen
sind wir Drachen ja noch gerade gut genug, nicht wahr?“, sprach Kalessan
sarkastisch weiter.
„Nein, es geht auch nicht um ein Artefakt, sondern… um meinen Sohn.“
„Ach so, dein Sohn… BITTE, WAS?“
„Esistnichtlange, wirklich! Nur ein paar Wochen, bis ich und meine Frau
wieder zurück sind, mehr verlange ich nicht.“
„VERLANGST du? Du VERLANGST von mir, dass ich den Kinderhüter für
so einen kleines, widerliches Menschenbalg spiele!?“, zischte Kalessan
hitzig, den Hals gebogen wie eine Schlange, die kurz vor dem Zustoßen
ist.
Karlmax war auf dem besten Weg, den Pfützen auf dem Boden eine weitere
hinzuzufügen.
„Dir ist wohl nicht bewusst, dass ihr Menschen auf meinem Speiseplan ganz
oben steht? Da kommt mir so ein kleiner Wurm, den ich nicht antasten darf, hier
drin nicht gerade gelegen!“, fuhr der aufgebrachte Drache fort.
„Nun, das wäre ein weiteres Problem… Solange der Kleine hier ist,
wäre ich euch auch sehr verbunden, wenn ihr diese… Eigenarten ein wenig
zurückschrauben und woanders ausleben könntet. Nur ein paar Wochen?“,
fügte Karlmax kleinlaut hinzu.
„Das ist ganz toll, wirklich. Kannst du dir wirklich nicht etwas anderes
einfallen lassen, um diese kleine Rechnung zwischen uns zu begleichen? Ich könnte
dir doch Geld geben, meinetwegen auch ohne Zinsen, damit kannst du dir einen,
quatsch, ein Dutzend Babysitter leisten!“
„Das geht nicht, dazu ist es zu spät! Ihr seid meine letzte Hoffnung,
den Jungen irgendwie unterzubringen, denn mitnehmen kann ich ihn auf keinen
Fall! Wie gesagt, es wäre nur für kurze Zeit… und wisst ihr was,
sobald ich ihn dann wieder abgeholt habe, werde ich euch nie wieder belästigen,
das verspreche ich euch! Eure Schuld bei mir ist damit beglichen, und ich werde
euch nie wieder behelligen. Dieser dunkle Fleck in eurem Leben wird praktisch
nie existiert haben!“
Karlmax kam der Verzweiflung nahe. Der Drache schien ihm gegenüber zwar
nicht mehr wirklich aggressiv eingestellt zu sein, dennoch war es seine letzte
Chance, den Jungen loszuwerden.
Kalessan dachte nach – und kam zu einem Entschluss:
„Nur ein paar Wochen?“
„Nur ein paar Wochen!“
„Ich sehe dich danach nie mehr wieder?“
„Nie wieder!“
Der große Drache seufzte erneut:
„Na schön, ich mache es… ein wenig Abwechslung kann hier drinnen
wohl nicht schaden… Also, was muss ich tun?“
Karlmax atmete auf – das war geschafft!
„Nun, ihr müsst vor allem für Essen, Trinken, für eine
Schlafstatt und eventuell auch für Kleidung sorgen.“
„Kleider, das sind diese Dinger, die immer zwischen den Zähnen hängen
bleiben!?“, erkundigte sich Kalessan grinsend.
Karlmax versuchte, ihn zu ignorieren:
„Ihr müsst ihn einfach nur ein bisschen beschäftigen. Er kann
recht anstrengend sein, aber ich bin mir sicher, dass ihr die nötige…
Autorität habt, um damit fertig zu werden.“
„Darauf kannst du zählen, das stimmt. Nun gut, genug geredet, jetzt
kannst du mir diesen kleinen Wurm auch endlich vorstellen und abzischen, damit
ich meinen Spaß mit ihm haben kann!“
Karlmax fand das gar nicht komisch.
„Ich finde das überhaupt nicht komisch, Kalessan. Bitte vermasselt
es nicht! Betrachtet es als… andersartige Herausforderung, wenn ihr wollt,
aber ich möchte meinen Jungen in ein paar Wochen in einem Stück zurück
haben, und zwar genau so, wie ich ihn euch übergebe. Denkt ihr wirklich,
dass ihr dieser Aufgabe gewachsen seid?“
„Die Aufgabe, der ich nicht gewachsen bin, muss erst noch gefunden werden,
Kleiner. Stellst du uns jetzt endlich mal einander vor?“, erwiderte der
Drache ungeduldig.
„Nun, da ist noch ein kleines Problem: Meine Frau weiß noch nicht,
dass ihr ein Drache seid, und… mir wäre es auch lieber, wenn sie es jetzt
noch nicht erfährt… Wenn ihr also mit herauskommen könntet und euch
vorher…“
Er ruderte mit den Armen, unfähig, sein Anliegen auszusprechen. Kalessan
verstand ihn auch so:
„Du weißt, was du da verlangst?“
Karlmax nickte nervös.
„Du weißt, dass ich mich seit dieser letzten Geschichte nicht mehr
verwandelt habe?“
„Ich… kann es mir denken… aber wie groß ist wohl die Wahrscheinlichkeit,
dass irgendein wahnsinniger Magier jetzt gleich vorbeikommt und euch erneut
eure Magie erneut stiehlt? Ha ha?“
Der Drache seufzte:
„Nein, du hast wahrscheinlich Recht… warum mache ich das alles bloß?“
Karlmax hatte ziemliches Glück, dass Kalessan diesen Gedanken nicht weiter
verfolgte. Ansonsten wäre der Drache wahrscheinlich darauf gekommen, dass
er das alles wirklich gar nicht machen müsse, hätte ihn und seine
Familie auf der Stelle umgebracht und sich den ganzen Ärger erspart. Der
Drache wusste, dass er mit seinen Gedankengängen dort herauskommen würde
und verfolgte sie auch Karlmax zuliebe absichtlich nicht weiter, sondern verwandelte
sich einmal mehr in den über zwei Meter großen Hünen in roter
Robe, der sein menschliches Erscheinungsbild war.
„Zufrieden?“, fragte Kalessan lakonisch.
„Ihr habt keine Ahnung, wie dankbar ich euch für das bin, was ihr
hier tut!“
„Ach komm, spar dir den Mist!“
Karlmax atmete erneut erleichtert auf. Der Rest sollte ja jetzt ein Kinderspiel
sein.
Draußen
warteten eine entnervte Ehefrau mit in die Seiten gestemmten Armen sowie ein
lautstark quengelnder Junge auf ihn – die Reihe an stressigen bis lebensgefährlichen
Situationen schien also zunächst doch noch kein Ende zu haben.
„Du hast dir ja ganz schön viel Zeit gelassen, mein Lieber. Ich bin
hier mit dem Jungen fast wahnsinnig geworden.“ – Warum „fast“?,
dachte sich Karlmax angesichts der Schärfe ihrer Stimme. – „Und
was war das für ein lautes Gebrüll, das da aus der Höhle kam?
Ich wäre dir beinahe nachgegangen, wenn da drinnen nicht alles so schmutzig
wäre und so schrecklich stinken würde!“
Karlmax drehte sich erschrocken um, doch Kalessan schien nicht beleidigt, sondern
eher belustigt, wie er es immer war, wenn Menschen mit ihm umsprangen wie mit
einem… Menschen.
„Ähm, Schatz – das ist Kalessan, er wird die nächsten
Wochen auf unseren Sohn aufpassen. Kalessan, meine Frau Rita, mein Sohn Ninnel.“
Verblüfft beobachtete er, wie Kalessan seine Hand ausstreckte, um sie Rita
zu geben. Beide Parteien schienen von dem überaus heftigen Händedruck
ihres Gegenübers ziemlich überrascht und konnten sich anscheinend
nur mit Mühe zurückhalten, keinen plötzlichen Schmerzenslaut
auszustoßen.
„Bin erfreut.“, presste Kalessan hervor und begann, Karlmax‘
Frau abfällig-interessiert (oder auch interessiert-abfällig) von oben
bis unten zu mustern.
„Ebenfalls. Ihr seid also dieser ominöse Kalessan. Wisst ihr denn
überhaupt, wie man mit Kindern umgeht?“, fragte Rita in bemüht
freundlichem Tonfall.
„Hätte mich euer Mann sonst vorgeschlagen?“, entgegnete der
Drache.
„Also habt ihr schon einmal mit Kindern gearbeitet? Oder hattet ihr selbst
einmal eine Familie?“
„Äh, Rita, wir müssen jetzt schnell gehen, der Kutscher wartet
nicht mehr lange auf uns!“, rief Karlmax hastig dazwischen, der das Thema
von Kalessans Familie nun als allerletztes angesprochen haben wollte.
„Aber Schatz, ich möchte schließlich ein wenig über den
Mann erfahren, dem ich meinen Sohn über die nächsten Wochen anvertraue.“
„Ja genau! Ich könnte euch alle ja noch schnell zum Essen einladen
und wir besprechen die ganze Angelegenheit!“, bestätigte Kalessan
mit einem sadistischen Grinsen in Karlmax‘ Richtung.
„NEIN!“, rief Karlmax, lauter, als er eigentlich gewollt hatte,
was eine dieser kurzen, peinlichen Stillen zur Folge hatte.
Mit gesenkter Stimme fuhr er fort:
„Wir haben nicht mehr viel Zeit, wir müssen schnell zurück,
Schatz. Bitte vertrau mir in dieser Angelegenheit einfach – ich vertraue
ihm ja auch.“, sagte er mit einem ebenso vielsagenden Blick auf den grinsenden
Drachen.
„Nun gut Ninnel, wir lassen dich jetzt ein paar Wochen mit Onkel Kalessan
hier alleine. Er wird in dieser Zeit deine Familie für dich sein, also
benimm dich!“, und mit leisem Tonfall fügte er dann hinzu:
„Es ist zu deinem eigenen Besten!“
Rita gab zu Karlmax‘ Erleichterung klein bei und verabschiedete sich ebenfalls
von ihrem Sohn mit den üblichen Ratschlägen immer brav zu sein, dem
netten Herrn doch keinen Ärger zu machen und sich vor dem Essen immer die
Hände zu waschen.
An Kalessan gerichtet sagte sie dann noch:
„Dass ihr mir ja gut auf meinen Sohn aufpasst, und dass ihm auch ja nichts
passiert, versteht ihr? Ich kann zu einer wilden Bestie werden, wenn meinem
kleinen Ninnel etwas zustößt!“
Kalessan beugte sich leicht vor und erwiderte:
„Ich doch auch, meine Liebe…“
Karlmax entschied sich, dass es wirklich an der Zeit war, nun zu gehen, nahm
seine Frau mit sanfter Gewalt beiseite, verabschiedete sich noch mal von seinem
Sohn und richtete sich noch ein letztes Mal an den Drachen:
„Ihr wisst, was ihr zu tun habt?“
Kalessan nickte.
„Dann auf bald! Und… vielen Dank nochmals!“
Der Drache winkte lächelnd ab, was Karlmax jedoch nicht unbedingt beruhigte.
Dennoch verließ er mit seiner Frau nahezu fluchtartig das Geschehen.
Auf dem Weg zur Kutsche fiel ihm ein, was er mit Rita nun während der Abwesenheit
seines Sohnes ebenfalls etwas… ausgiebiger betreiben konnte und lächelte
glücklich – schon bei Sally war Rita wirklich nicht schlecht gewesen…
Für
Kalessan ging das ganze ein klein bisschen zu schnell. Auf einmal stand er alleine
vor seiner Höhle, zusammen mit einem kleinen, ihm völlig unbekannten
Menschenbengel, der ihn mit großen Augen nichtssagend anstarrte. Schlimmer
noch, er musste sich jetzt persönlich um dieses Ding kümmern… nicht
morgen, nicht später, nicht nachher, sondern jetzt, gleich, sofort! Na
toll…
„Komm mit rein!“, sagte er. Auf dem Weg in seine Heimstätte
würde ihm schon einfallen, wie er mit dieser Situation fertig werden sollte.
Er lief ein paar Meter, blieb dann stehen und drehte sich noch mal um –
der Junge hatte sich nicht vom Fleck bewegt und starrte ihn weiterhin durchdringend
an. Das konnte ja sogar ihm fast unangenehm werden…
„Was ist, bist du taubstumm oder so?“
Der Junge – Ninnel hieß er, richtig – schüttelte den
Kopf.
„Bist du vielleicht nur stumm?“
Er schüttelte den Kopf erneut.
„Und was ist dann dein Problem?“
„Meine Mama hat gesagt, ich darf nicht mit Fremden mitgehen.“
„Bitte, mir soll es nur Recht sein!“, mit diesen Worten drehte Kalessan
sich um und betrat seine Höhle. In seinem Hauptwohnraum angekommen, lehnte
er sich lässig an die Wand und wartete auf den Jungen, der ihm ja nun jeden
Moment hinterherkommen müsste.
Währenddessen blieb Ninnel draußen stehen und beobachtete zunächst
die Umgebung der Höhle, ohne sich dabei auch nur einen Millimeter zu rühren.
Nachdem er mit seiner Beobachtung fertig war, entschied er sich dazu, abzuwarten,
was denn als nächstes passieren würde. Er wartete ungefähr eine
halbe Stunde, dann stürmte ein wütender, roter Hüne aus der Höhle,
packte ihn am Kragen und schleifte ihn in sein Heim. Ninnel grinste stumm in
sich hinein.
Als Kalessan ihn, in seiner Höhle angekommen, an der Gurgel hochhob, grinste
er nur noch breiter.
„Jetzt hör mir mal zu, du Wurm! Solange du bei mir bist, wirst du
tun, was ich dir sage, nicht das, was deine werte Mutter dir irgendwann mal
gesagt hat – denn sie ist nicht hier, um dich zu beschützen, und
anscheinend soll ich diese Aufgabe übernehmen. Aber ich habe nicht die
geringste Lust, auf so ein kleines Menschlein aufzupassen, das mir keinen Respekt
zollt!“
Dass dem Jungen die Luftzufuhr abgeschnitten war, tat seinem Grinsen anscheinend
keinen Abbruch. Kalessan ließ ihn hinunter.
„Wenn du das noch mal machst, sage ich es meiner Mutter und die macht
dich dann zur Schnecke!“, sagte Ninnel mit einer für das eben Erlebte
nahezu unnatürlichen Ruhe.
„Und ich mache sie zu meinem Frühstück, sollte sie es versuchen.
Nur, weil ich deinem Vater was schuldig bin, heißt das nicht, dass ich
mir von ihm oder seinen Verwandten alles gefallen lassen muss! Hör also
gefälligst auf, mich zu duzen und zoll mir den Respekt, der mir gebührt!“
Ninnel fing wieder an, fies zu grinsen und brach daraufhin in folgenden Singsang
aus:
„Dududu duDu duDu duDudeldiDU, DU DU DU DU DU, dudeldudelDUdudu.“
Kalessan konnte sich nicht mehr daran erinnern, dass ihn je jemand offener und
vor allem sorgloser als jetzt verspottet hatte, was natürlich hauptsächlich
an seiner momentanen, weit weniger eindrucksvollen Gestalt lag.
„…Dududu, DuduDUdududu…“
Es reichte – jetzt kam die Zeit, um Eindruck zu schinden. Kalessan leitete
die Verwandlung ein und begann, zu wachsen und sich zu verändern.
„Dududu, dududu… dududu… «
Er wuchs und wuchs und wuchs und wuchs…
„Dudu… dudu… du…“
…und wuchs und wuchs und wuchs und wuchs…
„Du… du…“
…und wuchs, bis schließlich nicht mehr Onkel Kalessan, der Zwei-Meter-Mann,
sondern Kalessan der Fünfzig-Meter-Drache, die Höhle ausfüllte.
„…du… du?“
Kalessan beugte seinen massiven Schädel hinunter und brachte ihn kurz vor
dem kleinen Menschenjungen zum Verharren.
„Na, was sagst du jetzt, Winzling?“, brachte er leise, aber bedrohlich
hervor.
Ninnel zögerte kurz und sah ihn weiterhin ausdruckslos an. Dann sagte er:
„Du bist hässlich und du stinkst!“
Ausatmen!
Drachen können zu einigen der gefährlichsten Wesen der gesamten Welt
heranwachsen. Kalessan ist alt und sein persönlicher Gefährlichkeitsgrad
darf aufgrund seines Temperaments noch potenziert werden. Damit überholt
er sogar die drei schrecklichen Furien Alexzstrzuszszuszia, Chmlech’krach!clochchmchmrn
und Karl-Heinz, die vor allem wegen ihrer schrecklichen Namen und ihrer Angewohnheit,
sich nur mit vollem Namen anreden zu lassen, gefürchtet werden. Bei letzterer
streitet man übrigens noch um ihr Geschlecht – natürlich nur
in ihrer Abwesenheit.
Und ausatmen!
Ein Wesen wie Kalessan zu reizen ist also sehr sehr dumm.
Kalessan war sich dessen vollkommen bewusst, weswegen er, teilweise um sich
selbst zu beruhigen, diese Kreatur vor ihm einfach nur als „bemitleidenswert
dumm“ abtat und sich einredete, dass es doch eine viel größere
Bösartigkeit wäre, sie in diesem Zustand vollkommenster Dummheit weiterhin
existieren zu lassen, anstatt sie von ihrem Leiden zu erlösen.
Und wieder ausatmen!
„Na, haben wir uns langsam an diesen ‚Gestank‘ gewöhnt?“,
sagte er, bevor das groteske Pendel wieder zu ihm zurück schwang und er
es erneut mit einem kräftigen Hauch wieder in die andere Richtung pustete.
Ninnel hing kopfüber an einer langen Kette von einer der geruchsintensiven
Tannen in Kalessans Höhle und pendelte, vom Atem des Drachen angetrieben,
nun schon seit einiger Zeit immer hin und her.
„Ich erzähle meiner Mama davon!“, sagte er.
„Ach, und was will deine Mama gegen einen ausgewachsenen Drachen wie mich
ausrichten? Mir im Hals stecken bleiben?“
Überraschenderweise fand Ninnel darauf keine Antwort.
Mit einer Klaue brachte Kalessan das Ninnel-Pendel zum Anhalten und funkelte
den Jungen mit seinen gelb glühenden Augen an.
„Wir werden diese kleine Prozedur ab jetzt immer dann durchführen,
wenn du dich nicht benimmst, klar?“
Ninnel nickte.
„Und wenn du deiner Mutter oder deinem Vater davon erzählst, dann
werde ich sie hier auch aufhängen – das willst du doch nicht, oder?“
Ninnel schüttelte den Kopf.
„Gut, also wenn ich dich jetzt runterlasse, wirst du dich dann benehmen
und deine Beleidigungen zurücknehmen?“, fragte der Drache ihn mit
schiefgelegtem Kopf.
„Ja.“
Kalessan berührte die Kette kurz, welche mit einem leisen Klicken aufsprang.
Ninnel setzte er auf dem Boden vor sich ab und starrte ihn forschend an.
„Na… ich höre?“
Der durch Kalessans Prozedur sichtlich grün angelaufene Junge schaute ihn
trotzig an, sagte dann aber mit gesenktem Blick:
„Tutmirleid…“
Kalessan knurrte kurz, gab sich aber mit der Antwort zufrieden… mehr durfte
man von diesem Balg wohl nicht erwarten.
Dieser sich von seiner kleinen Folter offenbar sehr schnell erholende Balg sprach
ihn jedoch erneut an:
„Ich hab‘ Hunger!“
Faszinierend, wie viel Suizidpotential diesem Jungen anhaftete – jener
Satz erinnerte Kalessan nämlich just an seine eigenen, aufgrund dieses
in Griffweite liegenden, kleinen Snacks selber wieder erwachten Hungergefühle.
Zum Glück mochte der Drache Herausforderungen – als gefährlichstes
Wesen der Welt hat man nicht mehr viele. So galt es, die eigene Selbstbeherrschung
stärker sein zu lassen als Ninnels Eigenschaft, sich in ungeahnte Gefahrensituationen
zu bringen.
Nur fiel Kalessan erst jetzt auf, was für ein Problem die Nahrungsbeschaffung
für das Kind sein würde. Die örtliche Fauna packt nämlich
schneller die Koffer als man „Blaubeerpfannkuchen“ sagen kann, wenn
sich ein Wesen wie Kalessan in der Nähe einnistet und zum Beeren pflücken
und Brot backen sowie zum Einfach-in-die-nächste-Stadt-gehen-und-etwas-kaufen
war der Drache zu stolz.
Somit blieb nur das einzige Nahrungsmittel übrig, das dumm genug war, angesichts
der Präsenz des Drachen nicht zu fliehen.
Das einzige Nahrungsmittel, von dem Kalessan ganz genau wusste, wo er es finden
und einfach bekommen könnte.
Das einzige Nahrungsmittel, das Kalessan auch auf sehr schmackhafte Art und
Weise zubereiten konnte.
Und das war nun mal…
„Was
ist denn das?“, fragte Ninnel, als er das von Kalessan einige Zeit später
zubereitete Gericht sah. Es handelte sich um einen großen, sehr dunkelbraunen
bzw. bereits schwarz verkohlten, unförmigen Fleischklumpen, dessen Zubereitung
darin bestand, dass es auf dem Blatt einer großen, grünen Pflanze
lag. Man beachte, wie das Attribut „schmackhaft“ von Spezies zu
Spezies vollkommen unterschiedlich interpretiert wird.
„Ist doch egal, wovon das stammt. Das ist Fleisch, das ist nahrhaft, das
ist gesund – also iss!“, erwiderte der sich momentan in seiner menschlichen
Gestalt befindliche Kalessan.
„Das da sieht aber aus wie eine Hand!“, zeigte Ninnel auf ein aus
der Masse herausragendes Fleischstück.
„Ähm… da spielt dir deine Phantasie wohl einen Streich… du hast
doch sicherlich Hunger? Also iss endlich!“
Der leichte Anflug von Panik in Kalessans Stimme war sicherlich auch nur ein
Streich von Ninnels Phantasie…
„Aber an der Hand steckt noch ein Ring dran!“
Kalessan erlebte das faszinierende, menschliche Gefühl eines spontanen
Schweißausbruchs, als er näher hinsah und das glänzende Stück
Metall entdeckte, das auf einem der kleinen Auswüchse des Fleischklumpens
steckte.
Blitzschnell nahm er den Ring und brach dabei das Stückchen Fleisch, das
einem menschlichen Finger wirklich gar nicht mal so unähnlich war, ab.
Mit den Worten „Das ist gar kein Ring, sondern ein… ähm… ein
Stück Fett!“ steckte er ihn sich in den Mund und kaute darauf herum
– für einen Drachen in Menschengestalt ist das gar nicht mal so schwer,
da seine natürliche Kraft sich auf andere Erscheinungsformen seiner Wahl
überträgt. Bei einem Amok laufenden Drachen in Gestalt eines süßen
Kätzchens kann das schon mal ganz witzige bzw. blutige Ergebnisse haben,
was jedoch eine Episode seines Lebens ist, die Kalessan nicht gerne erwähnt
haben will. Für einen Drachen ist es jedenfalls ungefähr so anstrengend
einen soliden Metallgegenstand zu kauen, wie für einen Menschen eine Walnuss
mit Schale zu essen… man verzichtet also lieber darauf.
„Hmmm… lecker!“, würgte der Drache hervor und schluckte den
Ring hinunter. Leider hatte er ihn noch nicht auf eine für die Speiseröhre
seiner menschlichen Form akkurate Größe zurechtgekaut, weswegen ihm
das Metallstück auch wortwörtlich im Halse stecken blieb. Für
ein Wesen, das einen ganzen Ritter inklusive Rüstung, Pferd, Lanze und
allem Zubehör (wenn vorhanden also inklusive Knappen) schon mal im Stück
verschluckt eine entsprechend peinliche Situation. So taumelte Kalessan also
hustend und würgend durch die Pfützen seiner Höhle, schaffte
es dann irgendwie, seinen Hals zu befreien und das stark verformte Metallstück
wieder auszuspeien. Das laute *pling*, das ertönte, als der ehemalige Ring
auf dem Boden aufschlug, verhallte peinlich im Raum. Kalessan sah Ninnel erschöpft
von der Seite an.
Der Kommentar des Jungen zu der Situation war:
„Ich esse kein Fleisch!“
Über diesen Satz vergaß Kalessan sogar das Erschöpftsein und
starrte den Jungen ungläubig an.
„Du willst mir nicht wirklich erzählen, dass du einer von diesen…
wie hießen sie noch mal… Vegetierenden bist!?“
Ninnel nickte.
„Das soll also heißen, dass ich diesen schönen Braten hier
vollkommen umsonst getö… gefangen und zubereitet habe und jetzt noch
mal losziehen darf, um dir… Beeren oder… Brot oder so ein Zeug zu besorgen!?“,
fragte der Drache mit mühsam unterdrückter Wut in der Stimme.
„Ich mag auch Kartoffeln!“, sagte Ninnel fröhlich grinsend.
Kalessan erkannte, dass er um einen Einkauf in der nächstgelegenen Stadt
mit zugehöriger Beratung wohl nicht herumkommen würde – doch
man kannte ihn in dieser Gegend und wusste genau, was für eine Kreatur
er war, was wohl zu einer weiteren für ihn entsprechend peinlichen Situation
führen würde.
Nun war der Moment gekommen, an dem sich Kalessan ernsthaft fragte, warum er
sich überhaupt die Mühe machte. Warum er diesen kleinen Winzling nicht
einfach umbrachte und auffraß, wie er es mit so vielen vorher schon getan
hatte. Und warum er seine Eltern nicht auch gleich beseitigte. Moralische Probleme
sollte es ihm aufgrund seiner ethischen Einstellung gegenüber der Menschheit
doch eigentlich nicht bereiten!?
War es die offene Schuld gegenüber Karlmax, der ihm schließlich mehrfach
das Leben gerettet hatte?
War es die Herausforderung, einmal Selbstbeherrschung und auch Verzichten unter
Extrembedingungen zu üben?
Oder hatte ihm die Jahrtausende währende Einsamkeit und der Hass ganzer
Völker gegen seine Person doch mehr zugesetzt, als er eigentlich wahrhaben
wollte?
Eine genaue Antwort wusste er nicht – am Ende stand nur die Entscheidung:
„Ach, verdammt, na gut!“
Eine
noch so unangenehme Aufgabe kann erträglich werden, wenn man sie richtig
angeht. Um also vegetarische Nahrungsmittel herbeizuschaffen, von denen er keine
Ahnung hatte, stattete er der größten Stadt innerhalb seines Reviers
einen Besuch ab und forderte bei einer schnell organisierten öffentlichen
Kundgebung ein Opfer der Bevölkerung in Form von Lebensmitteln, welches
ihm fortan wöchentlich in seine Höhle gebracht werden solle, zahlbar
mit Abschließen jener Kundgebung.
Kalessan hatte die menschliche Bevölkerung in seiner Umgebung schon oft
in Abständen von ein paar menschlichen Generationen zu kleinen und großen
Tributen aufgefordert. Zu weit trieb er es dabei jedoch nie, da es doch sehr
unpraktisch sein kann, wenn einem das letzte verbleibende Nahrungsmittel einfach
in Scharen wegläuft und man mit einer insgesamt eher ärmlichen bis
nicht vorhandenen Tierwelt in der nächsten Umgebung zurückgelassen
wird.
Menschen lassen sich jedenfalls nicht lange bitten, wenn ein roter Drache auf
ihrem Marktplatz landet und ihnen Forderungen unterbreitet – seien sie
noch so seltsam und enthielten Dinge wie „vegetierende Lebensmittel“…
Kurze Zeit später flog Kalessan mit mehreren großen Behältern
voller Getränke und dieser Lebensmittel, die Menschen so gerne aßen,
ein wenig stolz auf sich, weil er diese prekäre Situation so clever gelöst
hatte, zurück zu seiner Höhle im Wald.
Ein wenig verwundert darüber, dass Ninnel sich immer noch darin aufhielt
(heimlich hatte er ja doch gehofft, dass der kleine Quälgeist von selbst
in den Wald laufen und von Kalessans Wolfshorde oder, besser noch, seinem alten
Gehilfen, gefressen werden würde), präsentierte er dem Jungen die
Lebensmittel, die dieser zu Kalessans noch größerer Verwunderung
annahm und sogar aß, was aus der Sicht des Drachen durchaus als eine Verbesserung
der Lage angesehen werden durfte.
Jedoch waren anscheinend noch längst nicht alle Bedürfnisse des kleinen
Menschen als abgehakt zu betrachten. Über das eine wird weder in der Literatur
noch in den Medien der unseren Welt gerne gesprochen, die gesamte Problematik
dieses Bedürfnisses sei jedoch mit Ninnels Satz „Ich muss mal Pipi!“
und dem Antwortsatz von Kalessan „Du musst mal was?“ zumindest
einmal angeschnitten. Zusammenfassend sei berichtet, dass jene Situation auch
die Sätze „Ich muss mal groß!“ und „Kannst du mir
mal abwischen?“ beinhaltete, aber das gehört im Detail nun wirklich
nicht hierher. Man sollte meinen, dass dies der ohnehin schon angeschlagenen
Psyche Kalessans den Rest geben müsse – doch ganz im Gegenteil, der
Drache fand es eher interessant, dieses Grundbedürfnis des menschlichen
Körpers näher zu beobachten, was ausnahmsweise mal Ninnel unangenehm
war.
Das Interesse für menschlichen Stoffwechsel lässt sich am besten erklären,
wenn man im Gegensatz dazu den eines Drachen mal näher betrachtet. Drachen
können einen ungeheuer hohen Anteil der Nahrung, die sie aufnehmen, auch
wirklich in Energie umsetzen – der geringe Prozentsatz an biologischem
Abfall, der beim Verdauungsprozess übrig bleibt, wird über periphere
Organe der Haut ausgeschieden, was jetzt natürlich höchstens für
einen Biologen von Interesse sein und von diesem wahrscheinlich auch noch aufs
schärfste wissenschaftlich zerpflückt werden dürfte. Dieser außergewöhnliche
Metabolismus des Drachen soll jedenfalls so stark sein, dass er es ihnen ermöglicht,
sogar Edelsteine zu schlucken und zu verdauen. Jeder Drache, der das einmal
ausprobierte, merkte jedoch, dass diese Behauptung nur zu 50 % wahr ist. Er
konnte den Stein schlucken und wurde nicht mal mehr zwingend krank, wiederholte
diese Tat jedoch nicht wieder – probieren Sie doch mal, einen 40karätigen
Edelstein auszuschwitzen!
Um auf menschliche Bedürfnisse zurück zu kommen – eines der
für Kalessan vielleicht angenehmsten stand noch offen. Und auf dieses war
er indirekt sogar vorbereitet…
Es äußerte sich in einem ausgedehnten Gähnen von Ninnel, einhergehend
mit der Frage:
„Wo soll ich denn schlafen, Onkel Kalessan?“
„Nenn mich nicht Onkel!“, zischte der Drache zurück, bewegte
sich aber gleichzeitig in die hinteren Bereiche seiner Höhle – möglichst
weit weg von diesem kleinen Etwas, das die Frechheit besaß, ihn „Onkel“
zu nennen, während der Rest der Menschheit noch nicht mal mehr mit einem
„durchlauchtigste Hochwürden“ durchkam – und in Richtung
seiner persönlichen Schatzkammer.
Wie bei Drachen nun mal üblich hatte auch Kalessan im Laufe seines langen
Lebens eine beachtliche Sammlung an Kostbarkeiten und Schätzen zusammengetragen.
Er war von seinen Reichtümern nicht ganz so besessen wie sein mehr oder
weniger verhasster Kollege Smahug, es reichte ihm also, sich lediglich ein paar
Stunden täglich an dem reinen Schein und dem süßen Klang des
Goldes zu ergötzen. In seiner Sammlung befand sich jedoch bereits ein mehrere
Jahrhunderte altes, rustikales Himmelbett +3, welches nahezu ausschließlich
aus Gold und Edelsteinen zu bestehen schien, dessen Vorhänge aus Seide
und dessen Decke aus Samt gemacht war.
Das Bett hatte er von einem Herrscher namens Futsch XIII. entwendet, der es
anscheinend sehr lustig gefunden hatte, Kalessan mit einer ganzen Armee anzugreifen.
Nicht mehr sehr lustig fand er später, sein ganzes Reich in Flammen zu
sehen und letztendlich Bekanntschaft mit dem Drachen selbst, beziehungsweise
mit seinem Verdauungssystem zu schließen. Kalessan erfuhr an Ort und Stelle,
dass Futsch XIII. aufgrund ernsthafter Schlafstörungen das gesamte Vermögen
seiner Ländereien für die Anfertigung dieses speziellen Bettes ausgegeben
hatte, was ihn angeblich wieder in Ruhe schlafen ließ. Dies erklärte
auch die vollkommene Abwesenheit jeglicher sonstigen Wertgegenstände auf
der Burg des Regenten, den Angriff seiner Armee auf Kalessan und dessen Reichtümer
sowie die militärische Stärke jener Armee, bestehend aus zehn invaliden
Greisen, die Futsch XIII. nur noch aus Loyalität zu dessen Vater dienten,
welcher sich übrigens aus Scham über seinen eigenen Sohn selbst das
Leben genommen hatte.
Das Bett war jedenfalls der einzige Gegenstand von Wert, den Kalessan hätte
mitnehmen können, was er letztendlich dann auch getan hatte. Ninnel würde
sehr bequem schlafen können.
Die Vorstellung, dass der Junge inmitten seiner Reichtümer schlafen würde,
behagte Kalessan jedoch nicht so recht, daher blieb ihm wohl oder übel
nichts anderes übrig, als den Jungen mit ihm zusammen in seiner Hauptwohnhöhle
schlafen zu lassen. In seiner menschlichen Gestalt brachte er das Bett in die
große Höhle zurück.
Ninnel beobachtete Kalessan, als dieser das zu seiner momentanen Größe
überproportional riesige, funkelnde Etwas an Bett hinter sich her schleifte
und bekam handtellergroße Augen.
„Oah, ist das etwa mein Bett?“
Sofort, als das Bett an Ort und Stelle – nämlich in der dunkelsten
Ecke der Höhle, genau gegenüber zu der, wo Kalessan selbst immer schlief
– platziert war, sprang Ninnel auf die Matratze und hüpfte fröhlich
auf und ab, was von einem stetig lauter werdenden Quietschen der bereits etwas
rustikaleren Federn begleitet wurde.
Mit Entsetzen beobachtete der Drache, wie sein schönes Bett langsam in
Grund und Boden gehüpft wurde. Schnelle Maßnahmen mussten ergriffen
werden:
„Wenn du dieses Bett kaputt machst… dann erzähle ich das deiner
Mutter!“
Das Quietschen verstoppte abrupt. Kalessan machte anscheinend ernsthafte Fortschritte
in der Kontrolle dieses kleinen Quälgeists. Die Gelegenheit nutzte er aus:
„Und jetzt leg dich sofort hin und schlaf!“
Tatsächlich verkroch sich Ninnel auch schon unter der Samtbettdecke.
Doch gerade als Kalessan sich umdrehte und zu seiner eigenen Schlafstätte
gehen wollte, ertönte es hinter ihm:
„Erzählst du mir noch eine Gute-Nacht-Geschichte?“
„Eine was?“
„Eine Geschichte! Ansonsten kann ich immer so schlecht einschlafen.“
„Du willst eine langweilige Geschichte hören, von der du einschläfst?“,
fragte der Drache ungläubig.
„Nein, einfach nur eine Geschichte… bitte!“, fügte der kleine
Junge mit Rehäuglein hinzu.
Drachen sind gute Geschichtenerzähler, und Kalessan machte da keine Ausnahme.
Also ließ er sich nicht mehr lange bitten, setzte sich auf die Ecke vom
Bett, die am weitesten von Ninnels Kopf entfernt war und begann seine Geschichte,
die ihm für diesen Anlass angemessen erschien:
„Es
war einmal ein kleiner, roter Drache. Der konnte nicht verstehen, warum seine
Brüder und Schwestern, seine Eltern, ja seine ganze Familie immer so gemein
zu den Menschen war. Seine Verwandten sagten nur immer:
‚Von den Menschen halte dich fern, sie sind gemein und bösartig und
möchten uns alle umbringen!‘
Doch der kleine Drache konnte das nicht verstehen. Deswegen hatte er auch keine
Freunde unter den anderen Drachen und sie lachten ihn immer aus, wenn er bei
ihnen mitspielen wollte.
‚Du kannst ja noch nicht mal Feuer speien!‘, riefen sie.
Also beschloss der kleine Drache eines Tages, in die Welt hinaus zu ziehen und
sich selbst Freunde zu suchen. Er kam in einen Wald und in diesem Wald traf
er auf den Hasen. Der kleine Drache fragte den Hasen:
‚Möchtest du mein Freund sein?‘
Doch der Hase antwortete nur:
‚Ich, dein Freund? Was hätte ich von einer Freundschaft mit dir?
Du bist doch viel zu groß, um in meinen kleinen Bau zu passen und ich
habe keine Flügel, um dich in deiner Höhle in den Bergen zu besuchen
– nein danke!‘
Und der Hase verschwand wieder in seinem Bau und kam nicht mehr hinaus.
Da wanderte der kleine Drache weiter und traf auf den Fuchs:
‚Fuchs, möchtest du mein Freund sein?‘
‚Ich, dein Freund? Warum sollte ich dein Freund werden wollen? Du bist
ein Geschöpf der Lüfte und ich lebe am Boden. So groß wie du
bist, würdest du mich hier im Wald auch nur beim Jagen behindern. Geh weg,
ich brauche keinen Freund wie dich!‘
Der kleine Drache lief weiter durch den Wald und traf auf den alten Bären.
‚Bär, willst du vielleicht mein Freund werden?‘
‚Ach, junger Drache, meine Knochen sind schon so alt und müde, ich
mache es wohl nicht mehr lange. Außerdem beginnt jetzt bald der Winter
und ich werde mich in meine Höhle zum Winterschlaf zurückziehen. Und
in diese kleine Höhle passt du nie im Leben rein!‘
Da war der kleine Drache sehr traurig, und er ließ sich auf einer Lichtung
nieder und weinte gar bitterlich. Da kamen auf einmal aus dem Wald seltsame
Gestalten. Sie hatten weder Fell noch Schuppen, sondern nur komische, bunte
Leiber und rosa Köpfe mit kleinen Haarbüscheln darauf.
‚Das müssen Menschen sein!‘, dachte sich der kleine Drache.
Die Menschen umkreisten ihn und sahen ihn komisch an, da fragte sie der kleine
Drache:
‚Hallo, ihr Menschen! Wollt ihr meine Freunde sein?‘
Einer der Menschen hatte einen kurzen, glänzend silbernen Stab dabei. Mit
diesem Stab piekte er den kleinen Drachen in die Seite.
Der kleine Drache verspürte auf einmal einen heftigen Schmerz, und als
er sich umdrehte, floss dunkles, rotes Blut aus einer Wunde an seiner Seite.
Da wurde der kleine Drache sehr böse, er nahm den Menschen der ihn gepiekt
hatte und riss ihn in zwei Teile, sodass das Blut zu allen Seiten wegspritzte.
Auf einmal zogen die anderen Menschen auch alle silberne, glänzende Stäbe
und begannen, auf den kleinen Drachen loszugehen.
Da wurde der kleine Drache noch viel wütender, denn er hatte den Menschen
ja gar nichts getan. Also schnellte sein Kopf vor und biss dem nächst besten
Menschen in den Oberkörper, nahm ihn hoch und schüttelte ihn solange,
bis sein blutiger Unterleib abriss und weggeschleudert wurde. Angefacht durch
den Geschmack des Blutes, hieb er mit seinen scharfen Krallen nach den kleinen
Kreaturen links und rechts von ihm, und immer, wenn er sie traf, ertönte
ein matschiges Geräusch, und die Körper der kleinen Menschen wurden
zerfetzt.
Nach kurzer Zeit war der kleine Drache von entstellten, menschlichen Körperteilen
umgeben und von seinen scharfen Klauen und spitzen Fängen tropfte rotes
Blut. Gerade zerquetschte der kleine Drache einen weiteren Menschen auf dem
blutgetränkten Boden, als die letzte der komischen, kleinen Kreaturen sich
umdrehte, um zu fliehen.
Da nahm der kleine Drache all seine Kraft zusammen und spie eine blaue Stichflamme,
die den Menschen in seinen eigenen Körpersäften langsam kochte.
Der kleine Drache war sehr stolz auf sich und wollte seine neu entdeckte Kraft
sofort ausprobieren. Er breitete seine Flügel aus und hob ab.
Schon bald entdeckte er aus der Luft eine Ansammlung von komischen Holzgebilden,
die oben mit Stroh bedeckt waren. Überall um sie herum wuselten die kleinen
Kreaturen, die man Menschen nannte. Das war genau das, wonach er gesucht hatte!
Der kleine Drache landete mitten zwischen den Holzdingern und setzte einige
von ihnen mit einem mächtigen Feuerstrahl sofort in Brand. Das machte den
kleinen Drachen unglaublich stolz – endlich hatte er etwas gefunden, womit
er spielen konnte!
Die Menschen versuchten natürlich sofort allesamt zu fliehen… doch sie
würden meinem Zorn niemals entkommen!
Ich spie Feuerwelle um Feuerwelle, und diese miesen, erbärmlichen Kreaturen
vergingen allesamt in dem Flammenmeer, das ich entfachte. Oh, ich hatte Spaß
daran, zuzusehen, wie ganze Familien umkamen, wie sie bei lebendigem Leibe verbrannten
und wie sich mir einige verzweifelte Menschen mit ihren kleinen Werkzeugen entgegenstellten,
nur um von mir zerfetzt zu werden…
Und dann war da dieser kleine Junge, der mich einfach nur anstarrte und sich
kein bisschen rührte. Er starrte mich sogar immer noch an, rührte
sich nicht und sagte kein Wort, als ich ihn aufnahm und dann langsam…“
Drachen
sind zwar sehr gute Geschichtenerzähler, aber wahnsinnig schlechte Pädagogen,
zumindest nach menschlichen Maßstäben.
Denn auf einmal erreichten die Worte, die Kalessan aussprach, auch den mitdenkenden
Teil seines Gehirns, und ihm wurde bewusst, was er da eigentlich redete.
Schockiert wagte der Drache einen Blick in Ninnels Richtung, doch der kleine
Junge war mit einem friedlichen Lächeln auf dem Gesicht eingeschlafen.
Es hätte auch eine von Schrecken verzerrte Grimasse sein können –
Kalessan hatte noch so seine Probleme mit dem Deuten menschlicher Gesichtsausdrücke…
Am
nächsten Morgen wachte Kalessan benommen und mit knurrendem Magen auf.
Der Drache war niemals gerne über einen längeren Zeitraum hungrig
und machte sich auch sofort auf die Suche nach etwas Essbarem. Seltsamerweise
wurde er noch in seiner Wohnhöhle fündig. Geistesabwesend steckte
er sich den kleinen Leckerbissen in sein Maul und lutschte darauf herum, sich
darüber wundernd, da er seine Nahrungsmittel doch sonst immer nur frisch
bezog und nie einlagerte. Da ertönten mit einem Mal die Alarmglocken der
Erkenntnis in Kalessans Kopf und der Drache spie sein Beinahe-Frühstück
schleunigst in seine Pranke, bevor es sich der vernünftigere Teil seines
Gehirns anders überlegte.
Triefend vor draconischem Speichel saß Ninnel in Kalessans Hand und sah
den Drachen vorwurfsvoll an.
„Erzähl mir nicht, dass dein Mund nicht stinkt!“
„Ähm…“
„Wolltest du mich gerade wirklich auffressen?“
„Ähm… nein!“, suchte Kalessan fieberhaft nach einer Ausrede
für seine morgendlichen Anlaufschwierigkeiten, „Ich wollte… dich
nur waschen! Wir Drachen reinigen uns so, verstehst du?“
Ninnels Gesichtsausdruck sagte selbst Kalessan, dass er schon über eine
normale Wäsche nicht sehr erfreut gewesen wäre.
„Ihr fresst euch gegenseitig auf, oder wascht ihr euch wirklich so?“,
fragte der Junge.
„Habe ich dich aufgefressen?“
Ninnel überlegte kurz:
„Nun… nein?“
„Also habe ich dich gewaschen, siehst du!“
„Ich fühl mich aber gar nicht sauber!“
„Halt den Mund!“, entgegnete der Drache und setzte Ninnel wieder
auf den Boden seiner Höhle, um sich Gedanken darüber zu machen, wo
er jetzt etwas zu Essen herbekommen könnte, ohne den Jungen zur Lösung
dieses Problems verwenden zu müssen. Einige Sekunden lang herrschte Stille,
bis Ninnel das Schweigen unterbrach:
„Du, Onkel Kalessan?“
„Ja?“, antwortete der Drache entnervt.
„Das war eine schöne Geschichte gestern Abend!“
„Halt den… oh… danke!“, sagte Kalessan, sichtlich überrascht.
„Warst du das in der Geschichte?“
Der Drache fuhr zusammen und giftete den Jungen an:
„Wie weit hast du mitgehört?“
Ninnel zuckte mit den Schultern.
Kalessan schnaubte, drehte sich von dem Kind weg und hielt es für besser,
dessen Frage nicht zu beantworten, als schon die nächste kam:
„Du, Onkel Kalessan?“
„Ja?“
„Meine Kleider sind ganz nass, ich brauche neue!“
Der Drache stöhnte auf. Wer hatte denn schon mal davon gehört, dass
einem roten Drachen statt Jungfrauen zusätzlich zu vegetarischen Nahrungsmitteln
sogar noch Kleider als Opfergaben dargebracht wurden? Er beschloss, wieder auf
jene guten, alten Methoden zurückzugreifen, wenn er die ganze Sache hier
hinter sich gebracht hatte – es galt, einen Ruf zu wahren!
Wenigstens musste er beim Besorgen von Kleidung und Nahrungsmitteln nicht mit
diesem Quälgeist zusammen sein…
Als
die folgenden Tage vergingen, pendelte sich eine gewisse Form der Beziehung
zwischen Kalessan und Ninnel ein, die am ehesten mit der Beziehung zwischen
Haustier und Herrchen zu vergleichen ist. Leider konnten sich beide Parteien
nicht darauf einigen, welcher von ihnen denn nun das Haustier sei.
Kalessan entdeckte, dass Ninnel durchaus zu ertragen war, wenn der Drache ihm
Geschichten erzählte. Und ein Wesen, das schon mehrere Millennien auf dem
Buckel hat, kann so einiges an Geschichten erzählen, wobei Kalessan jedoch
darauf achtete, nicht mehr allzu persönlich in seinen Ausführungen
zu werden und wichtige Details über seine Rasse und sein Leben wohlweislich
vorzuenthalten.
Ninnel wurde einigermaßen ruhig gehalten, sein Nachschub an Versorgungsmitteln
und Kleidung war gesichert und Kalessan begann, ein Interesse an dem Jungen
zu entwickeln, das immerhin dem eines Insektenforschers gegenüber einer
Zecke gleicht, die sich an seinem Körper festgesaugt hat.
Es war eigentlich ein Zustand, der in dieser Form hätte beibehalten werden
können, hätten sich nicht die Ereignisse der zweiten Woche auf einmal
überschlagen…
Kalessans
Geruchsinn und Gehör hatten ihm schon einige Zeit vorher die folgende Begegnung
angekündigt, und normalerweise war er ein wenig Unterhaltung dieser Art
nicht abgeneigt, dennoch hätte er es in diesen paar Wochen lieber vorgezogen,
eine derartige Begegnung zu vermeiden. Sie wurde eingeleitet mit den Worten:
„A-HA, übles Echsenmonster, euer letztes Stündlein geschlagen.
Flehet um Gnade, und ich verspreche euch, bei meiner Ehre, dass ich es schnell
machen werde!“
„Och nö, einer von denen!“, dachte sich Kalessan und nahm sich
den Drachentöter mal näher unter die Lupe. Wie zu erwarten war, trug
er eine blendend strahlende und aufpolierte Ritterrüstung, die in goldenen
Farben leuchtete und einen gleichfarbigen Helm, dessen Visier momentan hochgeklappt
war und ein babypopoglattes Gesicht mit kantig geschnittenen Zügen offenbarte.
Die Berufung des Drachentöters wurde noch von seiner langen Lanze sowie
seinem Schild, auf dem ein Drache in einem durchgestrichenen, roten Kreis abgebildet
war, unterstützt.
Das Pferd, auf dem er saß, stand offensichtlich unter Drogen – ansonsten
hätten auch keine 10 Pferde es in Kalessans Höhle bekommen, was ja
sowieso schon ein Widerspruch in sich ist. Auf der anderen Seite würde
ein unter Drogen stehendes Pferd dem Ritter wenig Nutzen im Kampf sein, es musste
sich also um ein ausgebildetes, erfahrenes Tier handeln, dessen Angstschweiß
Kalessan nichtsdestotrotz lieblich duftend in die Nase stieg – wer konnte
es dem armen Tier verübeln? Ein Reittier verrät häufig eine Menge
über seinen Reiter – bei jenem Ritter und seinem Ross handelte es
sich also um ein eingespieltes, mit Drachen erfahrenes Team, was somit ein wenig
vorsichtiger zu behandeln war als der ganze restliche Heldenschund.
Kalessan fand, dass es an der Zeit war, etwas zu sagen:
„Oh, bitte nicht heute, könnten wir dieses Treffen nicht ein wenig
verschieben? Seht ihr denn nicht, dass ich gerade damit beschäftigt bin,
dem Kleinen hier eine Geschichte zu erzählen?“
Ninnel winkte dem Ritter grinsend zu. Dessen Augen weiteten sich vor Schrecken.
„Ihr habt einen kleinen Jungen entführt? Ihr garstiges Monster, dafür
werdet ihr noch heute in der Hölle schmoren! Seid unbesorgt, kleiner Junge,
ich werde euch aus den Klauen dieses Drachen befreien!“
„Wollt ihr mal wissen, wie oft ich diesen Satz in genau demselben Wortlaut
in meinem Leben schon gehört habe?“, erwiderte Kalessan, „Genau
164mal, diese Begegnung hier mitgerechnet. Und genauso viele kleine Jungen wurden
nicht aus meinen Klauen befreit, also, ihr dürft euch jetzt entfernen
– heute ist euer Glückstag!“
„Faule Reden von gespaltenen Zungen! Ihr könnt mich mit eurer Prahlerei
nicht ängstigen! Denn sehet: die Anti-Drachenlanze – sie hat noch
jedem eurer Rasse, der sich mir in den Weg gestellt hat, den Garaus gemacht!
Außerdem bin ich in meinem Auftrag nicht alleine: Mein Gott Helmchen ist
mit mir, er wird mich in diesem Kampf beschützen!“
„Boah, ein Kampf – wirst du gegen den Mann da kämpfen, Onkel
Kalessan?“, rief Ninnel freudig aus.
„Halt du dich da raus, Junge! Hört mal, Ritter, ich will keinen Ärger
vor dem Kleinen hier. Also, wer hat euch angeheuert und wie hoch ist seine Bezahlung?
Ich zahle euch das Doppelte!“, brachte Kalessan mühsam hervor, mit
dem Hintergedanken, später von Karlmax das Dreifache zurück zu verlangen.
„Ihr könnt das schmutzige Geld aus eurem Hort behalten, Drache, ich
will es nicht! Ich arbeite für die Ehre, für Helmchen und momentan
für die liebreizende Lady Syrop, die euren Kopf verlangt hat!“
Kalessan seufzte – diese Konfrontation war also nur auf eine Art und Weise
zu lösen. Den Namen Syrop musste er sich wohl mal merken. Ein Exempel zu
statuieren würde sicherlich eine spaßige Aufgabe werden. Momentan
erinnerte er sich jedoch an Karlmax‘ Bitte, seinen Sohn mit allzu schrecklichen
Gewaltdarstellungen zu verschonen und wandte sich an den Jungen:
„Pass auf, wir spielen mit diesem Herren hier jetzt mal eine Runde Verstecken,
ja? Du drehst dich gleich um und zählst laut bis… 48, dann darfst du
den Ritter in dieser Höhle suchen gehen. Aber du darfst dich kein einziges
Mal vorher umdrehen, egal was du von uns beiden hören solltest, ansonsten
ist das ganze Spiel verdorben! Verstanden?“
Ninnel nickte aufgeregt.
Dann sprach Kalessan erneut zum Ritter:
„In Ordnung Ritter, wir beide sind bereit, es kann losgehen! Und im Übrigen
werdet ihr nach näherer Untersuchung feststellen können, dass meine
Zunge entgegen aller öffentlichen Vorstellungen nicht gespalten
ist.“
Damit nickte er Ninnel zu, der sich umdrehte, die Augen zuhielt und mit dem
Zählen begann:
„1…“
Gleichzeitig war der Kampfschrei des Ritters sowie das Wiehern seines Pferdes
und lautes Hufgetrappel zu hören, dann das mächtige Rauschen eines
großen, sich schnell bewegenden Körpers, das Splittern von Holz,
ein kurzes „BUH!“ von einer tiefen, machtvollen Stimme, das erneute,
diesmal von Angst erfüllte Aufwiehern des Pferdes, ein dumpfer Aufprall,
sich rasch entfernendes Hufgetrappel.
„Meine Lanze! Mein Pferd!“
„20…“
„Na wartet – sehet: das Anti-Drachenschwert!“
„24…“
Das Geräusch schabenden Metalls, Fußgetrappel, von scharfen Gegenständen
durchschnittene Luft, das Bewegen des großen Körpers, das Stöhnen
und die Rufe des Ritters, der Aufprall von Metall auf einen anderen, harten
Körper.
„Aber das Schwert… warum… warum wirkt es nicht?“
„37…“
Die blitzartige Bewegung einer großen Masse, ein kurzes *klong*, ein Aufstöhnen
des Ritters, das lange Schliddern eines metallischen Gegenstands auf dem Boden.
„Nein, nicht auch noch mein Schwert!“
„43…“
Das kurze, unangenehme Geräusch von spitzen Gegenständen auf glatter
Metalloberfläche, ein erneuter, panischer Aufschrei des Ritters.
„45…“
Ein dumpfes Grollen, das Geräusch von etwas sehr großem, sich
öffnendem.
„46…“
„Nein, bitte, tut das n…“
Die Stimme des Ritters wurde gedämpft.
„47…“
*GLUCK*
„48… ICH KOMME!“
Ninnel machte die Augen auf und drehte sich um. In der Höhle stand Kalessan,
als ob nichts geschehen wäre und sah ihn nervös-freundlich an. Der
Junge begann, die Höhle nach dem Ritter zu durchsuchen. Es dauerte allerdings
nicht lange, bis er bemerkte, dass es in Kalessans Wohnraum keinerlei Nischen
und überhaupt jegliche Art von Versteck gab, außer vielleicht unter
Ninnels Bett, aber dort lag der Ritter auch nicht.
„Hat er sich vielleicht in deiner Schatzkammer versteckt?“
„Ähm… nein!“
„Und ist er vielleicht nach draußen gegangen?“
„Nein!“
Ninnel sah enttäuscht aus.
„Dann weiß ich auch nicht, wo er ist – kannst du mir nicht
einen Tipp geben? Bittebittebitte!“
„Na gut, ähm… ich habe… ihn weggezaubert, du kannst ihn gar nicht
finden! War ein kleiner, fieser Scherz von mir, haha.“, sagte Kalessan.
Der Junge machte sofort große Augen.
„Boah, du hast ihn echt weggezaubert? An einen anderen Ort?“
„Ähm… in gewisser Weise, ja…“
„Kannst du mich auch mal wegzaubern? Bittebittebitte, Onkel Kalessan!“
„Das würde ich liebend gerne machen, aber ich fürchte, deine
Eltern hätten etwas dagegen.“
Der Drache hasste es, wenn Ninnel mit seinen großen, flehenden Augen ihn
so bittend anstarrte, gerade so als ob es ihm gefallen würde, das Schicksal
jenes Ritters zu teilen… dass er die gleiche Blutgruppe wie sein Vater hatte,
machte es für Kalessan auch nicht einfacher.
„Kannst du dann den Ritter wieder herholen, ich will noch mal Verstecken
spielen, diesmal aber ohne Wegzaubern!“
„Ähm… ich fürchte, dieser Ritter ist jetzt leider zu beschäftigt,
um noch mit dir spielen zu können, tut mir leid.“, sagte Kalessan
und rülpste laut und voluminös.
Das Kind setzte einen entrüsteten Gesichtsausdruck auf:
„Meine Mama hat gesagt, das gehört sich nicht!“
Der Drache zog eine Augenbraue hoch:
„Pah, das ist mal wieder typisch für eure Spezies, nur aus Höflichkeitsgründen
ganz normale Körperfunktionen zu unterdrücken – wenn du so etwas
unterdrückst, dann verleugnest du dich selbst, Kleiner!“
Er traf auf zwei große Abgründe der Verständnislosigkeit in
Form von Ninnels Augen.
„Und wo ist das Pferd von dem Ritter?“, wechselte der Junge schnell
wieder das Thema.
Kalessan dachte an sein privates Wolfsrudel im nahe liegenden Wald, das mittlerweile
ziemlich ausgehungert sein dürfte.
„Auch weggezaubert.“
„Och menno, das ist doof, keiner will mit mir spielen!“, entgegnete
Ninnel enttäuscht und trat einen kleinen Stein auf dem Boden weg. Sein
Blick hellte sich jedoch sofort auf, als der Stein beim Aufprall ein kleines
*klonk* von sich gab und er das Schwert des Ritters in der Höhle liegen
sah. Sofort rannte er hin, hob die Waffe unter Aufbietung aller seiner Kräfte
auf und richtete sie auf Kalessans Brust.
„Ha HA, sieh mal, ich bin ein gefährlicher Drachentöter!“,
rief er freudig aus.
Kalessan verdrehte die Augen.
„Führ mich nicht in Versuchung, dich doch noch wegzuzaubern, ja?“
„Hä?“
„Gib mir einfach die Waffe, jemand wie du sollte nicht mit so etwas herumspielen.“,
seufzte der Drache und nahm Ninnel das Schwert weg, was dieser mit einem beleidigt-enttäuschten
Blick quittierte. Glücklicherweise wusste er es besser, als jetzt mit einem
großen Heul- und Schreikrampf anzufangen. Stattdessen fragte er:
„Kannst du mir vielleicht beibringen, wie man mit einem Schwert kämpft?“
„Ich könnte es vielleicht, aber ich würde es selbst dann nicht
tun, wenn ich die Erlaubnis von deinem Vater hätte. Denn wie du siehst,
bin ich ein großer, Furcht einflößender Drache und habe nicht
die allergeringste Lust, noch so einen Möchtegern-Drachentöter heranzuzüchten,
der nach meinem Blut lechzt und nach dem Kampf mit mir eh nur winselnd und ängstlich
am Boden kriecht.“
Ninnel reckte trotzig das Kinn in die Höhe.
„Ich werde mal Drachentöter, wenn ich groß bin – dann
musst du vor mir Angst haben und mir gehorchen und vor mir auf dem Boden kriechen!
Dann kann ich machen, was ich will. Und dann habe ich ein eigenes Schwert!“
Kalessan hatte schon befürchtet, dass er so etwas sagen würde.
„Meinetwegen. Wenn du mal groß bist und das hier immer noch nicht
verdaut haben solltest – ich warte auf dich! Für heute gibt es jedenfalls
keine Geschichten mehr – du kannst ja mal darüber nachdenken, wie
wichtig es wirklich für dich ist, ein Drachentöter zu werden!“
Mit diesen Worten wendete er sich von dem Kind ab, legte die Klinge zu den Aberhunderten
anderer Anti-Drachenschwerter in seiner Schatzkammer und versiegelte den Raum
wieder.
Ninnel würde heute unausstehlich werden…
Ein
jeder kennt diese Tage, an denen einem hintereinander nur grauenhafte Dinge
passieren und man sich so vorkommt, als ob ein riesengroßer Hammer der
Negativität einen langsam und Stück für Stück in die Wand
der vollkommenen Verzweiflung nageln würde. Kurzum, es scheint so, als
hätten sich sämtliche Götter gegen einen verschworen.
Kalessan kannte die Götter… mit einigen von ihnen traf er sich sogar
mehr oder weniger regelmäßig zu einem kleinen Plausch. Ihnen schob
er also nicht die Schuld in die Schuhe für einen dieser Tage, der in diesem
Fall schon mit einem besonders miesen Traum begann:
Ein alter Mann saß inmitten von zwei Dutzend schreienden Kindern und lächelte
sie an, während sie fröhlich kreischten und in die Hände klatschten.
„Oh bitte, erzähle uns noch eine Geschichte!“
„Ja, erzähl uns noch eine Geschichte!“
„Oh ja, bittebittebitte!“, tönte es von allen Seiten her.
Der alte Mann lachte laut auf und strahlte die Kinder ringsum nur noch freundlicher
grinsend an.
„Aber natürlich, ihr kleinen Racker. Also, passt auf: Es war einmal
ein kleiner, roter Drache…“
Die Kinder unterbrachen ihn im Chor:
„Die Geschichte, wie du von den Menschen grundlos angegriffen wurdest
und ihr Dorf vernichtet hast, kennen wir aber schon!“
„Genau, erzähl lieber noch mal die Geschichte, wie die Menschen deine
Partnerin und alle deine Jungen umgebracht haben!“
„Ja, genau! Bitte, Onkel Kalessan!“
„Ja, bitte, Onkel Kalessan!“
Onkel Kalessan…
Onkel Kalessan…
Kalessan…
„Onkel
Kalessan?“
Der Drache schreckte hoch. Die zwei Dutzend Kinder verschmolzen zu einem einzigen,
das direkt vor Kalessans Schnauze stand.
„Wasch?“, murmelte der Drache, vom alleinigen Anblick des Quälgeistes
schon vollkommen entnervt.
„Du hattest einen Albtraum und warst sehr laut.“, sagte Ninnel,
der anscheinend ebenfalls unfreiwillig geweckt wurde und noch seinen ihm viel
zu großen, anscheinend sündhaft teuren Schlafanzug trug, den Kalessan
als „Geschenk“ aus einer der umliegenden Städte erhalten hatte.
„Oh… Habe ich irgendwas verdächtiges gesagt, wovon du nichts erfahren
solltest?“
„Nein, du hast mich nur geweckt.“, erwiderte der Junge vorwurfsvoll.
„Na dann ist ja alles in Ordnung.“, entgegnete Kalessan und gähnte
herzhaft.
Ninnel hielt sich die Nase zu und starrte in den Schlund seines Aufpassers.
„Du hast da lauter Stofffetzen zwischen den Zähnen!“
Kalessan schloss seine Kiefer hastig.
„Oh… ähm… wo kommen die denn her?“
So langsam hatte der Drache es satt, seine Vorlieben für fleischliche Genüsse
vor dem Jungen geheim zu halten.
„Hast du etwa einen Menschen aufgefressen?“
„JA, DAS HABE ICH!“
So, jetzt war es raus… eine ehrliche Frage, eine ehrliche Antwort… da konnte
er genauso gut weitermachen:
„Ich habe schon hunderte Menschen gefressen, ach was, tausende, sogar
so kleine Grünschnäbel wie dich – und ich habe dabei nicht mal
mehr mit der Wimper gezuckt, sondern genossen, wie sie geschrieen und gebettelt
und gezappelt haben und wie ihre Knochen zwischen meinen Zähnen knackten.
Ich mag den Geschmack ihres Fleisches, ihres Blutes und ihre kleinen unbehaarten
Körper, die einem nicht so schwer im Magen liegen wie das ganze andere
Gewusel auf diesem verdammten Planeten. Na, wirst du nun winselnd auf dem Boden
kriechen, weil du jetzt weißt, dass ich ein übler, gewalttätiger
Menschenfresser bin?“
„Kommt drauf an: Wirst du mich jetzt auch fressen?“
„So sehr ich deine kriecherische Rasse und vor allem anderen dich
verachte – nein! Ich habe deinem Vater etwas versprochen und ziehe das
jetzt auch durch.“
„Na dann ist ja alles in Ordnung!“, erwiderte Ninnel fröhlich
und löste seinerseits fast einen Schockzustand bei Kalessan aus.
„Was soll das heißen… ich habe dir gerade eröffnet, dass
ich schon unzählige Menschen umgebracht habe und du hast immer noch keine
Angst vor mir?“
„Nun, von irgendwas musst du ja leben… außerdem hast du gerade
auch gesagt, dass du mich nicht fressen wirst, warum sollte ich also Angst haben?“
Weil ich dich auf hunderte andere Arten umbringen könnte!, dachte
sich der Drache, sprach diesen Gedanken aber nicht laut aus, sondern starrte
nur verblüfft auf den kleinen Jungen, der sich unbesorgt von ihm abwandte
und mit anderen Dingen beschäftigte.
Dies war wohl die berühmte Unbeschwertheit eines Kleinkindes…
Wäre die Welt doch nur so simpel!
Nun, anscheinend würde sich der Drache in seinen Eigenarten jetzt doch
nicht so drastisch zurückhalten müssen, wie er es die ganze zurück
liegende Zeit zu Ninnels Anwesenheit in seiner Behausung getan hatte… es sah
so aus, als würde der folgende Tag doch gar nicht so schlecht werden.
Doch wie schön wäre das gewesen…
Die
seltsamsten Ereignisketten werden manchmal durch die unpassensten Sätze
begonnen. In diesem Fall lautete der Satz: „Lieferung für Kalessan!“
Dies war zunächst nicht verwunderlich, da an jenem unheilvollen Tag genau
eine Woche vergangen war, seitdem der Drache auch Doofdorf, eine weitere Siedlung
in seiner Umgebung, freundlich dazu gebeten hatte, ihm wöchentlich Opfergaben
zu bringen. So viel Freundlichkeit kann kein Dorf widerstehen, von daher kam
die Lieferung der verlangten Nahrungsmittel auch äußerst rechtzeitig.
„Stellt das Zeug einfach irgendwo hier hin, meidet dabei die Pfützen
und haut dann wieder ab, ja?“
Kalessan sah sich die beiden Herren, die die bunt geschmückten Körbe
voll vegetierender Nahrungsmittel mitbrachten, genau an. Normalerweise wurde
diese Aufgabe von unbeliebten, dreckigen und vor allem entbehrlichen Dorftrotteln
erledigt, diese beiden schienen jedoch recht kräftig zu sein. Außerdem
hatten sie beide exakt die gleiche, uniformähnliche Kleidung an, auf die
groß die Buchstaben „LL“ aufgestickt waren. Kalessan ging
im Kopf schnell alle bekannten Wappen von Rittern und Drachentötern durch
und untersuchte die Menschen auf Anzeichen von alten Drachentötertricks.
Als er nicht fündig wurde, fragte er nach:
„Wofür steht das ‚LL‘ auf eurer Kleidung?“
„Wat? Oh, dat steht für ‚Lennys Lieferungen‘, Zustelldienst
alla ersta Jüte, zu Diensten!“
„Oh toll, freut mich… ihr dürft euch dann jetzt verpissen!“
„Eenen Moment noch, Meesta, wat solln wa’n mit der Jungfroo da machn?“,
erkundigte sich der Zusteller.
Erst jetzt bemerkte Kalessan die an einen Holzpfahl gefesselte Frau, die von
einem dritten Zusteller auf einem kleinen, rollbaren Gefährt herein geschoben
wurde. Angesichts des offensichtlichen Alters der Frau von über 50 Jahren
hätte die Bezeichnung Jungfrau jedoch unzutreffender nicht sein
können.
„Was soll das werden, ich habe gar keine Jungfrau bestellt. Und schon
gar nicht so eine alte Schrulle wie die da!“, empörte sich Kalessan
bei dem obersten Zusteller.
„Hey, das habe ich gehört, Schätzchen!“, rief die Jungfrau
aus.
„Ick hab ooch nur meene Anweisungen, weeste, und ick wees ooch nich, wat
ick mit so ner alten Schraube anfangen soll. Also, wohin mit dem Teil?“
Kalessan hatte absolut keine Lust, sich jetzt mit einem derartig grauenhaften
Akzent weiterhin auseinanderzusetzen und entgegnete:
„Na gut, na gut, stellt sie da drüben ab.“
Der Zusteller tat, wie ihm geheißen ward. Damit war anscheinend schon
alles in der Höhle abgeliefert, was die drei Herren dabei hatten. Dennoch
schienen sie noch nicht zu beabsichtigen, Kalessans Behausung zu verlassen.
„Jut, dat macht dann Eensfuffzich Bearbeitungsjebühr biddesehr.“,
ließ sich der oberste Zusteller vernehmen.
„Bitte, was?“
„Na, wir machen unsre Arbeit ja ooch nich umsonst, wa?“
„Ja toll, aber von mir werdet ihr kein Geld bekommen, also haut ab!“,
giftete Kalessan die Menschen an.
„Was wollen die Männer da von dir?“, fragte der anscheinend
gerade erneut aus seinem Bett gekrochene Ninnel.
„Gar nichts wollen die. Gar nichts bekommen die!“
„Jetz hör mal zu, Meesta, so wie ick det sehe, is dat hier ne bereits
bezahlte Nachnahmebestellung, in der aber noch nich die Bearbeitungsjebühr
für unser Unternehmen enthalten war, und ick werd diese Höhle hier
nich verlassen, bis ick die ausjezahlt bekommen hab, klar? Wennde willst, kannste
det Finanzielle ja jerne mit den Absendan rejeln, ick will jetz jedenfall meen
Jeld habn!“
„Sag mal, ist dir eigentlich klar, was du hier vor dir hast und mit wem
du so unverfroren sprichst?“, zischte der Drache.
„Du kannst mir natürlich jerne drohen, aber ick sach dir, mit den
Jewerkschaften willste dir ooch nich anlejen! Und vor dem Kleenen da willste
uns doch sicherlich nüscht antun, nich oder?“
„Ha, jetzt hat er dich aber dran bekommen, Schätzchen!“, warf
die Jungfrau ein.
„Du da drüben hältst mal brav die Klappe, ja?“
Eine Stimme ertönte:
„A-HA, übles Echsenmonster, so habe ich euch doch noch gefunden.
Nun hat euer letztes Stündlein geschlagen!“
Oh nein!, dachte sich Kalessan, als der dazu passende Ritter, der ein
Zwilling zu dem letzten Eindringling hätte sein können, seine Höhle
betrat.
„Und was muss ich da sehen! Ihr schändliches Untier haltet eine holde…
Jungfrau?… ähm… gefangen und dazu noch… drei Lieferanten von ‚Lennys
Lieferungen’…?“
„Oh, schau mal, Onkel Kalessan, noch ein Ritter zum Webzaubern!“,
rief Ninnel freudig aus.
Der Drachentöter keuchte, schien aber angesichts dieser wirklichen Greueltat
seine Fassung wieder zu gewinnen:
„Ihr habt einen kleinen Jungen entführt? Ihr garstiges Monster, dafür
werdet ihr noch heute in der Hölle schmoren! Seid unbesorgt, kleiner Junge,
ich werde euch aus den Klauen dieses Drachen befreien!“
„165…“, dachte sich der Drache.
„Die edle Lady Syrop hat also richtig daran getan, mich mit dieser Aufgabe
zu betreuen!“
„Wer zur Hölle ist diese Lady Syrop eigentlich?“, unterbrach
Kalessan den Drachentöter verwirrt.
„Das tut jetzt nichts zur Sache, ihr solltet nur ihren Namen wissen, bevor
ich euch umbringe!“
„Ey, aber erst will ick meen Jeld haben, damit dat klar is, ja?“
Ein weiterer Mensch betrat die Höhle:
„Boah, ein Drache!“
Der Kleidung nach zu urteilen, schien es sich um einen jungen Mann aus einer
anderen Dimension zu handeln – ganz genau das, was Kalessan jetzt noch
brauchte!
„Wow, ein Drache wird mich auf meine Weltenrettermission schicken, das
ist ja so cool!“
„Aber ich war zuerst da, Fremder aus einer anderen Dimension, von daher
werde ich ihn umbringen, bevor er euch auf so eine unheilige Mission schicken
kann!“, erwiderte der Drachentöter.
„Und was soll ich dann hier?“, fragte der Reisende.
„Hey, ich habe meine besten Kleider extra für diesen Anlass angezogen,
und ich bin nicht einfach nur zum Spaß hierher gekommen!“, rief
die Jungfrau dazwischen, deren Kleidung sich bei genauerem Betrachten als bemerkenswert
schäbig entpuppte.
„Jenau, und wat is dann mit meenem Jeld, wie soll ick dat dann bitte bekommen?“
„Ja, und was ist mit meinem Geld?“, erkundigte sich die
nächste Gestalt, die die Höhle betrat und sich als der alte Angestellte
aus Kalessans Wald entpuppte, der offensichtlich sein Gehalt einfordern wollte.
Kalessans Augen zuckten nervös von einem Menschen dieser kleinen Ansammlung
in seiner Höhle zum anderen – sein rechtes Augenlid begann, unkontrolliert
zu zittern.
„Oh, ihr seid doch der alte Mann, der mich hier hereingeschickt hat!“,
sagte der transdimensional Reisende zum Alten.
„Hmja, ich sehe schon, der Drache hatte anscheinend noch keine Möglichkeit,
sich mit euch zu… beschäftigen… nun, sieht so aus, als müsste
er mir zuerst meine Bezahlung geben, ansonsten geschieht hier gar nichts!“,
gab dieser zurück.
„Oh, er bezahlt euch dafür, dass ihr Leute zu ihm schickt? Warum
denn?“
„Ähm… vergesst es!“
„Du, Onkel Kalessan, was wollen die denn alle hier?“
Kalessans linkes Augenlid begann nun ebenfalls zu zucken.
„Kommen wir jetzt langsam mal voran? Ich habe heute noch zwei Duelle zu
bestreiten und eine bösartige Räuberbande auszulöschen, mein
Terminkalender lässt keinen Platz für Verspätungen!“, machte
sich der Ritter lautstark kund.
„Und wir ham heute ooch noch die eene oder andre Lieferung zu machen,
näch?“
„Ich werde langsam steif an diesem ollen Pfahl hier!“
„Ich kann es kaum erwarten, diese Welt vor dem Bösen zu retten!“
„Und ich kann es kaum erwarten, endlich mal wieder meine wohlverdiente
Bezahlung zu bekommen!“
„Du, Onkel Kalessan, ich habe Hunger!“
Alle Blicke richteten sich erwartungsvoll auf den Drachen, dessen ganzer Kopf
nun sichtbar vibrierte.
Kalessans Ausbruch traf sie schnell, hart und vor allem unerwartet.
In
einem Ausbruch verzweifelter Gutmütigkeit zahlte er den Alten und die Lieferanten
aus, vereinbarte einen neuen Termin mit dem Drachentöter
(„Und was ist, wenn ihr eure Gefangenen in diesem Zeitraum umbringt? Das
kann ich nicht zulassen!“
„Aber dann fällt eure Rache doch nur umso schrecklicher aus, nicht
wahr?“
„Oh ja – also wagt es nicht, Echse!“)
und schickte den Fremden aus der anderen Dimension auf eine Reise. Doch diesmal
war es ausnahmsweise nicht die Reise in Kalessans Magen, sondern wirklich in
einen anderen Teil des Kontinents:
„Also passt auf, ihr nehmt diesen Brief hier und übergebt ihm einem
anderen Vertreter meiner Art namens Morkulebus dem Schwarzen. Ihr findet ihn
in den finsteren Sümpfen des Schwarzen Todes.“
„Boah, das hört sich voll cool an! Und was muss ich dann machen?“
„Morkulebus wird wissen, was mit euch zu tun ist – nur dürft
ihr diese wichtige Botschaft niemals verlieren und niemand außer Morkulebus
darf sie lesen, nicht einmal ihr selbst!“
„Aha, und wo sind diese finsteren Sümpfe des Schwarzen Todes?“,
fragte der Reisende.
„Ähm… das herauszufinden ist Bestandteil deiner gefahrvollen Reise.
Ich kann dir nur die Tür zeigen, hindurchgehen musst du selbst –
sie ist da drüben, und jetzt hau ab!“, fuhr Kalessan ihn mit den
letzten Worten an.
Der Fremde ließ sich ein letztes „Cool!“ vernehmen, packte
den Brief stolz in seine Hosentasche und machte sich frohen Gemüts auf
seine gefahrvolle Reise in die finsteren Sümpfe des Schwarzen Todes.
Den Großteil der ungewollten Besucher war Kalessan damit los. So blieb
nur noch eine Person übrig:
„Finde ich ja ganz toll, wie du die alle abgewimmelt hast, Schätzchen.
Kannst du dich jetzt vielleicht auch mal um mich kümmern, ist nicht gerade
sehr angenehm, wenn man so lange auf seinen Tod warten muss.“, sagte die
Jungfrau mit ihrer heiseren, rauchigen Stimme.
„Oh, wirst du sie jetzt fressen, Kalessan?“
„Sei ruhig, Ninnel! Und du da kannst mir nicht wirklich verklickern, dass
du noch eine Jungfrau bist.“, richtete sich der Drache an die immer noch
an ihren Holzpfahl angebundene, angebliche Jungfrau.
„Bin noch so frisch wie am ersten Tag, Schätzchen. Rein und unversehrt,
zart und schmackhaft.“
„Deine Opferbereitschaft ist wirklich hinreißend. Du hast nicht
zufällig sämtliche Taschen mit Kalk vollgestopft, der sich in meinem
Magen ausdehnen und mich verrecken lassen sollen?“
„Ähm… nein?“, antwortete die sichtlich überraschte und
nun nicht mehr ganz so selbstbewusste Jungfrau.
„Erstens habe ich schon bessere Lügner gesehen, zweitens stinkst
du überall nach dem Zeug und drittens funktioniert es sowieso nicht. Außerdem
hätte ich dich eh nicht gefressen, mit diesem Quälgeist in meiner
Nähe…“
„Och, warum denn Kalessan – ich will sehen, wie du sie frisst! Och
bitte, mir zuliebe!“, bettelte Ninnel lautstark.
„Danke für deine Unterstützung, Kleiner!“, entgegnete
die Jungfrau säuerlich.
„Ich sagte, dass du den Mund halten sollst, Winzling!“, brauste
Kalessan auf, der den Stress von vorhin anscheinend noch nicht ganz verarbeitet
hatte.
„Ich will das jetzt aber sehen! Ich will, ich will, ichwillichwillichwill…“
„Wenn du nicht sofort ruhig bist, dann setzt es was, Kleiner!“,
knurrte der Drache drohend.
„Ichwillichwillichwillichwillichwill…“
Einer von Kalessans Nervensträngen riss innerlich mit einem lauten Knall.
Der Drache schlug zu.
Der Junge war still.
„Na endlich ist Ruhe!“, sagte Kalessan, der sich wieder der Jungfrau
zuwandte, welche schockiert auf den Jungen starrte.
„Wie… wie konntet ihr nur?“
„Manchmal muss man halt harte Maßnahmen ergreifen, wenn man seinen
Willen durchsetzen will… Schätzchen!“, fügte der Drache in
spottendem Tonfall hinzu.
„Aber… aber er war doch noch ein kleines Kind!“
„Ja, und jetzt gibt er endlich Ruhe!“
„Weil ihr ihn enthauptet habt!„
Kalessan sah Ninnel an. Der ungewöhnlich schlaffe Körper des Jungen,
eine sich ausbreitende, rote Pfütze und nicht zuletzt der mehrere Meter
entfernt liegende Kopf des Kindes, welcher noch immer eine sehr erwartungsvolle
„Ichwill…“-Miene trug, sprachen nicht gerade für Kalessans
Unschuld.
Menschen umbringen war ja normalerweise schön und gut, doch diesmal empfand
er an seiner Tat keine Freude, vielmehr drängte sich ihm die nagende Erkenntnis
auf, dass er für diesen Mord ernsthafte Konsequenzen würde tragen
müssen.
In einer fließenden Kette aus Gedanken wanderten seine Gefühle von
Erschrockenheit über Zufriedenheit, Scham, schlechtes Gewissen und Verzweiflung
bis hin zu dem letztendlich grausamsten Gefühl, bei einer eigentlich simplen
Aufgabe vollkommen versagt zu haben. Die meisten dieser Gefühle hatte er
seit langer Zeit nicht mehr empfunden, und schon gar nicht aufgrund eines Menschen,
den er im Grunde genauso sehr wie jeden anderen, wenn nicht sogar noch mehr,
verachtete – zumindest versuchte er, sich das einzureden.
Während Kalessan jenen Gedanken nachhegte, scheute sich die Jungfrau nicht,
ihn mit den derbsten Ausdrücken zu bekreischen, die sie in ihrem längeren
Leben selbst als Jungfrau bereits aufschnappen konnte. Irgendwann zwischen den
„Mistkerlen“, „kaltblütigen Bastarden“ und „Turnbeutelvergessern“
wurde es auch dem erschrockenen Drachen zu bunt:
„Kannst du auch mal deine verdammte Klappe halten!?“, schrie er.
Die erzeugten Schallwellen alleine reichten bereits aus, um die Jungfrau vor
Schmerzen aufkreischen zu lassen. Fortan hing sie wimmernd an ihrem Pfahl. Eine
Beschimpfung fügte sie den ganzen „Kindermördern“ und
„seelenlosen Monstren“ jedoch noch leise hinzu:
„Ihr seid schlimmer als der schrecklichste Dämon der Hölle!“
*pling*
Versagen hatte Kalessan als Möglichkeit bei allen seinen Handlungen schon
immer ausgeschlossen. Und auch jetzt war nicht der Zeitpunkt gekommen, dies
wieder als Option hinzuzufügen.
Der Drache verwandelte sich, lief in seine Schatzkammer und durchwühlte
sämtliche Truhen und Ansammlungen von Schätzen, die er dort vorfand,
bis er alle Utensilien beisammen hatte, die er benötigen würde. Er
lief zurück in seine Wohnhöhle und zeichnete mit schwarzer Kreide
sorgfältig die erforderlichen Symbole auf eine Stelle des Bodens, die noch
nicht vollgeblutet oder -gepinkelt worden war. Danach stellte er die Kerzen
an den entsprechenden Stellen auf und zündete sie mit der Berührung
eines Fingers an. Schließlich wischte er, um den Vorbereitungen den letzten
Schliff zu geben, eine Ecke des großen Drudenfußes, den er gemalt
hatte, weg. Die Jungfrau beobachtete ihn hasserfüllt und fing wieder an
zu kreischen:
„Was wollt ihr da machen? Schwarze Magie? Eure Hexerei wird die Seele
dieses armen Jungen auch nicht wieder zurück bringen, nur seine seelenlose
Hülle, ihr grausames Stück Sch…“
„HALT den Mund und sei still. Ich kann seine Seele vielleicht nicht zurück
bringen, aber ich kenne jemanden, der das kann. Und ich warne dich, sag jetzt
ja kein Wort – und wenn, dann sprich nur in der Weise wie ich es tun werde,
denn er hat so seine Eigenheiten und ist momentan ziemlich schlecht gelaunt.
Es hat irgendwas mit der… ’neuen Rechtschreibung‘ oder so zu tun,
die ihm ziemlich zu schaffen macht. Wenn dir deine Seele also lieb ist, dann
wirst du ruhig bleiben, denn ich kann dir sonst auch nicht weiter helfen! Ganz
davon abgesehen, dass ich das überhaupt nicht will…“
In der Hoffnung, das Richtige zu tun, wendete sich Kalessan von der nun ruhigen
Jungfrau ab und begann mit der Beschwörung seines „alten Bekannten“.
Blitz, Donner, Nebel, ein großer, schwarzer Pudel und eine gewaltige lyrische
Veränderung kündeten die Ankunft des Herren der Unterwelt an…
MEFISTOFELES
tritt, indem der Nebel fällt, aus dem Pentagramm hervor:
Wozu der Lärm? Was steht dem Herrn zu Diensten?
KALESSAN:
Da du, o Herr, dich einmal wieder nahstUnd fragst, wie alles sich bei uns befinde,
Und du mich sonst gewöhnlich gerne sahst,
So siehst du mich auch unter dem Gesinde.
Verzeih, ich kann nicht hohe Worte machen,
Und wenn mich auch der ganze Kreis verhöhnt;Mein Pathos brächte dich gewiss zum Lachen,
Hättst du dir nicht das Lachen abgewöhnt.
MEFISTOFELES:
Hört auf mit diesem Redeschwall
Und sagt mir lieber, alter FreundWarum ihr mich mit einem mal
Zu euch bestellt in dieser Stund!
Ihr wisst wie ich beschäftigt bin
Drum nennt schnell den verqueren Sinn
Von diesem Anruf – sprechet rasch!KALESSAN:
Eure Reime sind heut ziemlich lasch…
MEFISTOFELES:
Wer bist du, dass du mich hier tadelst?
KALESSAN:
Nur der, den du mit Freundschaft adelst.Doch sag: Kennst du den Faust?
MEFISTOFELES:
Den
Doktor? Diesen Wicht?
KALESSAN:
Oh, nein, den Faust, den mein‘ ich nicht!Der Karlmax ist’s!
MEFISTOFELES:
Ach
der, was ist mit dem?
KALESSAN:
Fürwahr! er diente mir auf gar besondre Weise.Und ist nun grad auf einer großen Reise.
Ihm treibt die Gärung in die Ferne.
Er ist sich seiner Tollheit halb bewusst;
Vom Himmel fordert er die schönsten Sterne
Und von der Erde jede höchste Lust,Und alle Näh und alle Ferne
Befriedigt nicht die tiefbewegte Brust.
MEFISTOFELES:
Nun kommt zur Sache!
KALESSAN:
Sein Sohn ist’s, der mein Herz bewegt.Verzweiflung die sich in mir regt,
Denn tot ist er, durch meine Hand
Starb er, sein Körper liegt dort noch
Doch in mir hab ich anerkannt
Dass sein Tod wie ein großes LochIn meinem Herzen ist,
Das schnell zu füllen ich gedenke
Indem ich neues Leben schenke.
Habe nun, ach! Philosophie,
Juristerei und Medizin,
Und leider auch Nekromantie!Durchaus studiert, mit heißem Bemühn.
Da steh ich nun, ich armer Tor!
Und bin so klug als wie zuvor;
Denn Leben schenken kann ich nicht,
Nicht mal mehr diesem kleinen Wicht.Drum eurer Hilfe ich bedarf
Wo ich als Freund stets redlich, brav
Die Seelen der durch mich Gefallnen
In euer Reich, die Hölle, schickte.
Eure Hilfe, die ich brauchUm ihm zu geben Lebenshauch.
Lange Rede, kurzer Sinn
Woran ich interessiert nun bin
Ist, was ihr zu dem Vorschlag meint.
MEFISTOFELES:
Ich bin der Geist, der stets verneint!Und das mit Recht; denn alles, was entsteht,
Ist wert, dass es zugrunde geht;
Drum besser wär’s, dass nichts entstünde.
So ist denn alles, was ihr Sünde,
Zerstörung, kurz, das Böse nennt,Mein eigentliches Element.
Nun frag ich dich: was ist der Grund
Weswegen ich zu dieser Stund
Den Bengel soll ins Leben rufen
Ich Teufel mit den Pferdehufen?
Doch die Seelen vieler ToterGelangten nur durch euch
Mein lieber Roter
Schnell und häufig in mein Reich
Fürwahr!
Drum sei mein‘ einzige BedingungMit der die Seel des Jungen ich errette:
Ein andre Seele, rein und jung
Die ich denn statt des Kindes gerne hätte.
KALESSAN auf die Jungfrau zeigend:
Nehmt diese dort!JUNGFRAU:
Wen – mich?
KALESSAN:
Nun seid jetzt still!
Denn eure Seele ist’s, die dieser Teufel gerne will.MEFISTOFELES:
Schön ist sie nicht, das ist wohl wahr
Doch innen ist sie rein und klar –
Ich nehme sie!
JUNGFRAU:Er will mich!
KALESSAN:
Und der Junge soll leben!
JUNGFRAU:
Zu Hilf! Ich glaub ich muss mich übergeben!MEFISTOFELES:
Komm! komm! Ich lasse dich mit ihr im Stich.
JUNGFRAU:
So irgendjemand! Rette mich!
Ihr Götter! Ihr heiligen Scharen,
Lagert euch umher, mich zu bewahren!Kalessan! Mir graut’s vor dir.
MEFISTOFELES:
Sie ist gerichtet!
KALESSAN:
Er gerettet!
MEFISTOFELES zur Jungfrau:Her zu mir!
Verschwindet mit der Jungfrau.
STIMME DER JUNGFRAU von innen, verhallend:
Kalessan! DU AR…!
Normalität
kehrte wieder ein. Kalessan sah sich wieder dazu in der Lage, in normalen Sätzen
zu denken. Sein Blick fiel auf Ninnel, der auf dem Boden lag, als wäre
nichts geschehen. Keine große Blutlache und kein abgetrennter Kopf sprachen
mehr für die begangene Untat.
Ninnel öffnete die Augen sah den Drachen an wie jemand, der gerade am Steuer
in Sekundenschlaf gefallen ist und sich jetzt wundert, dass sein Auto an einem
Baum klebt. Der Junge rappelte sich auf und sah sich um. Dann fragte er:
„Hast du die Jungfrau jetzt aufgefressen?“
„Ähm… ja!“, antwortete der Drache, verwirrt über die
Frage.
„Och menno, ich wollte doch zugucken!“
Entweder
war es von Mefistofeles beabsichtigt gewesen oder Kalessan hatte den menschlichen
Verdrängungsmechanismus katastrophal unterschätzt. Jedenfalls hatte
Ninnel keine Erinnerung mehr an seinen eigenen Tod, geschweige denn die Zeit
danach. Woran er allerdings noch perfekte Erinnerungen zu haben schien, waren
die Minuten kurz vor Kalessans kleinem Ausrutscher. Da der Drache laut eigenen
Aussagen die Jungfrau nach Ninnels Bitten doch noch verspeist hatte, war die
logische Schlussfolgerung des Jungen gewesen, dass er den Drachen doch nur intensiv
nerven müsse, um seinen eigenen Willen durchsetzen zu können.
Kalessan auf der anderen Seite fasste das Kind fortan nur noch mit Samthandschuhen
an und behandelte es wie ein gesprungenes, rohes Ei. Kurzum: jegliche Art der
Kontrolle, die Kalessan über Ninnel in den letzten Wochen gewonnen hatte,
wurde durch diesen verhängnisvollen Tag zerstört.
Ninnel konnte somit machen, was er wollte und Kalessans Nerven lagen blank.
Die Demütigungen, die ihm der Junge in den folgenden Tagen zufügte,
übertrafen beinahe das Gefühl des Versagens, dass der Drache nach
Ninnels Tod empfunden hatte. Doch es waren nun schon einige Wochen verstrichen
und ein Ende dieser schwarzen Tage war in Sicht.
Kalessan sah ein Licht am Ende des Tunnels.
Es entpuppte sich als ein Güterzug.
Da
Kalessan gerade auf dem Rücken lag, machte Ninnel sich einen Spaß
daraus, auf seinem Unterleib auf und ab zu hüpfen. Dies machte dem Drachen,
dem nicht einmal ernsthafte Schwerthiebe an dieser Stelle wirklich etwas anhaben
konnten, rein physisch nichts aus. Dennoch spürte er jeden Hüpfer,
als würde die Faust eines Gottes unablässig auf ihn einprügeln.
„Wenn du weitermachst, erzähl ich das deiner Mutter!“, sagte
er, doch es half nichts.
„Na und?“, antwortete das Kind und machte fröhlich weiter.
Kalessan richtete sich auf und bellte in bedrohlichem Tonfall:
„Wenn du nicht sofort aufhörst, werde ich dich fressen!“
Dies bewirkte, dass Ninnel zumindest ein paar Sekunden aufhörte, bis er
schließlich „Nein, wirst du nicht.“ sagte und einfach weitermachte.
Auf der einen Seite wirkte da die folgende Erscheinung fast erlösend, doch
Kalessan hatte sich bereits damit abgefunden, dass jeder Eindringling wirklich
nur im allerersten Moment eine willkommene Abwechslung darstellte.
„Ähm… Herr… Herr Kalessan?“, ertönte eine fiepsige
Stimme, die Ninnel dazu veranlasste, mit seinem Gehopse aufzuhören und
Kalessan, in die entsprechende Richtung zu sehen.
Ein kleines Wesen mit Augenbrauen, die Finanzminister aller Welten vor Neid
erblassen lassen würden, mit einer Nase, die vom Gurkentisch des nächst
besten Gemüsehändlers geklaut zu sein schien, mit Ohren, die es wahrscheinlich
zum Segelfliegen benutzte und Augen, die größer waren als die von
Spezies, die mehrere Kilometer tief unter der Erde leben, war zunächst
mal sein Gesicht eine absolute Katastrophe. Das Wesen war zudem vier Fuß
groß, hatte eine kränklich-braune Hautfarbe, eine ranzige Tunika
um den Leib gebunden und war so potthässlich, dass jedes Krebsgeschwür
demgegenüber einen Schönheitswettbewerb gewinnen könnte.
Kalessan kannte dieses Wesen nur zu gut – es handelte sich um Deppy, den
persönlichen Hauswürger von Smahug. Würger hießen diese
Wesen, weil dies die erste Reaktion sehr treffend umschrieb, die man beim Kontakt
mit ihnen hatte.
„Bitte, Deppy, sage mir nicht, dass ich das tun soll, was ich jetzt denke,
das könnte böse Folgen für dich haben!“, knurrte Kalessan
und unterdrückte den Würgereiz.
Ninnel schien angesichts dieser Erscheinung zwischen Interesse und Abscheu sehr
hin- und her gerissen… wenigstens hielt er die Klappe.
„Aber Meister hat mir gesagen tut, ich sollen euch sagen tun machen!“
– Hatte ich schon erwähnt, dass die Grammatik der Würger ebenfalls
zum Kotzen ist? – „Meister Smahug hat gesagt gemacht, dass ich machen
sollen tun machen muss, dass…“
„SAG es nicht, Deppy, ich warne dich!“
„Aber dann muss armes Deppy sich wieder selbst machen foltern tun, macht
armes Deppy keinen Spaß, nichts nein.“
„Das ist doch nichts im Gegensatz zu dem, was ich dir antun könnte…“,
drohte der Drache.
„Oh, ihr sein nie nicht nett zu nettes Deppy, Deppy machen tun tut nur
seine Aufgabe erfüllen machen. ‚Deppy machen gehen ganz brav zu Herr
Kalessan!‘, sagen Meister Smahug, ‚Und machen sagen Herr Kalessan,
dass sofort kommen er machen tun soll, jetzt gleich, weil wichtiges Treffen
sein tut auf dem Berg und…'“
Seinen Satz sollte er nie fertig sprechen, da er in einem Feuerstrahl aus Kalessans
Maul verglühte.
Eine mehrere Sekunden lange Stille entstand, bis sich Ninnel dazu durchringen
konnte, als erster wieder etwas zu sagen:
„Danke… aber musstest du es gleich umbringen?“
Der Drache schnaubte:
„Würger kann man nicht umbringen, das ist ja das Brutale an diesen
Mistkerlen. Der kehrt jetzt zu seinem Herrn zurück und nimmt erneut diese
widerwärtige Gestalt an. Dagegen bist selbst du eine Schönheit.“
„Und was wollte er von dir?“
„Nichts gutes…“
Smahug hatte also eine Versammlung einberufen.
Kalessan hasste diese Versammlungen! Die anderen neun Drachenarten verhielten
sich auf diesen Treffen immer wie die letzten Idioten, führten kindische
Debatten aus und verhielten sich generell nicht so, wie es wahre Drachen –
Drachen wie Kalessan – tun sollten. Lediglich Morkulebus war ähnlicher
Auffassung und daher noch das von Kalessan am meisten respektierte Mitglied,
wenn er sich auch aus der Sicht des roten Drachen zu passiv verhielt.
Schlimmer als das Verhalten der Drachen bei jenen Treffen waren jedoch die Anlässe,
aus denen Smahug, der Oberhaupt des Rates, sie einberief. Erst beim letzten
Mal hatte er den gesamten Rat beinahe in sein Verderben geführt, was zu
Kalessans Bekanntschaft mit Karlmax und letztendlich auch zur momentanen Misere
des roten Drachen geführt hatte.
Doch wenn man wie Kalessan ältestes Exemplar der eigenen Spezies war, konnte
man sich vor diesen Versammlungen leider nicht drücken, wollte man seine
Position und damit ein ernsthaftes Mitspracherecht bei den Entscheidungen über
die Geschicke der Welt, zu denen es auch ab und an kam, nicht riskieren.
Von ihm wurde nun erwartet, dass er sich sofort auf den Weg machte, um an der
Versammlung teilzunehmen. Ninnel konnte er natürlich nicht in seiner Höhle
lassen. Wer wusste schon, wie viele Ritter – möglichst noch Getreue
dieser ominösen Lady Syrop – sich noch auf den Weg zu Kalessans Höhle
machten und den Jungen dann mitnahmen.
Kalessans Optionen waren also nicht sehr zahlreich – auch wenn er es hasste,
den Jungen in die Geheimnisse des Drachenvolkes einzuweihen und, was noch schlimmer
war, ihn mit dem peinlichen Auftreten seiner Artgenossen konfrontieren zu müssen.
„Was wollte er denn nun genau?“, unterbrach Ninnel Kalessans Gedankengänge.
„Er hat eine Versammlung einberufen, zu der ich gehen muss. Sieht so aus,
als müsstest du mich begleiten…“
„Oh toll, dann darf ich endlich mit dir fliegen?“
So sehr Kalessan versucht hatte dies zu vermeiden, diesmal hieß die Antwort
wohl oder übel:
„Ja…“
Ninnel klatschte freudig erregt in die Hände und bedrängte den Drachen,
sogleich loszufliegen. Seufzend begann dieser mit den Vorbereitungen, nur damit
dieses elende Gequengel endlich aufhören würde.
Währenddessen
war ein junger Mann aus einer fremden Dimension damit beschäftigt, die
finsteren Sümpfe des Schwarzen Todes zu finden, was sich als nicht besonders
einfach herausstellen sollte.
Viele Wochen lang zog er alleine durch die Dörfer und Wälder, doch
keiner schien den richtigen Weg zu wissen, und böse Menschen hatten die
Hinweisschilder umgedreht oder mit obszönen Zeichnungen unleserlich gemacht.
Die Wälder waren auch nicht ungefährlich, denn überall streunten
gefährliche, wilde Tiere umher. Der Mann aus der fremden Dimension sorgte
sich aber nicht darum, denn schließlich war er ja auserwählt, diese
Welt zu retten, deswegen konnte ihm natürlich nichts passieren. Eine große
Anzahl von Zufällen, namentlich zwei Wölfe, die sich im Streit um
ihn als Beute selbst zerfleischten, ein Bär, der kurz vor seinem Angriff
unglücklich stolperte und sich an einem Baum das Genick brach und ein Löwe,
der sich gerade auf den Reisenden stürzen wollte, dem dann aber einfiel,
dass es im Wald gar keine Löwen gab, worauf er in einer Rauchwolke verpuffte,
sorgten dann auch wunderbarerweise dafür, dass ihm tatsächlich nichts
passierte.
Einmal stieß der Reisende sogar auf eine Räuberbande, die ihn freundlich
umzingelte. Diese Räuber entpuppten sich jedoch als hinterhältige
Versicherungsvertreter, worauf selbst der Mann aus der fremden Dimension schleunigst
die Flucht ergriff.
Schließlich kam er in eine weitere kleine Stadt und traf dort endlich
auf einen Menschen, der den Weg in die finsteren Sümpfe des Schwarzen Todes
zu kennen schien. Es handelte sich um einen seltsamen, kleinen Kerl in einer
knallbunten, ledrigen Rüstung, die aus so vielen Einzelteilen bestand,
dass die gesamte Konstruktion bei der geringsten Bewegung hin und her wackelte.
Am Bauch war offenbar eine Klappe, die man beliebig öffnen und schließen
konnte. Die Klinge seines Schwertes wies eine leichte Kurve auf und schien die
gesamte Biographie seines Besitzers zu erzählen, so vollgekritzelt mit
fremdartigen Schriftzeichen wie sie war.
„Und du weißt, wo es zu den finsteren Sümpfen des Schwarzen
Todes geht?“, fragte der Reisende den Krieger.
„Ja, Nagersacki wissen wo ihr finden finstere Sümpfe, hai!“
„Wo?“
„Was?“
„Häh?“
„Nein – hai!“, sagte der Krieger nochmals.
„Ach so… kannst du mich dort hinführen?“
„Warum sollte Nagersacki das tun? Wo ist die Ehre darin, fragt er den
Fremden.“
„Die Ehre?“, erkundigte sich der Fremde verwirrt.
„Nagersacki kämpfen nur für die Ehre. Wenn Ehre von Nagersacki
verletzt, Nagersacki bringen sich selbst um mit Kike-Riki!“
Nagersackie öffnete demonstrativ die Klappe an seiner Rüstung und
zeigte dem Fremden seinen nackten Bauch.
„Sag mal, was genau bist du eigentlich?“
"Nagersacki sein ehrenhafter Sauriam!", antwortete der Krieger mit
stolzgeschwellter Brust.
"Ich dachte, die Saurier wären alle ausgestorben!?“
"Wenn alle ausgestorben, warum stehen Nagersacki jetzt vor euch?"
„Verstehe… Meinst du, das es ehrenvoll wäre, wenn du mir bei der
Rettung der Welt hilfst?“
„Rettung der Welt? Ist große Ehre für Nagersacki! Es wird mir
Freude sein, den Fremden zu begleiten und ehrenhaft zu sterben, hai!“
„Wo?“
„Was?“
„Ach, vergiss es…“
Es
war ein wahrhaft trauriger Punkt erreicht, wenn Kalessan nun schon selbst beim
Fliegen keine Privatsphäre mehr hatte. Wenigstens hatte er Ninnel so stark
in alle möglichen warm haltenden Kleidungsstücke verschnürt,
dass dieser zwar noch atmen, aber keinen artikulierten Laut mehr hervorbringen
konnte. Dass er ihn fest an seine Brust gepresst hielt, tat sein übriges,
um ihn wenigstens den ganzen Flug über still und warm zu halten. Auf Kalessans
Rücken hätte sich der Junge bei den ganzen Stacheln und Zacken die
dort waren nur irgendwann selbst aufgespießt, auch wenn der Drache diesen
Gedanken mittlerweile mit ungeahnter Genugtuung verfolgte.
Zum Versammlungsort war es ein halber Tag Flugzeit von Kalessans Behausung aus.
Den Großteil der Zeit verbrachte der Drache damit, sich besonders blutige
Todesarten für Ninnel auszudenken, ansonsten fragte er sich, was Smahug
wohl zu der Einberufung eines Treffens hätte bewegen können.
Wahrscheinlich wollte er ihnen mal wieder einen neuen Ring in Drachengröße
präsentieren, den Generationen tüchtiger Zwerge in Jahrhunderte langer
Feinarbeit geschmiedet hatten. Oder ein wahnsinniger Mensch hatte mal wieder
eine todbringende Maschine erfunden, die die Sonne in die Luft sprengen würde,
wenn ihm nicht die Weltherrschaft zugesprochen würde.
Kalessan wusste nicht, was davon er mehr verachtete.
Er wusste ebenfalls nicht, dass er bei seinem Flug sehr aufmerksam beobachtet
wurde.
Als er am Versammlungsort ankam, einer konzentrischen Ansammlung von Felsplateaus
hoch in den Bergen, die vor langer Zeit genauso gut von Drachen- wie von Götter-
oder Zufallshand hätte geschaffen worden sein können, waren alle anderen
neun Mitglieder des Rates bereits anwesend.
Kalessan kreiste einmal über der Runde, die in den Farben Gold, Silber,
Bronze, Kupfer, Messing, Grün, Schwarz, Blau und Weiß leuchtete,
landete und mischte der Farbpalette einen aggressiven, roten Ton hinzu.
Die anderen Drachen waren sehr erstaunt, als sie ihn kommen sahen – normalerweise
erschien er immer erst ein oder zwei Tage später als angekündigt war.
„Oh, der werte Kalessan beehrt unsere illustre Runde ausnahmsweise einmal
pünktlich. Gute Vorsätze fürs neue Jahrhundert stehen aber erst
in ein paar Jahren an, mein bester!“, spöttelte Smahug, der Älteste
der Runde.
„Deine dämlichen Bemerkungen kannst du dir sonstwo hin stecken! Sag
mir lieber, was so überaus wichtig war, damit ich mich hierher quälen
musste, die letzten Male hat es nur Unglück gebracht.“, kam die gefauchte
Antwort von Kalessan, der gerade auf seinem Plateau Platz genommen hatte.
„Oh, ich sehe, bei deinen Manieren hat sich wenig geändert… und
wie oft habe ich dir schon gesagt, dass du dir keinen Proviant zu den Treffen
mitnehmen sollst?“, merkte der goldene Drache an, als Kalessan das dicke
Ninnel-Bündel ablud, welches sich in der fremdartigen Runde neugierig umsah.
„Und dann auch noch ein Kind!“, fuhr er kopfschüttelnd fort,
„Dann friss es wenigstens gleich, damit wir das hinter uns haben!“
„So sehr es mich anwidert das zu sagen, aber dieses Kind wird nicht gefressen.
Ich habe schon zu viel deswegen durchgemacht.“
„Oh, Kalessan nimmt sich eines Menschenjungen an? Das kann einem ja fast
Angst machen!“, kam der gehässige Kommentar von Droca, dem Kupferdrachen.
Droca glich seinem benachbarten Bronzedrachen, Neidhöcker, wie ein Ei dem
anderen und war nur deswegen als er selbst zu identifizieren, weil er ein großes
Schild um den langen Hals trug, auf dem in großen, gut lesbaren Buchstaben
sein Name stand. Neidhöcker trug ein ähnliches Schild, nur dass auf
diesem sein eigener Name zu lesen war.
„Wenigstens brauche ich nicht mehrere Millennien, um mir eine Methode
auszudenken, mit der man mich einwandfrei identifizieren kann!“, entgegnete
der rote Drache, worauf Droca beschämt den Blick abwendete.
„Wer ist das überhaupt, dass du dich plötzlich mit Menschen
abgibst?“, kam eine weitere Frage von Adorelon, dem Silberdrachen.
„Dies ist Ninnel, Karlmax‘ Sohn!“, sagte Kalessan und versuchte,
wenigstens ein bisschen feierlich zu klingen, erntete aber lediglich verständnislose
Blicke.
„Wessen Sohn?“
„Ihr erinnert euch doch hoffentlich? Männlicher Mensch, viele Haare
im Gesicht, rettete alle unsere Existenzen…“
„Nein!“
„Nein!“
„Nein?“
„Nein!“
„Nein!“
„Thric!“
„Nein!“
„Nein!“
„Ja… Moment, nein, doch nicht!“
„Dann weiß ich nicht, was peinlicher ist – dass ich mir als
einziger in der Runde den Namen eines speziellen Menschen behalten konnte oder
dass ihr alle den Namen dieses Menschen vergessen konntet, der euch alles bewahrt
hat, was euch teuer war.“, brauste Kalessan auf.
„Habe ich irgendwas nicht mitbekommen? Woher der plötzliche Seitenwechsel,
Kalessan?“, fragte ihn Tjamat, der blaue Drache, der gerade mit einer
überdimensionierten Nagelfeile seine Krallen schönte.
„Oh, du meinst den Menschen in dieser Saurudalf-Angelegenheit, nicht wahr?“,
merkte Droca an, „Von dem habe ich noch öfters gehört, der ist
jetzt ein berühmter Theoretiker geworden oder so, hat großen Erfolg,
zieht durch die Lande, gibt Vorlesungen undsoweiter – in meinen Augen
ist unsere Schuld an diesen Menschen bezahlt.“
Die anderen Drachen stimmten dem kollektiv zu.
„Dann habe ich in den letzten Wochen anscheinend die Schuld von uns allen
zusammen bezahlt.“, antwortete Kalessan mit einem düsteren Blick
auf Ninnel, der gerade einen Stein über den Rand vom Plateau des roten
Drachen fallen ließ, um zu hören, wie tief der Abgrund darunter sei.
„Und jetzt erzählt ihr mir besser, warum ich mit diesem Balg überhaupt
herkommen musste – und lasst es bitte einen guten Grund sein, denn ich
bin zu fertig mit den Nerven, um irgendeine idiotische Begründung für
diese Zusammenkunft akzeptieren zu können!“
Kalessans letztes Fünkchen Hoffnung verschwand, als alle anderen Drachen
auf einmal reges Interesse an Steinen, Wolken und intensiver Krallenmaniküre
zeigten.
Smahug räusperte sich kurz und sagte dann:
„Nuntja, ähm, weißt du, der Grund für dieses Treffen ist…
wie soll ich es sagen, also es ist so… ähm… unsere liebe Schneeweißchen
hier…“, er deutete auf die weiße Drachin, die sich konsequent
weigerte, auch nur ein Wort in der allgemeinen Sprache zu sprechen, „…nun,
sie hat doch morgen ihren 2000. Geburtstag und da wollten wir eine kleine…
Feier veranstalten… hast du meinen Hauswürger etwa nicht aussprechen
lassen?“
Aus dem Tal dröhnte das donnernde Echo einer Steinlawine hinauf, die durch
Ninnels Steinwurf ausgelöst worden war.
Sie setzte sich in Kalessans Kopf in Form einer Lawine aus Wut fort.
Er brüllte laut auf, so laut, dass es selbst den restlichen Drachen in
den Ohren schmerzte, und schlug mit der geballten Faust auf den Felsboden seines
Plateaus.
Kalessans Schrei und das kleine Beben von seinem Schlag reichten aus, um Ninnel
über den Rand der Klippe, an der er sich immer noch aufhielt, auf einen
tiefen, tödlichen Fall zu schicken.
Kalessan und die anderen Drachen bemerkten es nicht.
Aufmerksame Augen beobachteten – und reagierten.
Der rote Drache tobte.
Die restlichen neun Mitglieder des Rates waren schon so einiges an Wutausbrüchen
gewohnt, die Kalessan angesichts ihm weniger wichtig erscheinenden Themen der
Versammlung losgelassen hatte, aber dies übertraf alles vorher dagewesene.
Wochenlang aufgestaute Wut entlud sich in unartikuliertem, lautem Gebrüll
und zahlreichen Gewalttaten gegenüber dem Felsen, auf dem der rote Drache
saß. Früher hatte er wenigstens noch den Anstand gehabt, ihnen einzeln
Beleidigungen zuzuschreien. Hätte ihn diesmal nicht ein letzter Funken
Vernunft davon abgehalten, er hätte sich wahrscheinlich auf Smahug gestürzt
und versucht, ihn umzubringen.
So dauerte es auch mehrere Minuten, bis er sich wieder beruhigt hatte und auf
dem großen Felsplateau nichts mehr außer der rauschende Wind zu
hören war.
Die restlichen Drachen des Rates kauerten sich alle eingeschüchert auf
ihren Plätzen zusammen und wagten es nicht, einen Laut zu machen, der die
Aufmerksamkeit Kalessans auf sie ziehen könnte.
Smahug erholte sich als erster:
„Bist du jetzt fertig, Kalessan? Gut, dein Mensch ist nämlich verschwunden.
Zufrieden?“
Kalessans wahnsinniger Blick klärte sich ein wenig auf, als er sich auf
seinem Plateau umsah und bemerkte, dass Ninnel tatsächlich verschwunden
war. Er warf einen Blick über die Felskante und suchte den Felsboden weit
unter sich nach dem Jungen ab, aber da war nichts. Der Drache wandte sich wieder
Smahug zu:
„Na und? Dann ist er endlich tot, und ich habe versagt. Es ist mir egal!
Und weißt du, was mir noch egal ist? Diese Versammlung hier! Wir sollten
die Welt regieren, und was machen wir stattdessen? Wir feiern Geburtstage, suchen
nach deinen Schätzen und legen uns mit mickrigen Magiern an. Wann haben
wir für diese Welt in letzter Zeit wirklich etwas wichtiges getan? Nichts!
Und dann sind wir sogar noch zu arrogant, um eine gute Tat anzuerkennen, die
mal jemand für uns tut. In dieser Hinsicht habe ich in den letzten Wochen
mehr im Namen dieses Rates getan als wir alle zusammen in den letzten acht Jahren.
Ich habe jemandem gezeigt, dass mir das, was er für mich getan hat, nicht
scheißegal war. Ja, es war ein Mensch. Ja, ich habe dabei gelitten, und
ja, ich habe versagt. Das beweist mir nur, wie inkompetent diese gesamte Versammlung
hier ist – darum sollte mir mein Versagen wohl doch nicht so egal sein…“
„Versagen wobei, Onkel Kalessan?“, ertönte eine leise Stimme
über dem Rauschen des Windes.
Kalessan dreht sich um.
„Oh, Scheiße!“
Ninnel war offensichtlich am Leben. Die Tatsache, dass er sich in den Klauen
eines fremden, roten Drachen befand, ließ jedoch nicht dafür sprechen,
dass es noch lange so bleiben würde.
Gemessen an Kalessan war dieser Drache gerade mal halb so groß, aber immer
noch groß genug, um bei den meisten Menschen ernsthafte Blasenschwäche
zu bewirken. Weitaus eindrucksvoller als seine Größe war jedoch sein
Blick. So ein Blick ließ nur auf einen Verstand hinter diesen Augen schließen,
der vollkommen wahnsinnig und zu allem bereit war, dabei noch einen extremen
Hang zum Sadismus hatte, jedoch alle Handlungen mit kalter Berechnung durchführen
konnte. Kalessan hatte in seinen besseren Tagen auch nicht anders ausgesehen…
Er erholte sich von daher von diesem Anblick daher als erster.
„Wer bist du?“, fragte er.
„Oh, wir sind wohl ein ganz stürmischer, nicht wahr?“, sagte
der Drache, der nach dessen Stimme zu urteilen unmissverständlich weiblich
war und fügte dem bedrohlichen Blick ein ähnlich schockierendes Lächeln
mit spöttischem Unterton hinzu, während er mit heftigen, schweren
Flügelschlägen versuchte, einigermaßen seine Höhe zu halten.
„Ist euch eigentlich klar, dass jedem Drachen, der unaufgefordert diese
Versammlung besucht, die Todesstrafe droht?“, schaltete sich nun Smahug
an die Drachin gewandt ein.
Diese riss ihren Blick von Kalessan los und funkelte den Vorstand des Rates
an:
„Natürlich ist mir das klar – nur frage ich mich, warum das
ganze? Damit wir anderen Drachen nicht herausbekommen, dass ihr nur Geburtstagspartys
feiert und Nichtigkeiten besprecht, anstatt die Welt zu beherrschen? Eine hervorragende
Begründung, wirklich!“
Die Stimme der Drachin troff vor Hohn und ließ Smahug sichtbar zusammenzucken.
Sie blickte sich in der Runde um:
„Oh, ihr seid wirklich ein wahrer Haufen von Herrschern: verfressen, fett,
herrschsüchtig, faul, arrogant und zu nichts nutze!“
Ihr Blick kam zu Kalessan zurück.
„Was ist mit dir? Du scheinst ähnlicher Meinung zu sein…“
„Gib mir den Jungen zurück und nenn mir deinen Namen!“, bellte
er.
Die Drachin sah Ninnel kurz an, der die gesamte Szenerie mit anscheinend sehr
großem Interesse verfolgt hatte und seinen Blick kontinuierlich von Drache
zu Drache wandern ließ, um auch ja nichts zu verpassen.
„Dir scheint dieser Junge ja sehr viel zu bedeuten… wenn das so ist,
dann komm doch und hol ihn dir!“, antwortete die rote Drachin lachend,
drehte ab und begann, auf der nächst besten Luftströmung davon zu
fliegen.
Smahug war außer sich:
„Das… das… das ist ein Skandal! Das ist mir vorher noch nie untergekommen.
Selbst ihr roten Drachen wisst, dass diese Versammlung für euch untersagt
ist!“
„Ich wusste doch, dass ich hier nie erwünscht war…“, antwortete
Kalessan abfällig.
„Du weißt genau, was ich damit gemeint habe. Dieser Verstoß
muss geahndet werden! Dem Gesetz muss Folge getragen werden! Sie wird die Konsequenzen
für diese Untat tragen müssen! Kalessan, da sie Mitglied deiner Rasse
ist, wirst du das Urteil an ihr vollstrecken!“
„Du meinst sie umbringen?“
„Ganz genau!“, Smahugs Stimme überschlug sich, „Ich befehle
es dir!“
Die folgende Stille hätte kein Friedhof besser hinzaubern können.
Als Kalessan das nächste Mal sprach, war seine Stimme leise und zischend:
„Du befiehlst mir gar nichts mehr, Smahug! Diese Zeiten sind vorbei. Ich
werde diese Drachin verfolgen und töten – weil sie mich herausgefordert
hat. Und wenn ich sie umbringe, dann wird das mein letzter Dienst für diesen
Rat gewesen sein.“
Er drehte sich um und breitete seine Flügel aus.
„Du kannst nicht austreten!“, brüllte Smahug ihn an.
„Dann halte mich auf!“, entgegnete der rote Drache, stieß
sich ab und flog der Drachin hinterher, die ihn so frech herausgefordert hatte.
Schneeweißchen murmelte etwas auf Draconisch, das ungefähr mit „Wirklich,
ein schöner Geburtstag!“ übersetzt werden konnte.
Mit
Nagersacki unterwegs zu sein, erwies sich für den Fremden aus einer anderen
Welt als an sich schon sehr schwere Aufgabe, da man sehr aufpassen musste, die
Ehre dieses Kriegers nicht zu verletzen. Einmal hatte sich ein Vogel direkt
über Nagersackis Kopf erleichtert, und nachdem der Krieger sich nicht dazu
in der Lage sah, das Tier deswegen zu einem fairen Kampf zu stellen, hatte der
Reisende seine Liebe Mühe, den Sauriam davon abzuhalten, sich selbst das
Schwert in seine Bauchklappe zu rammen.
Nichtsdestotrotz führte ihn Nagersacki in ein Gelände, das zumindest
schon mal die Bezeichnung „finsterer Sumpf“ verdient hatte.
„Sag mal, Nagersacki, warum heißen die finsteren Sümpfe des
Schwarzen Todes eigentlich so?“, erkundigte sich der Fremde.
„Nun, sie sehr finster seien…“
„Und weiter?“
„‚Schwarzer Tod‘, so wird genannt Drache, der lebt in Sumpf.
Seien kein netter Zeitgenosse, ha ha!“, erklärte Nagersacki.
„Oh, genau zu dem möchte ich aber.“
„Ihr wollen den Schwarzen Tod umbringen? Das werden ein wahrhaft guuuter
Kampf!“
„Ich will ihn eigentlich nicht umbringen, vielmehr… mit ihm reden!“
Der Fremde achtete darauf, nicht zu viele Details über seinen geheimen
Auftrag und vor allem über die Schriftrolle mit der wichtigen Nachricht
zu preiszugeben – man wusste nie, wem man trauen konnte, dazu hatte er
schon zu viele Bücher gelesen.
„Oh… darf Nagersacki ihn umbringen, nachdem ihr geredet habt?“,
fragte der Krieger hoffnungsvoll.
„Nein!“
„Oh bitte, nur ein bisschen!“
„Nein, und es bleibt dabei!“
Der Reisende hoffte stark, dass er den Sauriam nicht zu sehr in seiner Ehre
verletzt hatte, ansonsten würde dieser Streit noch viel heftigere Ausmaße
annehmen. Der Krieger beschränkte sich jedoch darauf, lautstark zu schmollen
und etwas in seiner eigenen, zwitschernden Sprache zu murmeln.
Die beiden setzten ihre Reise durch den immer finsterer und sumpfiger werdenden
finsteren Sumpf in verdrossenem Schweigen fort. Obwohl es eigentlich ein heller
Tag sein sollte, war der Himmel düster und dem Sumpf hing eine niederdrückende
Stimmung an. Dies lag vor allem an der Vegetation, beziehungsweise den sogenannten
Gruselbäumen. Diese haben eine sehr bizarre, gekrümmte Form mit vielen
gezackten Ästen und Auswüchsen, die jeden phantasievollen Verstand
geradezu dazu auffordern, sie für gefährliche Monster oder ausgestreckte
Klauen zu halten. Diese spezielle Baumart wächst besonders inmitten von
dunklen Wäldern und Sümpfen. Aufgrund ihrer die Atmosphäre steigernde
Wirkung wird sie gerne von bösen Herrschern und Kreaturen an diesen ihren
Heimstätten importiert und verdrängt schnell sämtliche Restvegetation,
die andere Farben außer grau, schwarz und braun aufweist. Alle anderen
Pflanzen bleiben seltsamerweise unangetastet…
Die unheimliche Wirkung des Sumpfes ließ auch das Gemüt des Reisenden
nicht ganz unangetastet. Er war sich zwar immer noch sicher, dass ihm als Weltenretter
nichts passieren konnte, dennoch hoffte er, dass er den Drachen bald finden
würde, damit er schnell aus diesem Sumpf heraus kommen und die Welt retten
könnte.
Nagersacki bedeutete ihm plötzlich, stehen zu bleiben und sah sich aufmerksam
um.
„Es sehr ruhig geworden ist. Kein gutes Zeichen sein.“
Dies wurde darin bestätigt, dass aus den Schatten der Gruselbäume
um ihnen herum auf einmal drei schreckliche Kreaturen auftauchten und sie umzingelten.
Es handelte sich um hoch gewachsene, bucklige Humanoide mit entstellten Gesichtern.
Sie hatten lange, rübenartige Nasen, zahnlose Höhlen als Münder,
das Kinn von jedem von ihnen war mehrere Zentimeter lang und sie waren überall
von pulsierenden Warzen entstellt. Sogar einige der Warzen hatten Warzen und
aus ihnen wuchsen lange, dünne Haare, die wahrscheinlich keine noch so
scharfe Gartenschere hätte durchschneiden können.
Nagersacki zögerte nicht lange, zog sein langes Schwert, stieß einen
hochfrequenten Kampfschrei aus und stürmte auf die nächst beste der
drei Kreaturen zu. Diese wich ihm mühelos aus und stellte ihm ein Bein.
Nagersacki hatte nicht genug Zeit, um zu reagieren, stolperte und legte sich
der Länge nach hin. Leider hielt er dabei sein Schwert so ungünstig,
dass er es sich dabei selbst in den Bauch rammte. Am Boden liegend sah er noch
einmal zu dem Reisenden hoch und sagte:
„Es ist vollbracht.“
Dann hauchte er seinen Lebensatem aus.
Was für ein oberpeinlicher Schlusssatz!, dachten sich alle Anwesenden.
Die drei Kreaturen schlossen nun ihren Kreis um den einsamen Reisenden, der
heftig zu zittern begann und sich nun doch schon seinem Ende nahe wähnte.
Eine letzte Frage wollte er ihnen jedoch noch stellen:
„Werwerwer seid ihr?“
Sie kreischten laut auf, was anscheinend ihre Art war, zu lachen. Danach antworteten
sie im Chor:
„Wir sind die drei schrecklichen Furien!“
„Ich bin Alexzstrzuszszuszia!“, schrie die eine, und der Reisende
begann noch heftiger zu zittern.
„Mein Name ist Chmlech’krach!clochchmchmrn!“, kreischte die
zweite Furie, und der Reisende begann qualvoll zu wimmern.
Dann stellte sich die dritte vor:
„Und ich heiße…“
Als die Furie ihren Namen genannt hatte, tönten die Schreie des Reisenden
laut und gellend, aber ungehört durch den finsteren Sumpf.
Die
Drachin zu verfolgen, war für Kalessan wahrlich kein Zuckerschlecken, da
diese sich als äußerst flink entpuppte und den größeren
Drachen in relativ kurzer Zeit abgehängt hatte.
Kalessan musste ab und an sogar auf die Hilfe von Menschen am Boden zurückgreifen:
„Ist hier ein roter Drache vorüber geflogen?“
Der Blick des von ihm angesprochenen Bauern machte ihm klar, dass es momentan
nur einen einzigen Drachen in seinem Universum gab. Seine Selbsterhaltungstriebe
brachten ihn jedoch zumindest so weit, den Arm unter wildem Zittern in die entsprechende
Richtung auszustrecken.
Kalessan flog los und brachte ihn nicht um – sogar dazu war er zu wütend.
Nach etlichen Stunden des Folgens von Spuren in der Luft und Hinweisen vom Boden
fand er die Höhle, die den Geruch jener fremden Drachin trug, am Rand einer
kleinen Gebirgskette. Er zwängte sich durch den für ihn viel zu kleinen
Durchgang und kam alsbald in den Hauptraum der Behausung der fremden Drachin.
Diese erwartete ihn bereits entspannt auf dem Boden liegend und zufrieden grinsend.
Über ihr baumelte ein überdimensionierter Vogelkäfig, in dem
Ninnel hockte und Kalessan ebenfalls fröhlich grinsend zuwinkte.
„Hast ja ziemlich lange gebraucht, mein Bester – mit diesem Quälgeist
hätte ich es wohl auch kaum länger ausgehalten…“, gurrte die
rote Drachin, stand auf und stupste den Käfig kurz an, worauf Ninnel wild
hin und hergeschleudert wurde.
„Hör mal zu: Ich bin momentan ziemlich stinkig – was stressige
Situationen betrifft, was andere Drachen betrifft und vor allem was
diesen Jungen dort betrifft. Der Rat hat mich beauftragt, dich wegen deines
Verstoßes gegen unser Gesetz zu töten, aber darauf habe ich jetzt
ehrlich gesagt keine Lust. Aus diesem Verein bin ich draußen. Wenn du
mir den Jungen also jetzt gibst und dich dann nie wieder blicken lässt,
bin ich bereit, dich am Leben zu lassen.“
Die gefährliche Ruhe von Kalessans Tonfall hätte selbst einige der
älteren Mitglieder im Drachenrat verschreckt, doch diese viel kleinere
Drachin lachte nur und legte den Kopf schief.
„Dir liegt wirklich viel an diesem kleinen Bengel, nicht wahr? Ich frage
mich, was an ihm so besonders ist…“
„Das geht dich nichts an! Und jetzt rück ihn raus, das ist meine
letzte Warnung!“, grollte Kalessan und nahm einen noch bedrohlicheren
Tonfall an, wenn das überhaupt möglich war.
„Tut mir leid, aber ich habe ihn nicht entführt, um ihn dir dann
einfach wieder zurückzugeben…“
„Und was willst du dann?“
Die Augen der Drachin verengten sich zu kleinen Schlitzen, und sie zischte:
„Ich will kämpfen!“
Kalessan lachte auf:
„Pah! Wie alt bist du eigentlich?“
„Man fragt eine Lady nicht nach ihrem Alter, aber schön: 500 Jahre…“
„Noch völlig grün hinter den Ohren… Du denkst doch nicht wirklich,
dass du auch nur den Hauch einer Chance hast!? Was könnte wohl der Grund
sein, dass du dein Leben so vorzeitig beenden willst?“
„Das wirst du noch früh genug sehen – na, was ist?“,
fauchte die Drachin und machte herausfordernde Gesten.
Kalessans Miene gefror.
„Du meinst es ernst, hm? … Nun gut, wie willst du es austragen?“
„Luftkampf. Kein Feuer, keine Magie – nur Geschick und Stärke!“
„Entweder du bist verdammt gut für dein Alter, oder du bist vollkommen
wahnsinnig.“, schnaubte Kalessan.
„Vielleicht bin ich ja beides – wollen wir jetzt endlich anfangen?“
Eine aufgeregte Kinderstimme mischte sich ein:
„Oh toll, ihr werdet gegeneinander kämpfen! Darf ich zusehen? Bittebittebitte!“
„Halt die Klappe!“, brüllten Kalessan und die Drachin gleichzeitig,
worauf Ninnel Ruhe gab.
Wenige
Minuten später umkreisten sich die beiden Drachen über den Bergen.
Der Himmel hatte sich im Laufe des Tages zugezogen, und die Wolken hingen dicht,
grau und tief über der Landschaft.
„Ich gebe zu, ich bin ein wenig beeindruckt von deinem Mut… oder von
deiner Dummheit.“, sagte Kalessan.
„Oh, du wirst noch viel beeindruckter sein, glaube mir!“
„Und du willst das wirklich?“, fragte Kalessan die fremde Drachin,
immer noch zweifelnd.
Diese ignorierte ihn.
„Bist du bereit?“, fragte sie.
„Bereit, wenn du es bist.“, antwortete Kalessan, aber noch während
er sprach, hatte sich die Drachin aufgeschwungen und war in den Wolken verschwunden.
Also wird gespielt…, dachte sich der ältere Drache und folgte
ihr in die dichte Wolkendecke.
Kalessan hatte in seinem Leben schon viele Luftkämpfe mit anderen Drachen
ausgetragen und wusste nur zu gut, dass das Antreten gegen einen älteren,
stärkeren und erfahreneren Gegner ein böses Ende haben konnte. Wenn
man die Wettersituation als Vorteil im Kampf richtig ausnutzte, konnte man auch
einen stärkeren Gegner leicht bezwingen. Doch auch Kalessan wusste um den
Vorteil von Wolken und Überraschungsangriffen. Leider hatte es nun schon
seit geraumer Zeit niemand mehr gewagt, ihn herauszufordern, weswegen er ein
wenig aus der Übung war und den ersten Angriff zu spät kommen sah.
Er drehte schnell ab, und die junge Drachin stürzte an ihm vorbei, jedoch
konnte sie ihm ihre Klauen einmal über die Seite ziehen und ließ
ein paar nicht sehr tiefe, aber dennoch spürbare Striemen zurück.
Danach war sie wieder außer Sichtweite.
Oh, diese Drachin hat ja richtig Schneid!, dachte sich Kalessan und
flog aufwärts, um in höheren Luftschichten aus der Wolkendecke auszubrechen.
So langsam regte sich in ihm wieder die alte Kampfeslust, und er begann, seine
alten Taktiken anzuwenden. Über den Wolken kreiste er und behielt die Schatten
unter sich wachsam nach der geringsten Bewegung im Auge, ohne dabei die restliche
Umgebung außer Acht zu lassen.
Da! Unten wirbelten die Wolken leicht auseinander, als ob sich etwas großes
darin bewegen würde. Er legte die Flügel an und begann einen lautlosen
Sturzflug auf das Bewegungsmuster zu, durchbrach die Wolkendecke und konnte
die junge Drachin sehen, wie sie, ihn nicht bemerkend, aufmerksam die Wolken
unter sich absuchte.
Schade, es war sehr kurz mit dir, aber angenehm!, dachte sich Kalessan
und streckte seine Klauen aus, um die kleinere Drachin in der Luft zu zerreißen.
Den Bruchteil einer Sekunde bevor er auf sie auftraf, drehte sie sich auf einmal
blitzartig um ihre Achse und wirbelte zur Seite, sodass Kalessan sie knapp verfehlte.
Dabei gelang es ihr, in die empfindliche, bereits von Narben durchsäte
Flügelmembran des älteren Drachen zu beißen. Dadurch war sie
jedoch kurz in Reichweite von Kalessan, der jetzt seinerseits die Gelegenheit
nutzte, sich geschickt in der Luft drehte und ihr eine Klaue in den Hals rammte.
Die Drachin löste sich von ihm und brüllte auf, jedoch klang es mehr
wie ein lustvolles Stöhnen als ein Schmerzensschrei. Danach verschwand
sie wieder in den Wolken.
Kalessan verfluchte sich selbst, dass er auf diese Falle hereingefallen war.
Er hatte diese junge Drachin anscheinend gewaltig unterschätzt. Aber man
wird nicht so alt, wenn man nicht aus seinen Fehlern lernt…
Er durchbrach erneut die Wolkendecke auf der oberen Seite. In einiger Entfernung
flog seine Gegnerin – auch sie hatte ihn entdeckt und flog direkt auf
ihn zu. Ein paar Hundert Meter bevor sie aufeinander prallten, tauchte sie in
die Wolken ab. Doch diesen Trick kannte Kalessan. Als er hinter sich das Rauschen
hörte, drehte er sich blitzartig um und entblößte seine Fänge.
Die Drachin, die von unten aus den Wolken hervor kam, einen halben Looping flog,
um sich dann von oben überraschend auf ihren Gegner stürzen zu können,
hatte nicht erwartet, direkt in die Klauen ihres Feindes zu fallen. Die beiden
Kämpfer verkeilten sich kurz ineinander und versuchten, während des
freien Falls dem Gegner die Flügel so zu beschädigen, dass dieser
nicht mehr fliegen und am Boden zerschellen würde. Beide zogen sich schwere
Wunden zu, bevor sie sich voneinander trennten und wieder in den Wolken verschwanden.
Kalessan hatte mehrere tiefe Kratzer an seiner Unterseite und einige Bisswunden
am Hals davongetragen, seiner Gegnerin aber dafür ein paar Risse in der
linken Flügelmembran und eine tiefe Verletzung am Hinterbein beigebracht.
Doch für ihr Alter war dieses junge Ding erstaunlich erfahren im Kampf.
Kalessan hatte schon wesentlich älteren Drachen gegenüber gestanden,
die sich ungeschickter angestellt hatten und nicht so lange durchhielten wie
diese Drachin. Wirklich schade, dass er sie würde umbringen müssen…
Der Kampf tobte noch über eine Stunde lang, und Kalessan musste feststellen,
dass er zwar wesentlich stärker als sein junges Gegenüber war, jedoch
bei weitem nicht mehr so agil und schnell. Sein hohes Alter mochte ihm zwar
mehr Erfahrung und ausgeklügeltere Kampftaktiken beigebracht haben, doch
diese waren im Laufe der Jahre so weit eingestaubt, dass er in der jungen Drachin
einen nahezu ebenbürtigen Gegner hatte.
Die Schlacht hätte noch viel länger dauern können, doch Kalessan
deutete der Drachin bei einer günstigen Gelegenheit eine kurze Auszeit
an. Kurze Zeit später umkreisten sich die beiden wieder unter der Wolkendecke.
„Was ist, machst du etwa schon schlapp?“, bellte seine junge Gegnerin
mit einem teuflischen Grinsen im Gesicht, obwohl sie aus mehreren Wunden heftig
blutete.
„Ich gebe zu, ich bin wahrlich beeindruckt von deinen Fähigkeiten.
So einen guten Kampf hatte ich schon lange nicht mehr. Bevor wir weitermachen
möchte ich zumindest noch deinen Namen erfahren!“
„Lady Syrop, zu euren Diensten!“, sprach die Drachin und verneigte
sich spöttisch in der Luft vor ihrem Gegner.
„Syrop? DU hast all diese Drachentöter zu mir geschickt?“
Die junge Drachin lachte lauthals über die Kalessan offen ins Gesicht geschriebene
Verblüffung:
„Ja, das war ich. Da du noch am Leben bist, scheinen sie ihre Aufgabe
nicht sehr gut erfüllt zu haben…“
„Aber wozu? Ich habe dich vorher noch nie gesehen. Was habe ich dir getan?“
„Nun, gar nichts!“
„Und was willst du dann?“, fragte der ältere Drache, dessen
Verwunderung immer größer wurde.
„Was ich will? Aufmerksamkeit! Und die bekäme ich wohl kaum, wenn
ich junges Ding mal eben bei dir angeklopft hätte, nicht wahr?“
„Aufmerksamkeit? Das ist alles? Warum das?“
„Wenn du das bis jetzt noch nicht herausgefunden hast, dann können
wir diese Angelegenheit genauso gut beilegen, mein Liebster…“, antwortete
Syrop spöttisch.
Doch Kalessan hatte schon begriffen. Er war überrascht über die Vorgehensweise
der jungen Drachin, und er war noch viel mehr überrascht über den
Erfolg, den sie damit hatte. Doch es passte alles zusammen. Kalessan konnte
nicht umhin, sich selbst den Erfolg ihres Anliegens einzugestehen – nun
galt es, entsprechend zu reagieren.
„Dir ist klar, was du da willst?“, sagte er.
„Ja!“
„Dir ist außerdem klar, dass ich das schon seit einer Ewigkeit nicht
mehr getan habe?“
„Allerdings!“
„Dann lass es uns beenden!“
Syrop nickte zufrieden. Sie beide begannen, sich immer weiter in die Höhe
zu schrauben und dabei stetig einander zu umkreisen. Höher und höher
flogen sie, durch die Wolken hindurch und noch viel weiter, bis in obere Schichten,
wo die Luft schon sehr dünn war, sich dabei immer umkreisend, wie in einem
grotesken Tanz der Sonne entgegen.
Dort oben trennten sie sich dann voneinander und flogen auseinander, um sich
dann in angemessenem Abstand voneinander gegenüber zu positionieren und
ein paar Sekunden mit heftigen Flügelschlägen in der dünnen Luft
zu verharren.
„Bist du bereit dafür?“, fragte Kalessan die jüngere Drachin,
die vor Erschöpfung zitternd sich mühsam ihm gegenüber in der
Luft hielt, aber immer noch die Kraft hatte, keck zu antworten:
„Bist du es denn?“
Kalessan brüllte auf und warf sich vorwärts. Mit kräftigen Flügelschlägen
steuerte er auf sein Gegenüber zu. Syrop tat es ihm gleich, schrie auf
und brauste ebenfalls auf den viel größeren roten Drachen hin.
Die beiden näherten sich einander immer schneller und schneller. Keiner
drosselte seine Geschwindigkeit oder drehte gar ab, als sie auf Konfrontationskurs
gingen. Lediglich im letzten Moment glaubte Kalessan, eine Spur von Zweifel
in den Augen Syrops zu sehen, doch da war es bereits zu spät.
Die beiden Kolosse prallten in der Luft wuchtig aufeinander und beschrieben
eine bizarre Pirouette, als sie sich festhielten und umeinander drehten. Blitzartig
umwickelte der viel größere Kalessan Syrops Hals und Schwanz mit
den seinen, krallte sich an ihr fest, hielt ihre Flügel mit seinen Klauen
an den Seiten, sodass sie völlig umklammert war und legte seine eigenen
Schwingen an. In einer tödlichen Umarmung stürzten die beiden Drachen
sich immer noch drehend kopfüber den Wolken entgegen. Die gefangene Syrop
kreischte, riss Kalessans Unterleib mit ihren Klauen auf und biss sich in seinem
Hals fest, doch dieser hielt sie in seiner erbarmungslosen Umklammerung fest
und schien den Schmerz gar nicht zu spüren.
Immer und immer schneller werdend rauschten sie der Wolkendecke und damit dem
tödlichen Boden entgegen, unzertrennlich verbunden.
Und dann machte Kalessan etwas sehr unartiges…
Syrop brüllte auf.
In der Ekstase ihrer Vereinigung und ihres freien Falls stürzten die beiden
Drachen durch die Wolkendecke, immer weiter an Geschwindigkeit gewinnend.
Letztendlich durchbrachen sie auch die Wolken, und der Boden kam wie eine gigantische,
tödliche Fliegenklatsche rasend schnell auf sie zu.
Man könnte meinen, dass die beiden ewig in dieser Verbindung bis zu ihrem
Tod zu Boden hätten stürzen können, doch wenige Hundert Meter
über dem Wald, in den sie hineinzustürzen drohten, trennte sich Kalessan
von Syrop und breitete seine Schwingen weit aus, um den Sturzflug anzufangen.
Selbst unter Einsatz seiner Magie riss die ungeheure Wucht des plötzlichen
Luftwiderstandes ihm beinahe seine Flügel aus, und fast erschien es, dass
er doch noch als ein sehr großer, roter Fleck am Boden enden würde.
Doch kurz vor dem Aufprall bekam er noch seinen nötigen Aufwind und schwebte
in einer weiten Kurve wieder nach oben, wobei er einige Baumkronen mit seinen
Hinterklauen streifte. Danach vollzog er eine elegante Wendung in der Luft und
flog in Richtung Syrop.
Diese konnte den Sturzflug nicht so gut abfangen. Auch sie breitete ihre Schwingen
aus, ging in einen steilen Sinkflug und hoffte, kurz vor dem Aufprall abdrehen
zu können, doch der wenige Spielraum, den sie hatte, reichte nicht aus.
Die Drachin rauschte in die Baumkronen hinein, entwurzelte viele Bäume
und pflügte eine große Schneise in den Wald, als sie auf dem Boden
auftraf und mehrere Dutzend Meter weit rutschte, bevor sie zum Stillstand kam.
Kalessan zerdrückte noch viel mehr Bäume, als er neben der übel
zugerichteten Drachin landete, die sich beim Aufprall wahrscheinlich sämtliche
Knochen im Leib gebrochen hatte, aber immer noch am Leben war.
Die Bewunderung des älteren Drachen für sie kannte keine Grenzen,
als Syrop noch die Kraft fand, zu ihm aufzusehen und mit einem matten Lächeln
hervorzubringen:
„Das müssen wir unbedingt noch einmal machen!“
Wenige
Tage später…
Die Tournee war erfolgreich gewesen. Sämtliche von Karlmax Lesungen waren
ausverkauft, das Publikum jedes Mal sehr aufmerksam, gebannt von seinen Ausführungen
und der Applaus zum Ende jedes Auftritts immer wieder ohrenbetäubend. Karlmax
hatte zwar bei keiner der von ihm besuchten Städte das Gefühl, dass
die dortigen Menschen wirklich den Mut oder die Lust hatten, die von ihm vorgestellten
Thesen auch tatsächlich umzusetzen, aber das war er mittlerweile gewohnt.
Immerhin ließ sich damit ganz gut Geld verdienen.
Rita war ihm während seiner Tour wie immer eine großartige Unterstützung
gewesen, hatte Karlmax‘ ideologische Gegner immer wieder höflich
zurecht gewiesen (wobei „Mit verknoteten Armen und Beinen in einer dunklen
Gasse landen“ noch als höflich gewertet werden durfte) und ihm das
stressige Leben einer solchen Reise wesentlich einfacher gemacht.
Karlmax bereute es, die gute Beziehung, die sie in den letzten Wochen geführt
hatten, wieder ein wenig trüben zu müssen, als sie sich erneut der
Höhle von Kalessan näherten.
„Du Rita, ich fürchte, da gibt es etwas, was ich dir über diesen
Kalessan, der Ninnel betreut hat, erzählen muss…“, sprach er das
leidige Thema an.
„Er wird unseren Jungen doch auch gut behandelt haben!?“
„Ja, das hoffe ich… Nun, ich hätte es dir wahrscheinlich schon
früher sagen sollen, aber Kalessan ist nicht wirklich ein Mensch, sondern…
na ja, ein Drache. Bitte verzeih mir, dass ich dir das nicht schon früher
anvertraut habe, aber du hättest ihm unseren Jungen wohl kaum anvertraut,
wenn du das gewusst hättest…“
Schuldbewusst schaute Karlmax auf den Boden, während er auf Ritas Reaktion
wartete, darauf hoffend, nicht selbst mit verknoteten Armen und Beinen im Wald
zu landen.
„Ein Drache? Aber, das ist ja… perfekt!“, rief Rita aus, „Warum
hast du mir das nie erzählt? Einen besseren Beschützer für unser
Ninnilein als einen Drachen kann ich mir doch gar nicht vorstellen. Und wenn
er dann noch mit dir befreundet ist, wo liegt das Problem?“
„Nun, darin liegt das Problem! Ich war mir gar nicht mal sicher,
ob er Freunds genug war, diese Aufgabe überhaupt anzunehmen und durchzuführen…“,
antwortete Karlmax, der sich von Ritas überraschender Reaktion schnell
erholt hatte, „Ehrlich gesagt hoffe ich selbst, dass er unseren Jungen
gut behandelt hat.“
„Na und wenn nicht, dann bekommt er es eben mit mir zu tun, nicht wahr,
Schatz?“
Karlmax lächelte matt:
„Ja, Liebling…“
Zusammen betraten sie die Höhle.
Kalessan erwartete sie bereits, in der Mitte seiner Hauptwohnhöhle liegend.
Zu Karlmax‘ Erleichterung hatte er den Raum einer gründlichen Reinigung
unterzogen, denn sämtliche der stinkenden, gelben Pfützen waren mittlerweile
verschwunden. Der Raum sah recht ordentlich aus und roch auch so.
„Willkommen zurück!“, begrüßte sie der Drache mit
gemäßigter Stimme.
Rita machte große Augen.
„Ihr seid doch dieser Drache, der vor neun Jahren Rudis Stall zerstört
hat, oder irre ich mich?“
„Nein, keineswegs. Zu dieser Gelegenheit lernte ich auch… euren werten
Mann dort kennen.“
Kalessan lächelte Karlmax auf eine Weise an, die ihm überhaupt nicht
gefiel…
„Warum hast du mir eigentlich nie davon erzählt, dass du mit ihm
befreundet bist?“
Bei diesem Satz leuchteten Kalessans Augen gefährlich auf.
Karlmax wendete sich nur mühsam vom Anblick des Drachen ab und an seine
Frau:
„Hättest du mir geglaubt?“
„Ähm… nein, du hast Recht, Schatz.“, antwortete Rita lächelnd
und wendete sich ihrerseits wieder an den Drachen:
„Na gut, wo ist unser kleiner Junge denn?“
Kalessan begann auf eine Weise zu grinsen, die Karlmax kalte Schauer über
den Rücken laufen ließ. Dann deutete er nach oben.
Ninnel winkte ihnen aus einem an der Decke baumelnden, großen Vogelkäfig
fröhlich grinsend zu.
Ritas Lächeln gefror auf ihrem Gesicht.
„Warum hängt mein Sohn in einem Käfig von der Decke?“,
fragte sie tonlos.
„Oh, versteht mich nicht falsch, es ist nur zu seinem eigenen Schutz.
Ich mag vielleicht versprochen haben, dass ich eurem Sohn nichts antue, für
die liebe Syrop hier gilt das jedoch leider nicht…“, sagte Kalessan,
worauf sich hinter ihm etwas regte und der kleinere, aber immer noch imposante
Kopf der Drachin hinter seinem Rücken erschien.
„Holen sie diesen kleinen Quälgeist endlich ab?“, fragte sie,
während Kalessan den Käfig von seiner Kette löste, ihn auf den
Boden stellte und die Klappe öffnete.
Ninnel rannte sofort freudig kreischend auf seine Mutter zu und umarmte sie
stürmisch.
Karlmax sah sich immer noch sehr beansprucht darin, die gesamte Szenerie zu
begreifen.
Kalessan nahm ihm diese Bürde ab:
„Ich bin mir nicht sicher, ob ich dir danken oder dich verfluchen soll.
Einerseits hat dieser Winzling dort mir einige der stressigsten und peinlichsten
Wochen meines Lebens beschert, auf der anderen Seite hätte ich ohne ihn
diese nette, junge Dame hier“, er deutete kurz auf Syrop, „wahrscheinlich
nicht näher kennen gelernt. Ihm selbst geht es anscheinend recht gut, und
es ist ihm in meiner Gegenwart nichts schlimmes von… permanenter Dauer geschehen.
Nicht wahr, Ninnel?“
„Onkel Kalessan hat mich von einer Klippe geschubst, aber Tante Syrop
da drüben hat mich gerettet!“, rief der Junge fröhlich aus.
Rita und Karlmax starrten die beiden Drachen sprachlos an.
Kalessan grinste erneut.
„Ja, er hatte hier schon viel Spaß die letzten paar Wochen. Ich
bin mir sicher, dass er euch das noch alles erzählen wird. Euch beiden
schlage ich jetzt vor, dass ihr meine Höhle und meinen Wald sofort verlasst
und euch hier nicht mehr blicken lasst. Nächstes Mal bin ich für den
Jungen nämlich nicht mehr Beschützer, sondern Raubtier – alles
klar?“
Karlmax nickte – er hatte verstanden.
„Lass uns gehen, Rita!“, sagte er und entfernte sich langsam von
den beiden Drachen, während er seine Frau und seinen Sohn mit sich zog.
Ninnel winkte „Onkel Kalessan“ noch ein letztes Mal zu, dann verschwanden
die drei aus der Höhle.
Auf dem Heimweg erzählte Ninnel seinen geschockten Eltern alles über
weggezauberte Ritter, gefressene Jungfrauen, Kalessans Wäschen und viele,
bunte Drachen.
In der Höhle sahen sich die beiden Drachen an und atmeten erleichtert auf.
„Bin ich froh, dass dieser kleine Mistkerl endlich weg ist!“, sagte
Syrop, und lehnte sich an Kalessan an.
Der alte Drache seufzte:
„Glaube mir, du bist nicht halb so froh wie ich… nicht halb so froh…“
„War das denn wirklich nötig? Hättest du die drei nicht einfach
umbringen und die Sache vergessen können?“
Kalessan schüttelte den Kopf.
„Nein, dann hätte ich bei dieser Aufgabe doch noch im letzten Moment
versagt. Manchmal muss man halt etwas tun, was einem überhaupt nicht gefällt…
und wie gesagt, ohne diesen Quälgeist hätte ich dich wohl nicht kennen
gelernt, insofern hatte diese Sache ja doch etwas gutes.“
„Och, ich hätte mir schon etwas einfallen lassen, um deine Aufmerksamkeit
zu gewinnen, mein Lieber.“, schnurrte die junge Drachin.
„Was hättest du eigentlich getan, wenn einer dieser Drachentöter
es geschafft hätte, mich umzubringen?“
„Dann wärst du wohl kaum der würdige Partner für mich gewesen,
den ich mir gewünscht hatte.“
„Hm… Meinst du wirklich, dass Sex die Grundlage für eine gute Beziehung
sein kann?“, fragte Kalessan seine neue Partnerin.
„Wir sind Drachen, natürlich geht das… wie war es denn
bei deiner letzten Gefährtin?“
„Ich… weiß es nicht mehr… es ist schon so lange her… zu lange!“
„Und genau deswegen bin ich jetzt da.“, gurrte Syrop.
Kalessan lächelte.
„Aber mal was anderes: Wie sieht es eigentlich jetzt mit dir und dem Rat
aus?“, fragte sie.
„Erzähl mir nicht, dass du nur aus politischen Gründen eine
Beziehung mit mir eingegangen bist!“
„Vielleicht?“
Syrop grinste geheimnisvoll.
„Nun, ich habe gesagt, dass, wenn ich dich umbringe, dies mein letzter
Dienst für den Rat gewesen sein wird. Da ich dich nicht umgebracht habe
und dies in nächster Zeit auch nicht tun werde, heißt das wohl, dass
ich auch noch nicht ausgestiegen bin… Ich bin jedenfalls sehr gespannt, was
die sagen, wenn wir beide beim nächsten Treffen dort zusammen aufkreuzen.“,
sagte Kalessan.
„Und du meinst nicht, dass die etwas dagegen haben werden?“
„Natürlich! Sie werden sich mit allen Mitteln dagegen sträuben
– aber wer wird sich schon mit uns beiden anlegen wollen?“
Die beiden Drachen lachten lauthals auf, und irgendwo im Wald wunderte sich
ein einsamer Einsiedler, weil er diesen Laut noch nie aus der Höhle seines
Herren gehört hatte.
„Dabei fällt mir ein… ich habe ganz vergessen, Morki auf diesen
Dimensionsreisenden anzusprechen, den ich zu ihm geschickt habe. Was wohl aus
dem geworden ist?“
Dem
Fremden war es tatsächlich gelungen, sich aus den Klauen der schrecklichen
Furien zu befreien. Als er den Namen der letzten Furie vernommen hatte, musste
er vor Lachen laut aufschreien, denn einer der Freunde seiner Heimatwelt hatte
den gleichen, dämlichen Namen, was er persönlich recht lächerlich
fand. Dies war den Furien so peinlich gewesen, dass diese sich beschämt
ins Unterholz verkrochen.
So konnte der Reisende weiter ziehen, immer tiefer in die finsteren Sümpfe
des Schwarzen Todes hinein.
Hier, im Herzen des Sumpfes, war es noch dunkler als in seinen Ausläufern,
und der Fremde musste trotz seiner bereits an die Dunkelheit gewöhnten
Sicht sehr aufpassen, wohin er trat.
Es dauerte nicht mehr lange, bis er an seinem Zielort ankam. Die Bäume
lichteten sich zu einer großen Lichtung, die einen einigermaßen
festen Boden zu haben schien.
In ihrer Mitte lag der schwarze Drache. Er war kleiner als der große rote,
den der Fremde vorher getroffen hatte, aber immer noch unheimlich imposant.
Sein Blick war weniger aggressiv als der des roten Drachen, hatte aber eine
ebenso beunruhigende Intensität, die zusammen mit seinem düsteren
Aussehen und der finsteren Umgebung sehr beängstigend wirkte.
Als er sprach, dröhnte seine tiefe Stimme über die Lichtung hinweg:
„Da kommt man gerade nach Hause und bekommt schon Besuch. Was willst du,
Winzling?“
„Bist du Morkulebus, der Herr dieses Sumpfes?“
„Der bin ich – es gibt nicht gerade viele Drachen in diesem Sumpf,
Winzling!“
„Cool! Der große, rote Drache hat mir diese Botschaft gegeben, die
ich dir übergeben soll. Ich muss diese Welt retten, musst du wissen…“
Der schwarze Drache schien interessiert:
„Kalessan hat dir diese Nachricht mitgegeben? Zeig her!“
Der Reisende händigte dem Drachen die Botschaft aus und war dann sehr darauf
bedacht, wieder einen möglichst respektvollen Abstand zu ihm zu bekommen.
Morkulebus brach das Siegel der Botschaft und entrollte sie, so gut es mit seinen
großen Klauen eben ging. Dann überflog er den Inhalt der Schriftrolle
kurz und schnaubte.
„Was steht drin?“, fragte der Reisende gespannt.
Morkulebus funkelte ihn ausdruckslos an, grinste dann und winkte ihn zu sich,
um ihm die Botschaft zu geben.
Der Fremde war bis zum Äußersten gespannt. Endlich würde er
erfahren, was der große, rote Drache seinem schwarzen Kollegen mitgeteilt
hatte. Endlich würde er seine Bestimmung in dieser Welt mitgeteilt bekommen.
Er nahm die Schriftrolle von dem schwarzen Drachen entgegen und las sie sich
durch.
Die Mitteilung war recht kurz.
Sie lautete:
Von
Kalessan an Morki:
Guten Appetit!
Manchmal
sollte man nicht wirklich jeden Scheiß annehmen, der einem aufgetragen
wird…
Written by Der Doktor http://www.die-subkultur.net